Seit nunmehr zwei Monaten verfolgen wir jenseits des Atlantiks den politischen Prozeß, der sich Vorwahlen nennt. Stand vor vier Jahren das Duell zwischen dem jetzigen Präsidenten, Barack Hussein Obama, und seiner innerparteilichen Konkurrentin, Hillary Rodham Clinton, um die Kandidatur für die Demokratische Partei im Vordergrund des Interesses, so gilt das Hauptaugenmerk 2012 dem zähen Ringen in der Republikanischen Partei. Das System der Vorwahlen erscheint uns Europäern, gerade auch uns Deutschen, fremd. Es ist unübersichtlich, kompliziert und produziert immer wieder Überraschungen, manchmal gar Sensationen. Das ist so gar nicht nach dem Geschmack der Deutschen, die es lieber wohlorganisiert und berechenbar mögen. Das System spiegelt jedoch die Mentalität der Amerikaner hervorragend wider. Ein „sportlicher“ Wettbewerb, gesunde Konkurrenz und freie Wahlmöglichkeiten sind Herzstücke der US-Kultur.
Dieser Beitrag gliedert sich in zwei Teile. Zunächst einmal soll das System der Vorwahlen als solches genauer beleuchtet werden, um es verständlicher zu machen. Im zweiten Teil wird versucht darzustellen, wie das System der Vorwahlen dafür sorgt, daß ein wesentlich breiteres Spektrum der politischen Meinung im öffentlichen Diskurs vertreten ist.
Direkte Demokratie
Alle vier Jahre, am Dienstag nach dem ersten Montag im November, wählen die Bürger der USA ihren Präsidenten. Zugleich wählen sie an diesem Tag (allerdings im zweijährigen Rhythmus) alle 435 Abgeordneten des Repräsentantenhauses sowie ein Drittel der Mitglieder des Senats, die jeweils für eine sechsjährige Wahlperiode bestimmt werden. Am gleichen Tag werden auch noch viele Gouverneure der Bundesstaaten (in etwa vergleichbar den deutschen Ministerpräsidenten), Landesparlamente, die bis auf eine Ausnahme auch aus zwei Kammern bestehen, Bürgermeister, Landräte, Sheriffs (man könnte sagen Polizeipräsidenten), Richter und vieles mehr gewählt. Nicht zu vergessen, es stehen auch unzählige Volksentscheide und Bürgerbegehren zur Entscheidung. Das alles soll an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Anzumerken ist jedoch, daß nahezu allen öffentlichen Wahlen ebenfalls Vorwahlen vorausgehen.
An dieser Stelle soll dargestellt werden, wie die Präsidentschaftswahlen und die vorausgehenden Vorwahlen organisiert sind. Auf der Ebene der Bundesstaaten und auch auf lokaler Ebene verlaufen die Entscheidungen ähnlich. Hierbei heißt „ähnlich“ tatsächlich ähnlich. Die Regelungen sind von Bundesstaat zu Bundesstaat und von County (Landkreis) zu County unterschiedlich. Letztlich kann jede Gemeinde, jedes noch so kleine Kaff nach anderen Prinzipien wählen lassen als die Nachbarkommune. Das macht den ganzen Prozess natürlich unübersichtlich, aber jeder Gebietskörperschaft ist ihre Unabhängigkeit, mithin ihre individuelle Freiheit heilig.
Vereinigte STAATEN von Amerika
Um das System der amerikanischen Präsidentschaftswahlen halbwegs zu verstehen, muß man zunächst auch wissen, daß der US-Präsident mitnichten vom Volk gewählt wird. Das erscheint auf den ersten Blick natürlich überraschend. Es erklärt sich aus der Verfassung der USA. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eben ein wirklicher Bundesstaat, also ein Bund von Staaten. Diese Staaten sind wesentlich unabhängiger als deutsche Bundesländer. Es ist wohl etwas zu weit gegriffen, die verfassungsmäßige Struktur der USA mit der der EU auf eine Stufe zu stellen, ganz so weit geht die Unabhängigkeit der amerikanischen Gliedstaaten dann doch nicht, aber sie sind auf jeden Fall mit mehr Souveränität ausgestattet als deutsche Bundesländer wie z. B. Bayern, NRW oder Thüringen.
Der US-Präsident wird somit nicht von den Bürgern direkt gewählt, sondern über ein Wahlmännergremium (electoral college) bestimmt, in das die Bundesstaaten je nach Größe Delegierte entsenden. Was dabei ganz wichtig ist: Jeder Staat bestimmt für sich, welchen Präsidenten er favorisiert und damit die Stimmen im Wahlmännergremium gibt. Nach dem Prinzip „The winner takes it all“ gehen sämtliche Stimmen in fast allen Bundesstaates an einen der Kandidaten, selbst wenn innerhalb der jeweiligen Bundesstaates nur ein hauchdünne Mehrheit für ihn oder sie zustande gekommen ist. Auf diese Weise kann es durchaus schon einmal vorkommen, daß ein Präsident gewählt wird, der zwar die Mehrheit der Stimmen der Wahlmänner auf sich vereint, ohne aber dabei in der Gesamtbevölkerung der USA gewonnen zu haben.
Vorwahlen nach unterschiedlichstem Muster
Vor diesem Hintergrund wird auch eher verständlich, daß die verschiedenen Staaten völlig unterschiedliche Verfahren etabliert haben, um die Vorwahlen zu organisieren. Man kann wohl sagen, daß keine zwei Staaten völlig identische Verfahrensweisen haben, und sogar innerhalb der einzelnen Staaten gibt es hin und wieder Abweichungen.
Hier kann nicht auf alle Unterschiede eingegangen werden. Das würde selbst einen amerikanischen Wahlforscher überfordern, da die Regelungen auch noch laufend geändert werden und ständig im Fluß sind. Es bleibt hier nur, einige grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten.
Der Reigen der Präsidentschaftsvorwahlen beginnt regelmäßig mit einem Caucus in Iowa. Iowa ist ein bevölkerungsarmer Staat im Mittleren Westen, der im electoral college gerade einmal 6 Stimmen abzugeben hat, also gerade ein wenig mehr als 1%. Die Bedeutung des Caucus ist jedoch kaum zu überschätzen. Wer hier verliert, kann manchmal schon alle seine Ambitionen begraben.
Ein Caucus ist eine altertümlich wirkende Veranstaltung. Ein Caucus ist keine Wahl im eigentlichen Sinne, sondern eine Art landesweite Bürgerversammlung. In Städten, Gemeinden, Dörfern und Weilern treffen sich die interessierten Bürger (zum Teil getrennt nach Parteien) in Schulen, Feuerwehrhäusern, Rathäusern usw. um für ihre jeweiligen Kandidaten zu werben. Am Ende wird abgestimmt. Das Ergebnis der Abstimmung der Republikaner z. B. in Eddyville oder der Demokraten z. B. in Guttenberg (den Ort gibt es dort tatsächlich) wird dann weitergemeldet und am Ende steht fest, wer im Staat denn die meisten Unterstützer bekommen hat. Diese werden umgerechnet in Delegiertenzahlen auf dem Nominierungsparteitag. Diese Conventions finden übrigens in diesem Jahr in Charlotte (North Carolina/Demokraten) bzw. in Tampa (Florida/Republikaner) statt.
Kurz nach dem Caucus in Iowa finden die ersten eigentlichen Vorwahlen statt. Traditionell finden diese ersten Abstimmungen in New Hampshire statt, einem ebenfalls sehr kleinen Staat an der Ostküste mit gerade einmal vier Stimmen im electoral college. Vorwahlen folgen einem anderen System als die caususes.
Vom Grundsatz her befinden die jeweiligen Mitglieder der Parteien über ihre Kandidaten. Hierzu muß man aber wissen, daß man in den USA nicht Parteimitglied im deutschen Sinne wird. Man unterschreibt keinen Mitgliedschaftsantrag, man zahlt keinen Beitrag, man läßt sich bei seiner „Registrierung“ als Wähler mit einer Parteienpräferenz eintragen, sofern man eine solche hat. Solche Registrierungen sind in den USA notwendig vor jeder Wahl, da es in den Staaten kein Einwohnermeldesystem gibt.
Bei den Vorwahlen sind dann die „Mitglieder“ der jeweiligen Parteien dazu aufgerufen, für einen Kandidaten zu stimmen. New Hampshire bildet jedoch in zweifacher Hinsicht eine Besonderheit. Zum einen können hier auch „Nichtmitglieder“ bei den Vorwahlen mit abstimmen, zum anderen werden die Nominierungsdelegierten für den Parteitag nicht nach dem o. g. System „The winner takes all“ verteilt, sondern ausnahmsweise im Verhältnis der abgegebenen Stimmen.
Deutsche Kanzlerkandidaten im Hinterzimmer ausgekungelt
Diese Feinheiten tun in diesem Zusammenhang an sich wenig zur Sache, sie werden hier nur dargestellt, damit der geneigte Leser sich ein Bild von der ungeheuer komplizierten Prozedur der Vorwahlen machen kann.
Bei aller Unterschiedlichkeit ist dem System der Vorwahlen jedoch durchgehend eine für uns Deutsche unvorstellbar direkte Demokratie eigen. Wahlrecht ist natürlich immer ungemein politisch. Die Frage, nach welchem System gewählt wird, ist in seiner Auswirkung auf die politischen Inhalte und vor allem die politische Kultur nicht zu überschätzen.
Fragen wir uns doch einmal in diesem Kontext, wie denn ein deutscher Kanzlerkandidat bestimmt wird. Hierzu ein paar Beispiele: Konrad Adenauer wurde von den Granden der Union bei einer sonntäglichen Zusammenkunft in Rhöndorf (!) ausgekungelt, Edmund Stoiber wurde nach einem Frühstück mit Angela Merkel als Kandidat ausgerufen, Gerhard Schröder „einigte“ sich mit seinem Spezi Oskar Lafontaine, nachdem er in Niedersachsen eine Landtagswahl gewonnen hatte. Vielleicht war die Nominierung von Franz-Josef Strauß durch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion anno 1979 noch die am ehesten demokratischen Ansprüchen genügende Kandidatenkür. Jedenfalls genügt das Verfahren zur Kür der Kandidaten für das wichtigste politische Amt, das in Deutschland zu vergeben, ebenso wenig demokratischen Mindestansprüchen wie die Auswahl der Kandidaten für Wahlpositionen in Bundesländern, Landkreisen oder Kommunen.
Offene Kandidaten-Kür in den USA
In den USA ist das Volk direkt an der Auswahl der Präsidentschaftskandidaten beteiligt. Letztlich kann sich jeder Bürger um die Nominierung bewerben. Während im Lager der Demokraten der amtierende Präsident sozusagen unumstritten ist, hat sich bei den Republikanern eine kleine Heerschar an Kandidaten gefunden. Zu Beginn der Caucuses in Iowa fühlten sich sieben halbwegs bekannte Politiker (neben zig anderen Exoten) zu Höherem berufen. Interessant dabei ist, daß diese Kandidaten ganz unterschiedliche politische Vorstellungen repräsentieren. Der Wähler hatte eine wirkliche Auswahl nicht nur zwischen unterschiedlichen politischen Charakteren und Temperamenten sondern vor allem auch eine Wahl zwischen verschiedenen politischen Programmen.
John Huntsman, zuvor US-Botschafter in Peking und früherer Gouverneur des Staates Utah, steht für einen moderaten Kurs der republikanischen Partei, für Verantwortung der USA in der Welt, für einen gemäßigten Wirtschaftsliberalismus. Er mußte zwischenzeitlich seine Ambitionen begraben. Genauso ging es Rick Perry, dem agilen amtierenden Gouverneur des eigensinnigen Staates Texas. Er vertritt gesellschaftspolitisch eine sehr konservative Lehre, lehnt aber außenpolitisch einen isolationistischen Kurs ab. Politisch könnte man Perry als Erbe George W. Bushs sehen, sosehr er sich auch bemüht, in Stil und Habitus vom immer noch recht unpopulären jüngeren Bush unterschieden zu werden. Schon in der Anfangsphase des Nominierungsprozesses mußte auch Michelle Bachmann, eine attraktive Abgeordnete aus Minnesota, das Handtuch werfen. Frau Bachmann gilt als Frontfrau der Tea Party Bewegung, eine Art Ansammlung konservativer Wutbürger, die den Einfluß des Staates auf die Gesellschaft massiv zurückdrängen wollen.
Nachdem zwischenzeitlich etliche Vorwahlen stattgefunden haben, sind immer noch vier Kandidaten im Rennen. Dieser Beitrag wird Mitte März geschrieben, nachdem die Vorwahlen am sogenannten Super Tuesday noch keine Vorentscheidung brachten. Bislang hat Mitt Romney, ehemaliger Gouverneur aus Massachusetts, die meisten Delegiertenstimmen für den republikanischen Nominierungsparteitag hinter sich geschart. Romney ist der Kandidat des Parteiestablishments. Er steht in der Tradition der gemäßigt konservativen Ostküstenrepublikaner, ist marktwirtschaftlich orientiert, bejaht den internationalen Freihandel und hat gemäßigt konservative gesellschaftspolitische Positionen, was ihn für Hardliner in der eigenen Partei verdächtig erscheinen läßt. Sein härtester Widersacher ist bislang überraschenderweise Rick Santorum, ein sehr konservativer früherer Senator aus Pennsylvania. Seine gesellschaftspolitischen Positionen sind in der deutschen Politik überhaupt nicht mehr nachzuweisen. Er tritt ein gegen Homosexuellen-Ehen, für Familienwerte, gegen Abtreibung. Er ist überzeugter Christ und verbirgt das nicht, möchte christliche Werte auch wieder stärker im öffentlichen Leben verankern. Wirtschaftspolitisch ist er eher isolationistisch orientiert und predigt eine Re-Industrialisierung Amerikas mit unübersehbar dirigistischen Elementen.
Den außenpolitischen Hardliner gibt Newt Gingrich, der wegen großzügiger finanzieller Unterstützer eines Milliardärs aus Las Vegas nach wie vor im Rennen ist, wenn auch nur noch mit Außenseiterchancen. Die von ihm vorgetragene konservative Gesinnung nimmt ihm wegen des eigenen Lebenswandels (verheiratet in 3. Ehe) nicht jeder hundertprozentig ab. Als letzter „Exot“ hat sich der texanische Kongreßabgeordnete Ron Paul im Rennen behauptet, der eine relativ kleine, dafür aber umso überzeugtere Fangemeinde hinter sich weiß. Er ist „libertär“, d. h. er will staatliche Regelungen und Bevormundungen auf das absolute Mindestmaß reduzieren, tritt auch außenpolitisch dafür ein, sich nicht in die Händel der Welt einzulassen. Er will Steuern dramatisch senken und die Behörden in Washington drastisch verkleinern.
An dieser Stelle soll einmal träumen erlaubt sein. Gibt es in Reihen der CDU/CSU keine Menschen, die folgenden Aussagen zustimmen:
„Was ist in Amerika nur passiert, daß Mütter und Väter, die ihre Kinder in der Obhut eines Anderen lassen …. sich selbst mehr von der Gesellschaft bestätigt fühlen. Hier können wir uns beim Einfluß des radikalen Feminismus bedanken.“ (Rick Santorum)
“Du sollst nicht stehlen. Die Regierung haßt Konkurrenz.” (Ron Paul).
„Daß eine Heirat die Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau ist, ist für uns eine Wahrheit, und jeder Versuch, gleichgeschlechtliche Ehen zu erlauben, ist ein Nachteil für die Familie und verletzt unseren Staat und die Nation.“ (Rick Perry).
Es geht hier gar nicht darum, diesen Aussagen zuzustimmen. Deutlich wird jedoch, daß hierzulande nicht mehr „gesellschaftsfähige“ Aussagen in den USA hingegen durchaus noch Gehör finden. Es ist ja nicht so, als wenn nicht auch in Deutschland solche Ansichten zu finden wären und auch ihre Daseinsberechtigung haben. Das deutsche Volksparteiensystem verbunden mit dem mehr oder weniger gelenkten System öffentlich-rechtlicher Medien führt allerdings dazu, daß eine Form der politischen Korrektheit Einzug gehalten hat, die unliebsame Meinungen totschweigt und so zum allgemeinen Politikverdruß beiträgt.
Amerika, Du hast es besser.
Claus Dehl (Washington)