4. April 2012: Das Bundesverwaltungsgericht (BVG) in Leipzig verkündet sein lange erwartetes Urteil zum Ausbau des Frankfurter Flughafens und zu einem eventuellen Nachtflugverbot. Das BVG urteilt zweigeteilt: Ab sofort gilt ein uneingeschränktes Nachtflugverbot zwischen 23 Uhr und 5 Uhr einerseits – was ein Desaster für die Wettbewerbsfähigkeit des internationalen Drehkreuzes bedeutet – andererseits ein klares Ja zum weiteren Ausbau des Flughafens. Geplant sind dann in Zukunft rund 750.000 Flüge pro Jahr, was in manchen Anrainer-Orten bedeutet, alle 3 Minuten ein Flugzeug über den Häusern ertragen zu müssen – ebenfalls ein Desaster. Der Cargo-Verkehr, bei dem Frankfurt die Nr. 1 ist, braucht aber die Nacht – übersetzt im Slogan: „Die Fracht braucht die Nacht“. Zu „Frankfurt“ werden am Flug-Markt also Alternativen auftreten. Amsterdam, Paris und Dubai warten schon, der Wettbewerbsstandort Frankfurt wird international verlieren.
Das also ist das Urteil des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts, das am Ende einer elf-jährigen Planungs-, Anhörungs- und Einspruchszeit steht. Tausende Bürger haben in den letzten Jahren ihre (auch nur vermeintlichen) Rechte geltend gemacht und geklagt, unterstützt von ebenso klagenden Kommunen und Kreisverwaltungen. Wer aber gedacht hatte, mit dem letztinstanzlichen Urteil habe es sich jetzt, irrt. Schon haben Kläger geäußert, evtl. vor dem Bundesverfassungsgericht weiter zu klagen; andere kündigen jetzt schon an, die sich aus dem BVG-Urteil ergebenden neuen Teil-Genehmigungsverfahren torpedieren zu wollen, was weitere Jahre der Planungsunsicherheit bedeutet. Also eine Klage-Spirale ohne Ende. Nichts geht mehr.
Bei großen Infrastrukturprojekten wird es immer schwieriger, zwischen Wettbewerbsfähigkeit, Kosteneffizienz, Umwelt, Sozialverträglichkeit und Bürgerakzeptanz eine ausgewogene Lösung zu finden. Und so bleiben manche Großprojekte auf der Strecke, oder ihre Planungen ziehen sich Jahre, ja Jahrzehnte hin. Kommunen können ein garstig´ Lied dazu singen. Es ist doch absurd, daß bei einigen solcher Projekte auf der Bank der Gegner bereits die Kinder derjenigen sitzen, die weiland Einspruch erhoben haben, aber aus Altersgründen oder weil sie mittlerweile verstorben sind, den Einspruchs-Beratungen nicht mehr selbst beiwohnen können. Die Einsprüche als solche aber bleiben bestehen. Das ist das Gegenteil von „Legitimität durch Verfahren“. Das ist – höflich ausgedruckt – befremdend.
Es ist gerade einige Monate her, daß uns mit „Stuttgart 21“ (Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs) vorexerziert wurde, wie absurd die demokratischen Verfahren geworden sind. Trotz fast 15 Jahren Planungszeit, trotz deutlicher und mehrfacher Zustimmung in allen zuständigen Parlamenten und trotz Zurückweisung von Einsprüchen aller Art brauste ein „Sturm der Entrüstung“ in der Bevölkerung gegen das Großprojekt auf. Politiker, die eigentlich dem Umbau zugestimmt hatten, gingen in Deckung oder trauten sich nicht mehr auf die Straße. Es entstand der allgemeine Eindruck, daß hier „die Bevölkerung“ klar dagegen sei. So jedenfalls artikulierten sich die Interessengruppen, vor allem die militanten Gegner. Weit gefehlt! Von den Gegnern zu einer Volksabstimmung getrieben, sprachen sich fast 60 Prozent der Bevölkerung Baden-Württembergs für den neuen Bahnhof aus. Selbst in der Landeshauptstadt Stuttgart fanden die Baupläne bei den direkt Betroffenen eine Mehrheit – eine Blamage für die Protestierer. Trotzdem kündigten die Umbaugegner an, ihren Kampf gegen „Stuttgart 21“ fortzusetzen.
Erschwerend kommt ein die Protestanten begünstigendes allgemeines Klima hinzu: Wer protestiert, wehrt sich augenscheinlich gegen die Obrigkeit, gegen den Staat, gegen die „Strukturen“, gegen die bösen Kapitalisten, gegen die Multis, gegen die Energiekonzerne usw. „Dagegen“ sein ist allemal attraktiver, als FÜR etwas zu sein. Der Gegner wird verteufelt, die eigene Position aber überhöht – und damit sakrosankt. Es ist inzwischen nahezu gängige Taktik, den Gegner zu schmähen, aber sich selbst die Vertretung des allgemeinen Wohls zu bescheinigen. Und so eskaliert eine Auseinandersetzung sehr viel leichter, wenn auch noch „Wut“ ins Spiel kommt – von Medien gerne unterstützend den „Wut-Bürgern“ zugeschrieben, nach der Devise „wer soviel Wut im Bauch hat, muß auch recht haben“. Unterschwellig wird da das alte Robin-Hood-Modell gefeiert: der Arme, Unterdrückte gegen den Reichen, Mächtigen. Man gibt vor, (wahlweise) für seine Kinder, die Zukunft der Region, die Natur, den Sozialstaat und überhaupt nur für das Gute zu kämpfen, während die Motive des Gegners auf ein einziges Wort reduziert werden: auf „Gier“. Das kommt an, das schafft breite Zustimmung. So entarten letztlich eine im Grundsatz begrüßenswerte Demokratisierung und größere Bürgerbeteiligung zur Tyrannei der Straße. So gedeiht aber kein demokratischer Dialog. Daß Gegner und Befürworter – jede für sich – nicht nur böse sind, sondern womöglich gute Argumente ins Feld führen können – undenkbar. Der Gegner ist immer der Böse. Bestes Beispiel: In Frankfurt gab es eine Kundgebung mit 10.000 Teilnehmern FÜR den Frankfurter Flughafen. Sofort erhoben die Gegner den Vorwurf, die Befürworter seien nicht freiwillig dort, sondern seien bestochen worden. Will heißen: Wer FÜR den Flughafen ist, muß käuflich, gierig, unmündig oder dumm sein. Hier ist der Versuch demokratischer Debattenkultur am Ende.
Wir demokratisieren uns zu Tode
Da läuft einiges falsch. Wie wehrhaft ist eine Demokratie, die bereits heute in weitgehend geregelten, breiten Anhörungen die Öffentlichkeit einbezieht und deren Organe in rechtmäßigen, demokratischen, parlamentarischen Verfahren bestimmte Pläne beschließen, die dann von lautstarken Interessengruppen quasi kassiert werden? Wie funktionsfähig ist ein Rechtssystem, das einmal mehrheitlich (!) getroffene Entscheidungen nicht durchhält, sondern von wem auch immer revidieren läßt? Gerade im Partizipationsverfahren mit den Bürgern muß gelten: Die letztendliche Entscheidung hat das Parlament. Dafür wurden die Parlamentarier gewählt, und dafür sind sie auch verantwortlich – egal ob auf der lokalen, regionalen, Landes- oder Bundesebene. Wer dies unterläuft, unterläuft die demokratischen Regeln und begünstigt letztlich eine Räte-Republik – wenn nicht sogar die Anarchie.
Erschwerend kommt hinzu, daß Einzelne bzw. einzelne Interessengruppen den Begriff der Demokratie in Deutschland so verbiegen, daß das Gemeinwohl mittlerweile keinen Stellenwert mehr hat. Das „Gemeinwohl“ ist nur das, was mir nützt, was vor meiner Haustüre passiert. Jeder möchte für sich alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, ohne jedoch andererseits auch nur die geringste Verpflichtung dafür zu übernehmen. Übertrieben ausgedrückt: Viele Demonstranten „gegen etwas“ handeln offenbar nach der Devise: „Wo gibt´s hier was zu demonstrieren? Ich mach mit!“ Der zunehmende „Demo-Tourismus“ ist ein abartiges Beispiel für solchen Wander-Protest. Aber alle diese Zeitgenossen geben vor, im Interesse der Bevölkerung zu handeln. Viele Medien fallen darauf herein und fordern eine Berücksichtigung der vermeintlichen Interessenvertreter. Jeder darf mitmachen, jeder wird gehört. Das bedeutet letztlich: Wir demokratisieren uns zu Tode. Hätten unsere Vorfahren, unsere Eltern, so lautstark gegen alles Mögliche protestiert, wie es zur Zeit in Mode zu sein scheint, säßen wir wohl noch immer in Höhlen. Und das gilt für weite Bereiche unserer Republik:
Historisch betrachtet gäbe es z. B. keinen Raumflug ohne deutschen Erfindungsgeist. Der Begriff, Deutschland sei die „Apotheke der Welt“, kommt auch nicht von ungefähr, sondern wurde geprägt als Ausdruck für die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf dem Gesundheitssektor. Heute bestimmen Ideologen und sogenannte Ethik-Kommissionen, was in den Forschungslaboren als Fortschritt zu gelten hat. Gentechnologie, Stammzellenforschung, Nanotechnik werden in den kommenden Jahrzehnten die Medizin revolutionieren. Aber Forscher und Forschungsabteilungen namhafter Firmen wandern aus – mehrheitlich in die USA, weil sie hier keinen Boden für ihre Forschungsergebnisse mehr finden. Ganze Biologie- und Technologie-Bereiche sind in Deutschland nicht mehr zuhause, wie zuletzt bei der BASF, dem weltgrößten Chemie-Unternehmen der Welt, die ihre gesamte Forschung nach Amerika verlagert.
Parallel dazu wird aber behauptet, die Welt treibe auf ein ökologisches Chaos zu – Erderwärmung, Polkappenschmelze, meteorologische Entwicklungen. Die Schlagzeilen können nicht mehr schnell genug gedruckt werden, um alle auftretenden Schadensmeldungen zu dokumentieren. Gleichzeitig werden aber hierzulande alle Anstrengungen unternommen, die Bekämpfung der „drohenden Gefahren“ bzw. die Forschungsmöglichkeiten dazu einzuschränken. Deutschland war z. B. auch führend in der Atomstrom-Technologie, mittlerweile ist die deutsche Landschaft durch einen Wald von Windkrafträdern völlig entstellt worden, und wir müssen mangels ausreichender Energie Strom zu teurem Preis im nahen Ausland einkaufen. Das gleiche gilt für die Gen-Technik. Notwendige Bahn- und Autobahnprojekte können nicht in Angriff oder fertiggestellt werden, weil ein Krötenwanderpfad im Weg ist.
Der praktizierte Wahnsinn könnte noch seitenlang fortgeführt werden, zeigt in der Summe aber auch nur das Gleiche: Es herrscht dringender Handlungsbedarf, um diese Situation schnell und grundlegend zu ändern. Die zugrunde liegenden Fehler, die zur jetzt bestehenden Situation geführt haben, wurden als Grundstein bereits in den sechziger Jahren begangen und durch permanentes Feintuning stets weiter verschärft.
Eigennutz versus Gemeinwohl
Eine Änderung kann nicht durch Herumbasteln am bestehenden System hervorgerufen werden, sondern es müssen Struktur-Veränderungen vorgenommen werden. Es ist grundsätzlich richtig, die Bürger an Planungen zu beteiligen – vor (!) dem politischen Entscheidungsprozeß. Aber entscheiden müssen letztendlich die politischen Mandatsträger – jedenfalls in einer parlamentarischen Demokratie. Und diese Entscheidung muß dann auch akzeptiert werden. Basta! Nicht jeder betroffene oder vermeintlich betroffene Bürger ist „die Bevölkerung“. Und schon gar nicht repräsentiert eine Interessengruppe „die Allgemeinheit“, von der sie gerne redet. Was weitgehend verloren gegangen ist: Das „allgemeine Wohl“ muß wieder stärker in den Vordergrund rücken, wissend, daß nicht die Summe der Einzelinteressen das Gemeinwohl definiert. Zum anderen jedoch müssen die Bürger an der Gestaltung ihres eigenen Staates stärker beteiligt werden – ein Allgemeinplatz, der aber nicht ausreichend unterfüttert ist. Da warten die Bürger auf Initiativen des Staates.
Die Frage ist nun: Wie reagiert man darauf? Es gibt den Weg der Diktatur – das ist für Demokratie-bejahende Bürger keine ernsthafte Alternative. Oder wir demokratisieren uns durch endlose
Mitsprachemöglichkeiten zu Tode – dann geht eben nichts mehr. Oder wir kümmern uns einfach nicht, was in weiten Teilen zur „Tu-nix-Generation“ paßt. Nicht-Entscheiden scheint sehr modern zu sein. Aber es ist letztlich ein Ausdruck von Feigheit, keine Verantwortung zu übernehmen. Beides ist eine unheimliche soziale Gefahr. Sich der Verantwortung zu entziehen: Das müßte bestraft werden, weil das Gemeinwohl so mit Füßen getreten wird. Uns geht es zu gut, weshalb wir glauben, „für Andere“ keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Und wenn wir einmal auf die Unterstützung „Anderer“ angewiesen wären? Gemach, da hilft dann der Staat! Und die Sorge um und die Verantwortung für die Mitmenschen bleiben auf der Strecke.
Keine Lösung durch zuviel Bürgerbeteiligung
Der ehemalige Hamburger „Erste Bürgermeister“ Herbert Weichmann (SPD) warnte bereits 1974 vor einer „Über-Demokratisierung“ und Aufweichung der parlamentarischen Demokratie: „Man kann Demokratie oder man kann einen Staat nicht funktionsfähig erhalten, wenn man sozusagen jede Entscheidung bis zur Basis vortreibt und von der Basis her legitimieren will. Dann kommen emotionale und sicherlich weniger sachverständige Erwägungen zum Tragen, als sie in Parlamenten angestrengt werden. Und ich meine auch, daß die Väter unseres Grundgesetzes mit gutem Grund nach den Erfahrungen der Weimarer Republik das Plebiszit abgeschafft haben, während heute eben wieder unter der Parole der Demokratisierung Tendenzen vorhanden sind, plebiszitäre Methoden anzuwenden“.
Die Diskussion darüber, wieviel direkte Demokratie der repräsentativen Demokratie guttut, ist heute mindestens so aktuell wie damals. Es geht darum, die repräsentative Demokratie durch direktdemokratische Verfahren zu bereichern, ohne sie zu schwächen.
Im Klartext: Wir stehen heute in einem globalen Wettbewerb, der von den politisch Verantwortlichen Schnelligkeit bei Entscheidungen, Planungen und deren Umsetzung verlangt. Die „Kunst“ besteht darin, uns nicht ausbremsen zu lassen, indem wir Individualinteressen – und die stehen ja nicht gerade selten hinter Volksbegehren – ein zu großes Gewicht geben. Gewicht geben ja, das parlamentarische System damit aber aushebeln, nein! Natürlich sind die parlamentarischen Vertreter in toto auch nicht klüger (oder dümmer) als „das Volk“. Beide können Fehlentscheidungen treffen. Aber: Entscheidungen im Parlament fallen nach ausführlicher Beratung – warum gibt es sonst bei Gesetzesverfahren drei Lesungen? – nach Anhörungen und nach oft quälenden Vorentscheidungen in den Fraktionen. Und eben nicht nach dem „Ja/Nein-Prinzip“ einer Volksabstimmung, die aber nicht, wie Parlamentarier, Verantwortung für die Folgen der Entscheidung übernehmen kann. Gerade komplizierten Vorgängen wird das parlamentarische Beratungsverfahren besser gerecht, als Volksentscheide dies überhaupt könnten.
Eines der Grundübel der Verdrossenheit über „die Politik“ – und damit einer der Gründe für den lauter werdenden Ruf nach „Partizipation“ – liegt aber auch in einer für manchen sicher überraschend geäußerten Vermutung. Ich nenne sie deutlich: Es liegt an der „Feigheit“ vieler Politiker und Mandatsträger, ihre einmal getroffenen Entscheidungen mutig zu vertreten. Gewiß, sie tragen das Risiko, nicht wiedergewählt zu werden. Aber sie tragen mindestens genauso das „Risiko“ der Verantwortungsübernahme. Und das Volk spürt sehr schnell, ob jemand angreifbar, wankelmütig oder eben auch grundsatzfest ist. Laute Interessengruppen machen sich dies zunutze – und die „Volksvertreter“ knicken ein. So aber kann Demokratie nicht funktionieren.
Gerade die mutigen Politiker müssen deutlich machen: Es muß einem Bevölkerungsteil, einer Region, einem Menschen zugemutet werden dürfen, ein Bewußtsein dafür zu entwickeln, daß eine allgemeine – und so auch individuelle – Prosperität nicht für null zu haben ist und gewisse damit verbundene Belastungen in Kauf genommen werden müssen. Auf höherer Ebene: Eine global vernetzte Volkswirtschaft ist ohne Belastungen und Nebenwirkungen nicht zu haben. Alles andere hieße letztlich: zurück auf die Bäume!