Solidarität zwischen den Generationen
Man kann trefflich darüber streiten, ob der vom Europäischen Rat und vom Europa-Parlament gewählte Titel irgend jemand vom Hocker reißt. „Europäisches Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen“ klingt eher zu hölzern, als dass der Titel zum Nachdenken oder gar Mitmachen anspornt. Aber das sind Äußerlichkeiten.
Beschäftigen wir uns mit dem Anliegen, wird klar, wie wichtig das Thema für unsere Gesellschaft – Jung und Alt – wirklich ist. Immer mehr älteren stehen immer weniger jüngere Menschen gegenüber. Die Fakten sind eindeutig: Deutschlands „Aktivgruppe“ (25-59 Jahre alt) schrumpft zwischen 2010 und 2030 von 40,5 auf 32,5 Millionen, denen gerade ´mal 18 Millionen Menschen unter 25 Jahren folgen. Hingegen fordern heute schon etwa 29 Millionen über 60 Jahre alt ein würdiges Leben im Alter. Man braucht kein Volkswirt zu sein, um zu sehen, dass das nicht so einfach zu bewältigen sein wird. (Und das gilt, nebenbei bemerkt, auch für etliche weitere europäische Staaten.)
Die tieferen Ursachen der demographischen (Fehl-)Entwicklung aufzudecken, wäre einer besonderen Betrachtung wert. Wegen der Komplexität der Zusammenhänge deshalb hier nur ein paar Stichworte: In Deutschland fehlt nach wie vor so etwas wie eine „staatliche Kinderpolitik“. Die deutsche Familienpolitik krankt an Vielem, vor allem aber an ihrer orientierungslosen Vielfalt. Ein wahres Sammelsurium an „Programmen“, Zuschüssen, Hilfen und Projekten etc! Weniger wäre mehr – oder besser gesagt: Gezielter wäre besser.
187 Milliarden Euro gibt der Staat bei uns für Familien bzw. Familienförderung aus, immerhin mehr als in dreißig von der OECD untersuchten Industrieländern. Das Ergebnis dieser Fülle ist mager: Unsere Geburtenrate ist eine der niedrigsten, der Anteil armer Kinder an der Gesamtkinderzahl ist (zu) hoch. Trostlos vor allem der Ausblick für „Teilzeitmütter“: Es fehlt einerseits an familiengerechten Job-Angeboten, andererseits (und wichtiger) mangelt es an Betreuungsangeboten.
Es geht hier nicht um die Diskussion einzelner Schritte („Maßnahmen“). Wichtiger wäre, daß endlich einmal klar erkennbar würde, welche Generallinie die Politik in dieser Frage hat. Sollte da eine vorhanden sein, ist sie nicht zu erkennen. Nun kommt das Betreuungsgeld. Elterngeld und Kindergeld haben wir ja schon, zudem noch Kita-Förderung usw. – Segnungen des Staates, ungezielt, unbegründet. Das Elterngeld sollte z. B. zur schnelleren Wiedereingliederung in den Beruf beitragen, das Betreuungsgeld dient genau dem Gegenteil. Eine „Linie“ hat das alles nicht.
Zu reden wäre auch über eine Reihe weiterer Hindernisse: Weit mehr als 100.000 ungeborene Kinder werden bei uns jährlich „entsorgt“, also abgetrieben, was richtigerweise Tötung Unschuldiger heißen müßte. Seit 1975 sind etwa acht bis neun Millionen abgetriebener Kinder zu beklagen, zusätzlich zu einer wohl bedeutenden Dunkelziffer. Der Konflikt Elternbetreuung versus Kita-, also Fremd-Betreuung ist nicht geklärt. Von der seelischen Gefährdung der Kleinkinder, die ohne elterliche Umgebung aufwachsen, wird nicht gesprochen. Die Anerkennung der „Ehe“ außerhalb des biologisch natürlichen Weges von Mann und Frau, die einen natürlichen Nachwuchs verhindert, greift um sich, da angeblich modern – was immer das auch heißt. Die Problemaufzählung geht weiter: Wie kann ein selbstbestimmtes Leben im Alter ermöglicht werden? Warum muß der Renteneintritt auf 65 oder 67 Jahre festgelegt werden? Wie werden Bildungspotentiale ausgeschöpft, wie die Betreuung unserer Alten menschengerecht gewährleistet? Wie wird die immer wichtiger werdende Prävention gefördert? Erwähnenswert: Nur etwa ein Viertel der Menschen über 65 Jahre fühlte sich 2009 gesundheitlich so beeinträchtigt, dass sie ihren gewohnten Tätigkeiten nicht nachgehen konnten. Personen hingegen, die präventiven Maßnahmen nachgehen, fühlen sich deutlich gesünder als „Präventionsverweigerer“.
Die Forderung nach (und die Förderung von) Mehrgenerationenhäuser ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ebenso wie die Ausweitung des Bundesfreiwilligendienstes für Senioren. Die Mehrgenerationenhäuser stärken das Miteinander der Generationen in besonderer Weise. Der Bundesfreiwilligendienst zeigt, daß sehr viele „Alte“ gar nicht daran denken, sich zum „alten Eisen“ zu zählen. Sie sind stolz darauf, in der Gesellschaft für die Gemeinschaft mitwirken zu können. (Die „grünen Damen/Herren“ in vielen Krankenhäusern sind ein beredtes Beispiel dafür.) Im Klartext heißt dies aber auch: Wir dürfen Senioren nicht als Problem der Zukunftsentwicklung sehen, sondern als Teil der Lösung – eine Erkenntnis, die sich nur schwerlich in unseren Köpfen festsetzen will.
Der berufliche Alltag bringt es mit sich, dass man sich ganz auf die Arbeit, auf den „Job“, konzentriert. Über das Leben nach dem Beruf macht man sich kaum Gedanken. Das hat meist die fatale Folge, daß viele aus dem Berufsleben Ausscheidende erst einmal in ein tiefes Loch fallen. Wir müssen dafür sorgen, dass Ruhestand für jeden Betroffenen neu definiert werden muß, d. h. neue Zielstellungen entwickeln, sich im Idealfall als „Lebenszeit-Manager“ zu verstehen. Um einem Vorurteil gleich entgegenzutreten: Aktive Senioren nehmen jungen Leuten nicht den Arbeitsplatz weg. Selbst wenn das im Einzelfall (!) so ist, bleibt das Argument doch abwegig. Das Ziel aktiven Engagements Älterer ist doch nicht, Jüngeren den Arbeitsplatz wegzunehmen. Im Gegenteil: Nachberufliche Tätigkeiten, die in der Regel auf dem Erfahrensschatz ehemaliger Berufstätiger basiert, kann die Entwicklung in allen Lebensbereichen begünstigen. Das nutzt dem allgemeinen Arbeitsmarkt und schafft neue Arbeitsfelder sowie Arbeitsplätze. Begrüßenswert: Ältere Menschen sind bereits heute häufig vielfältig ehrenamtlich tätig (s. o.). Senioren verzeichnen im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements die höchsten Steigerungsraten. Selbst bei den 70-74 Jährigen beträgt die Engagementsquote noch um die 30 Prozent.
Die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen hat in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen stieg zwischen 2000 und 2010 von 37 auf knapp 58 Prozent, also stärker als in jeder anderen Altersgruppe. Von den 1,7 Millionen Erwerbstätigen über 60 Jahren hatten 1,3 Millionen eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit. Nach Erreichung des 65. Lebensjahres waren immer noch 4 Prozent der Bevölkerung erwerbstätig, darunter überdurchschnittlich viele Selbständige und mithelfende Familienangehörige. Auch die Weiterbildungsquote steigt: bei den 55-59 Jährigen von 37 auf 40 Prozent, bei den 60- bis 64-Jährigen von 18 auf 27 Prozent.
Aber auch das gehört zum Thema: Mit der steigenden Lebenserwartung steigt auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Allerdings, ältere Menschen sollten solange wie möglich selbst über ihr Leben bestimmen dürfen. „Pflegebedürftig“ darf nicht zu „bevormundet“ verkommen. Deshalb auch die Forderung nach einem anspruchsvollen Projekt: „Soziales Wohnen im Alter“. Im Mittelpunkt aller Bemühungen sollte stets der möglichst lange Verbleib in der Familie stehen. Und da sind wir bei dem heiklen Thema „Beruf und Pflege“. Der Generationenkreis schließt sich. Wir diskutieren immer noch die Möglichkeiten einer genügenden Familienförderung, damit Mütter ihre Kinder – zumindest in den Anfangsjahren – aufziehen können, bis jetzt ohne ausreichendes Ergebnis, genauso wie wir erst am Anfang der Diskussion um die Vereinbarkeit von häuslicher Pflege und Beruf diskutieren. Da läßt die Politik noch zu viele Fragen offen.
Auf einer ganz anderen Seite der Medaille: die volkswirtschaftliche Komponente bei den Senioren. Die „Seniorenwirtschaft“ ist eine Wachstumsbranche und ein Beschäftigungsmotor. Leistungen für Ältere werden immer mehr nachgefragt. Der „Wirtschaftsfaktor Alter“ umfaßt zahlreiche Wirtschaftsbereiche: die Gesundheitswirtschaft, den Pflegemarkt, haushaltsbezogene Dienste und Dienste um das Wohnen herum. Schon heute entfällt auf die über 50-Jährigen in vielen Gütergruppen annähernd die Hälfte der Gesamtumsätze.
Es sollte bei diesen wenigen Stichworten bleiben. Die besondere Herausforderung des Themas „Aktives Altern“ liegt darin, den Forderungen der Zukunft gerecht zu werden. Das heißt z. B., so gesund zu leben, daß man auch im Alter Mitverantwortung für die Gesellschaft, für Kinder und Enkel übernehmen kann. Diese Mitverantwortung verlangt eine Solidarität zwischen den Generationen und ein längeres aktives Verbleiben im Berufsleben. Auf Dauer darf es keine Vision sein, ein Drittel seines Lebens als Rentner zu verbringen. Bürgerliches Engagement ist unverzichtbar. Das aber kann man nicht befehlen – oder gar als Gesetz „erlassen“. Das verlangt von jedem einzelnen Umdenken und eben Solidarität. Diese Solidarität entsteht nur aus einem Miteinander, nicht aus einem Nebeneinanderherleben. Der Wortschwall des europäischen Jahres verdeckt fast das Wichtigste: Es geht nicht um das „Europäische Jahr des Alters“, sondern des Alterns – ein wichtiger Unterschied!
Fazit: „Aktives Altern“ heißt damit, dass die Alterung der Gesellschaft nicht nur als zunehmend weniger finanzierbarer Anstieg der Zahl der Sozialhilfeempfänger interpretiert werden sollte, sondern als Chance und Auforderung für die bessere Nutzung der Potentiale des Alters wie des Alterns.