Die Entscheidung des Kölner Landgerichts zur Beschneidung schlägt immer noch hohe Wogen in unserem Land – wie immer, wenn die Stichworte „Juden“ und „Muslime“ fallen. Wir sind als Nation noch immer so verkrampft, daß wir nicht einmal über medizinische Fragen vorbehaltlos diskutieren können (dürfen?).
Die Behauptung z. B. des Präsidenten des Zentralrates der Juden, Graumann, in Deutschland sei „die Beschneidung nach wie vor legal“ stimmt so nicht, sondern generell nur für Erwachsene – und schon gar nicht für Fälle von der Schwere des in Köln verhandelten, das das Gericht als „gefährliche Körperverletzung“ eingestuft hatte. Auch das Argument „das haben wir schon immer so gemacht“ ist keine Rechtfertigung und juristisch nicht tragfähig. Eine Beschneidung ist bei uns völlig legal, wenn der betroffene über 18-Jährige sich frei dazu entscheidet. Nach dem jüdischen Glauben jedoch werden Jungen am achten Tag nach der Geburt – zwangsläufig unfreiwillig – ohne medizinische Indikation beschnitten.
Wenn nun der Bundestag einen religiös bedingten Rechtsfertigungsgrund einführen will, dann wird er sehr bald feststellen, daß Menschenrechte von Kindern berührt werden. Im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) gibt es eben auch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Selbstbestimmung des einzelnen. Gegen diese beiden Grundrechte verstößt, wer Genitalverstümmelungen ohne medizinische Notwendigkeit zustimmt. Diese Grundrechte lassen sich weder durch die Forderung nach Religionsfreiheit noch durch Hinweis auf das Elternrecht aushebeln.
Mit einer Beschneidung erfolgt nicht nur ein irreparabler Eingriff in die Gestalt des Körpers eines kleinen Jungen, sondern er wird auch seiner (verfassungsmäßigen) Rechte auf Unversehrtheit, Freiheit und Selbstbestimmung beraubt – und damit der Möglichkeit, selbst über eine Beteiligung an diesem Ritual zu entscheiden.
Ob ein vom Bundestag beschlossenes Sondergesetz zur Beschneidung von Knaben vor dem Verfassungsgericht Bestand hätte – was ist denn mit der Beschneidung von Mädchen? – ist sehr zweifelhaft. Sollte muslimisches oder jüdisches Lebensrecht tatsächlich nur an einem Zipfelchen hängen?
Erkenntnis 1: Es besteht also ein Konflikt zwischen den allgemeinen Grundrechten, die auch für Kinder gelten, und der alttestamentarischen bzw. muslimischen Religion. Wer den Grundsatz akzeptiert, daß die allgemeinen Grundrechte der jeweiligen Religion vorgehen, hebt diesen Konflikt auf.
„Jahrhunderte alter Brauch“
Die Tatsache, daß seit vielen hundert Jahren so verfahren wird, ist keine ausreichende Begründung für die Beschneidung von Kleinkindern. Wenn nun Angehörige des Judentums oder des Islam behaupten, so handeln zu müssen, weil Gott es ihnen so aufgetragen habe, ist auch dies höchst angreifbar. Denn das Gegenteil dürfte eher richtig sein: Nach allen unseren Religion ist der Mensch ein Werk Gottes. Wenn Gott es so gewollt hätte, wie Islam und Judentum behaupten, hätte er bestimmt den Menschen anders erschaffen. Es kann doch niemand ernsthaft behaupten, daß Gott den Menschen (nach seinem Ebenbild) erschaffen hat – aber schon acht Tage nach des Menschen Geburt glaubt der Mensch, eben dieses Gotteswerk korrigieren zu müssen. Das aber ist vermessen und steht dem Menschen nicht zu.
Erkenntnis 2: Gott erschuf den Menschen nach seinem Willen – ohne Korrekturbedarf!
Wie weit geht Elternrecht?
Es geht im Kern dieser Problematik durchaus auch um die Frage, wieweit das Elternrecht bzw. der Mißbrauch dieses Rechts gehen darf. Artikel 6 (2) GG bestimmt ebenso wie der Paragraph 1 des Sozialgesetzbuches VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz), daß Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und zuvörderst die ihnen obliegende Pflicht sind. Das erlaubt aber gerade den Eltern eine völlige Freiheit in der Heranziehung der Kinder. Nun kommen all die Emanzipierten und „Korrekten“ sonderzahl und verteidigen die vermeintlichen Rechte der Eltern, ihre Kinder ohne staatliche Gängelung verletzen, beschneiden lassen zu dürfen. Wie weit aber dürfen („selbstbestimmte“) Eltern in der Mißachtung der Kinderrechte gehen?
Wenn aus devoter Opportunität und im ängstlichen Blick auf die politisch korrekt diktierte öffentliche Meinung leichtfertig (?) ein Grundrecht zur Disposition gestellt wird, ist zwingende Konsequenz, die Frage zu stellen: Wann wird dieser Staat das nächste Grundrecht in Frage stellen?
Erkenntnis 3: Es besteht offensichtlich ein Grundrechtekonflikt zwischen der Religionsfreiheit auf der einen und der körperlichen Unversehrtheit des Kindes auf der anderen Seite.
Dieser Konflikt läßt sich meines Erachtens aber nicht durch einen bloßen Bundestagsbeschluß lösen, sondern vermutlich nur durch eine grundgesetzliche Regelung. Jedenfalls sollte eine emotionslosere, unverkrampfte Diskussion möglich sein, ohne auf alte Reflexe abzuheben.