Von Peter Helmes und Pietro del ´Elmo, Vatikan-Korrespondent
Zum ersten Mal in der Geschichte des Papsttums brachte der 21. Juni 2012 gleich zwei Premieren: Zum ersten Mal wurde ein Jesuit zum Papst gewählt, und zum ersten Mal bestieg am 19. März dieses Jahres, also vor 100 Tagen, ein Südamerikaner, Kardinal Jorge Bergoglio aus Argentinien, den Stuhl Petri – beides eine Sensation, nicht nur ein Kommandowechsel, sondern „eine wahrhaftige Revolution innerhalb der Kirche“, wie der argentinische Papst-Intimus Rafael Braun schreibt (in La Nación, 12.6.13).
Kaum im Amt, unterstrich der neue Pontifex sein Image als unkomplizierter, lächelnder Kirchenfürst mit Bodenhaftung, der ausgetretene Pfade zu gehen vermeidet. Der amerikanische Motorrad-Produzent Harley-Davidson schenkte ihm bei einer der ersten Privataudienzen zwei seiner symbolbeladenen Motorräder. „Eine Harley“ – da leuchten die Augen eines jeden Motorrad-Verrückten. Bilder der „Route 66“ vor Augen, könnte man sich Papst Franz auch auf einer Harley-Flanierfahrt über die Via Appia vorstellen, die Autostrada meidend. Die Harley gleicht einem Schiff und ist kein Rennrad. Sie will behutsam gesteuert werden, aber führt kraftvoll und vernehmbar zum Ziel. Ob Franz I. damit durch die vatikanischen Gärten kreuzen würde, darf man aber bezweifeln; denn der Schutz der Natur hat bei ihm Vorrang – Harley hin, Harley her. Aber er würde bei dieser Vorstellung gewiß vor sich hin lächeln. Seine Lachfalten verraten es.
„Frischer Wind der Demut“
Der neue Papst liebt solche Bilder, sie lassen ihn vertraut erscheinen, bodenständig und offen. Und so zeigte sich der Papst vom ersten Tag seiner Wahl an – mit großer Offenheit, mit Freude und Humor. Und auch: Ein frischer Wind der Demut weht durch die vatikanischen Gemäuer – symbolisch festzumachen an seinem Blech- statt einem Goldkreuz, seinen Straßenschuhen oder seinen einfachen Gewändern. „Der Papst trägt Prada“ war gestern. Da scheint der selbstgewählte Name Programm: Bescheidenheit, Natürlichkeit und Armut – d. h. auch Kampf gegen die Armut, seinem großen Vorbild Franz von Assisi folgend. Wer weiß, wie symbolträchtig die katholische Kirche im Innern und Äußern ist, versteht die Zeichen Franziskus´ gewiß nicht nur als Äußerlichkeiten.
Pastor und Politiker
Joaquin Morales Solá, einer der bedeutendsten Journalisten Argentiniens, charakterisiert den neuen Papst (ebenfalls in La Nación) am 14.3.2013 u. a. damit, Franziskus sei eine ausgewogene Mischung aus Pastor und Politiker, meinungsstark, zuweilen stur, nicht immer diplomatisch, Rangeleien nicht abgeneigt, wenn ihm Entscheidungen der weltlichen Politik mißfielen. Bergoglio nur als „netten Geistlichen“ wahrzunehmen – wie das häufig in einschlägigen Gazetten geschieht – greift zu kurz. Er ist genügend macht- und selbstbewußt, „kann“ auch Politik und zeigt zuweilen kräftige Muskeln. Man denke nur an seine Auseinandersetzungen – die eher Widerstand darstellten – mit den argentinischen Präsidenten Kirchner. Cristina Kirchner hat diesen Kampf lange geführt – und am Ende verloren. Und so flog sie mit großer Delegation zur päpstlichen Krönungsmesse nach Rom, um Papst Franz ihre Referenz zu erweisen. Hohn und Spott kritischer Landsleute begleiteten sie derweil: „Da fliegt sie um die halbe Welt, um einen Landsmann zu treffen, den sie jahrelang nicht sehen wollte.“ (Die „Casa Rosada“, der Sitz des argentinischen Präsidenten, liegt nur 400 m von der Kathedrale von Buenos Aires, quasi in Blickweite, entfernt an der Plaza de Mayo.) Bergoglio zeigte sich darob versöhnlich und gewährte ihr eine Audienz.
Verzicht zugunsten Ratzingers
Seine (kirchen-)politische Cleverness bewies sich bereits im Konklave, das zur Wahl Papst Benedikts führte. Wie in vertraute Kreise durchsickerte, hatte Kardinal Bergoglio sein Interesse am Papstamt durchaus durchblicken lassen. Es ist kein Geheimnis, daß er in diesem Konklave fast gleichauf mit Ratzinger lag, einer endgültigen Auseinandersetzung aber dadurch auswich, daß er „seine“ Kardinäle dazu aufrief, Joseph Ratzinger zu wählen, was diesem letztlich fast eine Zweidrittel-Mehrheit bei der Wahl zum Papst bescherte. Bergoglio spürte, daß seine Zeit noch nicht gekommen war. Er, der Jüngere, sah seine nächste Chance später, und er spürte auch, daß nur Ratzinger das Werk Papst Johannes Paul des Zweiten am glaubwürdigsten fortführen würde. Außerdem galt (und gilt) Ratzinger als einer der bedeutendsten Gelehrten der Kirchengeschichte. Der Taktiker Bregoglio dürfte aber ebenso klar vermutet haben, daß Benedikt ein Papst des Übergangs sein werde – schon altersbedingt.
Wer ist dieser Mann, wie und wohin wird er sich bewegen? Die Erkenntnis nach den ersten 100 Tagen seines Pontifikats: Wir wissen es nicht genau; denn 100 Tage sind in der Geschichte des Vatikans und im Leben eines Papstes zu wenig, um ein abgewogenes Urteil fällen zu können. Vieles wird vermutet, hineininterpretiert, in Ahnungen gegossen. Aber dieser Papst läßt noch nicht deutlich genug erkennen, wohin sein Weg geht. 100 Tage gaben ihm bereits reichlich Gelegenheit zu großen Gesten und Worten. Aber noch sind seine Weichenstellungen nicht ausreichend erkennbar. Sehr klar jedoch scheint zu sein, daß er in Fragen des Zölibats, in der Ablehnung des Frauen-Priestertums und der Abtreibung nicht von der Linie seines Vorgängers abweichen wird. Aber gerade Jorge Bergoglio ließ schon als Priester und Kardinal eine alte kirchliche Weisheit erkennen: „Ecclesia semper reformanda“ – die Kirche ist immer reformbedürftig.
Gefahr durch die „Dämonen Geld und Sex“
Das gilt besonders für eine von ihm angekündigte und dringend nötige Reform der Organisation der Weltkirche, die er vor „Verkalkung“ warnt, und indem er Geldgier verurteilt und der Korruption den Kampf ansagt. Er weicht auch dem schwierigen Thema Homosexualität nicht aus und beklagt eine „Schwulen-Lobby“ innerhalb des Vatikans. Gewiß, die Vorarbeiten dazu hatte bereits Papst Benedikt der XVI. in Auftrag gegeben, der die absolut vertraulich gehaltenen Erkenntnisse einer von ihm eingesetzten Sonderkommission seinem Nachfolger persönlich übergab. Ebenfalls von Benedikt war eine Revision bei der vatikanischen Bank in Gang gesetzt worden, die u. a. im Verdacht steht, mit Mafia-Geschäften Geld zu verdienen. Benedikt trat unter der Last dieser Probleme zurück. Nach seinen eigenen Worten seien für sein Amt „sowohl die Kraft des Körpers als auch die Kraft des Geistes notwendig, eine Kraft, die in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen hat, dass ich mein Unvermögen erkennen muß, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen…“ Den Rücktritt darf man durchaus als Ausdruck außergewöhnlichen Mutes, innerer Stärke und Größe betrachten, aber auch als Resignation. In seiner letzten Messe im Petersdom am 13. Februar d. J. fand er nochmals deutliche Worte: „Das Gesicht der Kirche wird manchmal von Sünden gegen die Einheit der Kirche und Spaltung zwischen den Geistlichen geschädigt.“ Dabei werde „das Zeugnis“ der Kirche „umso bedeutsamer sein, umso weniger wir unseren Ruhm suchen.“
Die Umsetzung der sich aus den Berichten ergebenden Konsequenzen wird ein äußerst schwieriger Prüfstein für Papst Franz werden; denn an personellen Entscheidungen – bis hin zu Entlassungen – wird er kaum vorbeikommen. Ein erstes Zeichen hat er bereits gesetzt: Er strich den Kardinälen, die mit der Vatikan-Bank zu tun hatten, schlicht die „Boni“. Das bringt ihn in Gefahr. Nicht von ungefähr warnt der Vatikan-Korrespondent der FAZ, Daniel Deckers, davor, Papst Franz „lebe gefährlich“, da er sich „die mächtigsten Dämonen zum Feind gemacht“ habe: „Geld und Sex“ (FAZ 20.06.13).
Reform der Kurie
Der neue Papst macht offensichtlich ernst. Er berief bereits eine Kommission aus acht Kardinälen – darunter Kardinal Marx aus München –, die Vorschläge zur Reform der Kurie und zur Leitung der Kirche erarbeiten sollen. Viele Beobachter erwarten, daß damit letztlich dem römischen Zentralismus ein Ende droht, der nach wie vor „Rom“ als natürlichen Mittelpunkt der (christlichen) Welt betrachtet. Unzweifelhaft wird Papst Franz die Kirche für Nicht-Europäer attraktiver machen, zumal in Lateinamerika die größte Zahl der Katholiken lebt und der Glaube glüht. „Endlich sind wir befreit vom europäischen Imperium“ (Rafael Braun in La Nación).
Wie der neue Papst in dogmatischen Fragen vorgehen wird, ist noch völlig offen – außer, wie oben dargestellt, daß er am Zölibat, der Ablehnung der Frauenordination und dem Verbot der Abtreibung nicht rütteln wird. Zu weiteren Punkten wird man warten müssen, bis er die von seinem Vorgänger Benedikt begonnene „Enzyklika zum Glauben“ fertiggestellt haben wird.
Der „Zeitgeist“ wird sich jedenfalls, so viel steht fest, in dieser Enzyklika nicht wiederfinden. Auch nach der Überzeugung Papst Franz´ ist Religion etwas Konstantes, das Regeln setzt und deren Beachtung erwartet. Zeitgeist oder Lifestyle sind aber das Gegenteil dessen. Jesu Lehre kann nicht fortwährend linksgrünen Forderungen angepaßt werden. Ein „Wohlfühl-Evangelium“, gar mit esoterischem Charakter, wird man in der katholischen Kirche vergebens erwarten können, in der protestantischen schon eher. Papst Franz ist in dieser Frage ganz deutlich: „Eine Kirche, die sich dem Zeitgeist unterwirft, ist schwach und nicht überlebenswert.“
Eine ganz besondere Aufgabe, die dem neuen Papst ins Haus steht, dürfte Franziskus geradezu „auf den Leib geschnitten“ sein: Die katholische Kirche ist in Lateinamerika zwar groß, mächtig und einflußreich. Doch die christlichen Freikirchen, Pfingstkirchen und Evangelikale, erleben derzeit einen steilen Zuwachs und wachsen rasant. Sie zeichnen sich durch größere Nähe zum Volk aus, durch konkrete Hilfe und begeisternde Predigten – jedem Pomp abhold. Die oftmals deutliche Distanz zwischen katholischem Klerus und Gläubigen treibt die Menschen geradezu in die Arme der „warmherzigen und tröstenden“ Evangelikalen – eine Herausforderung für die katholische Kirche, nicht nur Südamerikas. Mag sein, daß die Namenswahl „Franziskus“ auch davon bestimmt war, daß der Hl. Franz von Assisi (1181 – 1226) auch für Protestanten und Evangelika eine Leitfigur ist, da er die Kirche in den Dienst der Armen zu stellen verlangte. So sieht es auch Papst Franz.
Bei aller Offenheit, die Papst Franz zeigt, bleibt abzuwarten, wie weit er in dogmatischen Fragen eine Öffnung zuläßt oder dem Kurs seiner Vorgänger treu bleibt. Ist er „Reformer“ oder „Bewahrer“? Ein „Papa Piacione“, wie ihn manche Kritiker unter den gerne spöttischen Römern nennen, „ein Mann, der es allen recht machen will“, ist Franziskus nicht. Präsidentin Kirchner wird dies mit einiger Verkniffenheit bestätigen können.
24. Juni 2013