Gedanken zum Nationalfeiertag und zur Einheit der deutschen Nation

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Brief eines „Westdeutschen“ an einen „ostdeutschen” Freund zum Tag der Deutschen Einheit, 3. Oktober 2013

Lieber Hans,

Deine Briefe an mich, aus denen stets Deine Sorge um das Vaterland – im besten Sinne des Wortes – erkennbar ist, verleiten mich immer wieder dazu, ausführlicher zu antworten, als mir die Zeit erlaubt. Betrachte es bitte als Zeichen meiner Wertschätzung, wenn ich Dir (wie auch E.) trotzdem gerne(!) antworte. Wie Du weißt, erhalte ich auf meine Publikationen täglich eine Fülle von Zuschriften. Da sind selten welche dabei, deren Lektüre lohnt und mich bereichert.

Bei Deinen (und E´s) Briefen jedoch erliege ich immer wieder der Versuchung, statt eines Briefes einen längeren „Artikel“ zu schreiben – also einen Brief, den man genauso gut als „Grundsatzpapier“ veröffentlichen könnte. Ihr Beide bringt mich immer wieder zum Nachdenken. „Und das ist gut so!“ (prägte ein mir höchst unsympathisches Berliner Großmaul einst dieses Gefühl.)

Und trotzdem ist es gut so, weil ich durch Euch lerne, „mit den Augen eines Ossis“ zu sehen, bzw. – wie die Indianer sagen – „in seinen Schuhen zu laufen“. Es geht gar nicht um Wissensvermittlung; denn Wissen über die SBZ habe ich ausreichend schöpfen können. Was mir aber fehlt(e), und was mir eben nur ein Mensch „von drüben“ geben kann, ist Gefühl – Gefühle eines Menschen aus dieser Zeit in diesem unseren Landesteil. Das vermittelt Ihr mir. Und dafür danke ich Euch aufrichtig.

Das, lieber Hans, wollte ich Dir einmal sagen, damit Du verstehst, warum ich so „an Euren Lippen hänge“. Soll ich mich etwa an den Merkels, an den Thierses, an den Gysis, an all den Wendehälsen orientieren? Ich will natürlich keine alten Wunden aufreißen, Ihr habt ja auch noch neue Wunden im Westen erfahren müssen – wofür ich mich schäme.

Dir ist vielleicht aufgefallen, daß ich meine Briefe und sonstigen Schriftstücke der letzten paar Tage jeweils mit dem Gruß beendet habe: „…mit den besten Wünschen für einen schönen und besinnlichen Nationalfeiertag…“ Das ist es, was ich vorhin ausdrücken wollte. Wir müssen immer wieder innehalten und über uns nachdenken. Leider muß ich – in diesem Brief – immer wieder von „Ossis“ und „Wessis“ reden, wenn ich über Unterschiede spreche. Grundsätzlich – auch das solltest Du wissen – spreche ich nur von „Deutschen“ (oder von „Landsleuten“).

Es gibt leider noch Gräben, Unterschiede und Mißverständnisse – hüben wie drüben. Allerdings: Der „Besserwessi“ und der „Schlechterossi“ gehören wohl endlich der Vergangenheit an. Trotzdem sitzt so manches noch in den Köpfen fest – Vorurteile hier gegenüber Euch, gewisse (Neid?-)Komplexe von Euch gegen uns. Ich erzähle Dir ein Beispiel, das mich sehr verärgerte:

 „Solidarität der Ossis“

Ich bin u. a. Mitglied eines politisch motivierten Vereins, dem Ost- und Westdeutsche angehören – also eines Vereins von Deutschen, die unser Land voranbringen wollen. Der Zufall will es, daß der Geschäftsführer – ein junger Mann aus Sachsen-Anhalt (32 Jahre alt) – mit mir „über Kreuz“ liegt. Du weißt, daß ich sehr hart formulieren kann – was der arme Kerl des Öfteren zu spüren bekam, weil er ein unzuverlässiger Typ ist. Im Vorstand dieses Vereins sitzt aber auch ein (Ost-)Berliner, der mich bzw. meine Position voll unterstützt (und ich seine). Was macht der Mensch aus SA: Er schreibt dem Berliner, er möge ihn doch bitte in seiner Haltung gegen mich unterstützen. Und dann kommt die Begründung: „Ich appelliere an Deine Solidarität als Ossi!“ Das schrieb er tatsächlich so wörtlich. Ich glaubte, ein Pferd habe mich getreten. Eine ganze Generation nach dem Mauerfall appelliert der Bursche an die „Ossi-Solidarität“ (gegen einen Wessi), ein junger Mann, der von der alten DDR nichts mehr mitbekommen haben dürfte! Da bleibt also noch viel zu tun.

Und hier (im Westen), in meinem direkten Umfeld, hörte ich neulich in einem anderen Zusammenhang den Satz: „Dem müssen wir helfen, der kommt aus dem Osten!“ Typisch westdeutsche Arroganz. Und das gibt mir das Stichwort für eine andere Geschichte, die mich bedrückt:

Die „DDR“ – für mich ein fremder Staat, aber deutsches Vaterland

Ich gehöre zu den heute nur noch Wenigen, die mit der Muttermilch im Glauben an die Deutsche Einheit aufgewachsen sind. Meine Eltern waren vor dem Krieg im Zentrum aktiv und gehörten nach dem Krieg zu den „Gründervätern“ der CDU dieses Landes. Ich bin aufgewachsen mit dem Glauben an eine deutsche Nation, die die „bösen Sowjets“ zerstören wollten. Meine Patentante kam (vor ihrer Flucht) aus Ost-Berlin, wir hatten also engen Bezug nach „drüben“. Für mich war es immer selbstverständlich, an die Deutsche Einheit zu glauben. Dieser Glaube war natürlich kein Wolkenkuckucksheim. Wir wußten, daß es lange dauern würde bis dahin, vielleicht auch nie Wirklichkeit würde. Aber wer kein Ziel vor Augen hat, wird es nicht erreichen.

1959 – im zarten Knabenalter von 16 Jahren – trat ich der CDU bei. Es war damals nicht nur eine Adenauer-CDU, sondern auch eine Partei, die für die deutsche Einheit stritt und die „SBZ“ als nationales Unglück ansah. So wurden wir damals in Schule und Elternhaus erzogen. Wenig später, als ich erste politische Ämter in Junger Union und CDU übernommen hatte, gehörte ich zu den Mitbegründern eines Berliner Vereins, der – vom Staat gefördert – Hunderttausende junger Menschen, Schüler vor allem, in Seminaren in einer Berliner Bildungsstätte über die Probleme der deutschen Teilung bzw. Einheit aufgeklärt hat. (Heinrich Lummer, heute Präsident der Deutschen Konservativen und langjähriger Innensenator sowie Berliner Bürgermeister, gehörte auch dazu.) Diese Bildungseinrichtung gibt es heute noch, aber wurde bald – und erst recht jetzt – als antikommunistische „Anstalt von gestern“ gebrandmarkt.

Wegen meines Engagements für die Wiedervereinigung erhielt ich nie ein Visum zur Einreise in die DDR. Ich gehörte zu den Organisatoren der jährlichen „Sternfahrten“ nach Berlin zum „Tag des Mauerbaus“ (13. August) und der Großdemonstrationen zum 17. Juni (Aufstand in der SBZ) am 17. Juni, an denen jeweils bis zu 20-25.000 Demonstranten teilnahmen. Auch die Jugend der Deutschen Konservativen, zu deren Gründer ich gehöre, setzte ein Zeichen: Sie versuchten in einer vielbeachteten Aktion, mit Hämmern ein Loch in die Berliner Mauer zu schlagen. Grund genug für die ostzonalen Behörden, mir einen Zutritt in Ihr „Staatsgebiet“ zu verwehren.

Westdeutsche „Appeasement-Politik“

Für mein Engagement für die Wiedervereinigung wurde ich mit zunehmender Zeit erst belächelt, dann verlacht – und letztlich verhöhnt, auch in meiner eigenen Partei. Ich wurde zu einem „Ewiggestrigen“ gestempelt“ – für mich ein Ehrentitel. Was mich wiederum beschämt, ist, daß dieselben Typen, die mich einst verlachten – weil sie sich als Appeasement-Gläubige“ auf dem rechten Weg wähnten, heute „an der Spitze der Bewegung“ zu stehen vorgeben. Niemand von denen hat sich bis heute auch nur von damals distanziert oder sich gar entschuldigt. Da lob ich mir – obwohl CDU-Politiker (gewesen) – die Ehrlichkeit einiger Sozis, die damals klar gesagt haben, daß sie die deutsche Einheit ablehnen und für falsch halten. Die hatten wenigsten Mut. (Daß ich mit denen inhaltlich/programmatisch nichts zu tun habe, versteht sich von selbst.) Du magst aus all dem erkennen, daß ich es als eine nationale Aufgabe betrachtete, die Deutschen in Einheit zu sehen.

Ich hätte mir wahrscheinlich viel Hohn und Spott ersparen können, wenn ich so gehandelt hätte wie weiland die Franzosen, als das Elsaß zum Spielball deutsch-französischer Interessen geworden war und immer wieder hin- und hergeschoben wurde. „Toujours y penser, jamais en parler!“ („Niemals davon sprechen, immer daran denken!“) sagte der französische Politiker Léon Gambetta in einer Rede in St. Quentin am 16. November 1871 über die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg. Er vertrat in der Französischen Nationalversammlung das Département Bas-Rhin (Niederrhein) im Elsaß, gab aber nach der Annexion des Elsaß durch die Deutschen sein Mandat aus Protest zurück. Das Elsaß-Lothringen-Problem blieb lange ein Stachel im Fleisch der französischen Republik. Die Devise „toujours y penser, jamais en parler“ wurde zum geflügelten Wort der französischen politischen Klasse. Aber hätte ich nach dieser Devise („immer dran denken, nie drüber reden“) für die deutsche Wiedervereinigung gehandelt, wäre ich nicht glücklich geworden, ja ich wäre „geplatzt“. Ich wollte kämpfen!

Warum schreibe ich Dir das, lieber Peter? Ich kann mich des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß diese weiter oben geschilderte Haltung (der unterschiedlichen Betrachtungen von Ost und West) auch heute noch bei einem (Groß?-)Teil der politischen Klasse zu finden ist – allen Merkels, Gysis oder Thierses und und…und zum Trotz, die heute ganz selbstverständlich die Vorzüge der deutschen Einheit genießen – und das meine ich zum Teil durchaus polemisch (wenn ich so an die üppigen staatlichen „Insignien“ denke).

Zukünftige Aufgaben

Zurück zum Tag der Deutschen Einheit: Ich dachte, die Zeit alter Ressentiments sei vorbei. Nach der Wende wurden wir in Ost und West ständig aufgefordert, einander „unsere Geschichten“ zu erzählen. Aber irgendwann muß es doch auch einmal genug sein, irgendwann sollten die Ressentiments verschwinden! Die deutsche Einheit ist eine Tatsache. Wir sollten uns (beide Seiten) um die wirklichen Probleme gemeinsam (!) kümmern. Das Hauptproblem heißt: Wohin steuert Deutschland? Und zwar nicht wegen der Kosten der Wiedervereinigung – die haben wir auch zu schultern –, sondern wegen des immensen globalen Wettbewerbsdrucks, der auf uns allen lastet. Das ist es aber nicht allein! In den neuen Bundesländern ist z. B. die Arbeitslosigkeit meistens höher als im Westen, aber in Thüringen ist sie niedriger als in Nordrhein-Westfalen. Es gibt also einfach nicht den „Verlierer der Einheit“, sondern regionale Unterschiede – unabhängig von der Himmelsrichtung. Die alte Bundesrepublik gibt es nicht mehr. Und es sind die regionalen Unterschiede in den Bundesländern quer durch Deutschland, die zukünftig entscheidend sind, aber nicht mehr die Spaltung zwischen Ost und West.

In meinem gestrigen, umfangreicheren Artikel zur Nachlese der Bundestagswahl habe ich versucht, einige Probleme unseres Landes zu benennen. Ich kann nur hoffen, daß die von uns gewählten Politiker sich dieser Aufgabe, dieser Verantwortung stellen. Aber wenn ich sehe, wie sie mit Eurer Rentenproblematik umgehen, sinkt mein Optimismus gegen Null. Auch von daher betrachte ich es als meine moralische (und politische) Verpflichtung, mit dazu beizutragen, daß Ihr für Euer berechtigtes Anliegen Gehör und Lösungen findet.

Kohls „Wende“ – „Abwende“ von den alten Werten

Du schneidest noch ein sehr schwieriges Thema an und fragst: „Wer sind die Kräfte, die nach Kohls Rückzug unser Land so verändern?“ Im Kern Deiner Frage liegt ein Irrtum, Dein historischer Ansatz ist falsch. Die Veränderung unseres Landes, die Verschlechterung unserer inneren Situation – wertebezogen – begann nicht „nach Kohl“, wie Du schreibst, sondern mit Kohl. Er hatte die „Wende“ versprochen, aber sie bestand aus einer „Ab-Wende“ von den alten Werten und Idealen. Kohl führte die CDU in die „Neuzeit“, deren Zustand ich oft genug beschrieben habe. Merkel, die gelehrige Schülerin des Meisters, perfektionierte die „Wende“, und der alte Adenauer-Staat – meine Heimat – war Geschichte. Man muß also kein Anhänger irgendwelcher Verschwörungs-Theorien (z. B. Bilderberger) sein, um das zu erkennen. Daß die Bundesrepublik an den Strippen des internationalen Großkapitals hängt, ist ebenfalls keine Verschwörungstheorie, sondern grausame Realität – inklusive des Verbleibs gewisser Stasi-Akten in den USA. Das gilt für Merkel, für Gauck, für Gysi usw., aber auch für „Neu-Atlantiker“ wie Trittin, Özdemir, Wissmann, Lindner etc. – und, vice versa, bleibt ungeklärt die Vorgeschichte etlicher deutscher Politiker, die heute so tun, als hätten sie den Kommunismus nie erlebt. Ich bin aufgewachsen mit einem klaren transatlantischen Bekenntnis. Dazu stehe ich.

Einiges Europa versus geeintes Europa

Bleibt, Dir Deine Frage nach einer Lösung des Problems des Rentenbetrugs an Euch zu beantworten. Du läßt einen gewissen Fatalismus bei Dir und Deinen Kollegen erkennen. Das verstehe ich. Aber Politik ist hart. Man darf die Hoffnung nie aufgeben – siehe Wiedervereinigung oder europäische Einigung. Natürlich bin ich nicht so blind, zu erkennen, daß uns die Zeit davonläuft. Die, die jetzt kämpfen, werden jedes Jahr weniger. Trotzdem lohnt es sich weiterzukämpfen. Ich will mitmachen, soweit es geht. Aber sowohl in Bayern als auch im Bund sollten wir die Regierungsbildungen abwarten.

Bei dem Stichwort „Europäische Einigung“ fällt mir noch ´was ein. Ich gehörte zur Generation der „Jungen Europäischen Föderalisten“, die an den Grenzen Deutschlands zu den westeuropäischen Nachbarstaaten immer wieder für die Überwindung dieser Grenzen kämpften. Wir wollten ein einiges Europa ohne Grenzzäune und Kontrollen, aber unter Wahrung der nationalen Identitäten, eine einiges Europa und kein Einheitseuropa. Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis das – zumindest im Wesentlichen – Wirklichkeit wurde. (Für meinen Einsatz für die europäische Verständigung erhielt ich 1978 aus den Händen des späteren EU-Kommissionspräsidenten Gaston Thorn den „Pour le Mérite Européen“ – will heißen: Es lohnt sich, mit langem Atem zu kämpfen.)

Lieber Hans, vielleicht kannst Du eines von mir übernehmen: Politik ist Kampf oder, wie Max Weber sagt, „das Bohren dicker Bretter“. Das ist kein Trost, aber ich wäre ein Hundsfott, wenn ich Dir eine schnelle Lösung versprechen würde. Fatalismus wirft Euch zurück. Übernimm bitte ein wenig von meinem unbegrenzten Optimismus, der mich auch immer wieder dazu verführt, Dir zuzuhören. Die Gerechtigkeit wird siegen!

Mit sehr herzlichen Grüßen

Dein Peter Helmes

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