Analyse und Schnell-Kommentar zur Volksabstimmung in Schottland
Von Peter Helmes
Vier Millionen Schotten, genauer: 4 285 323 Wahlberechtigte, waren gestern, 18. September 2014, aufgerufen, über die Loslösung ihres Landes aus dem UK-Verbund (UK = United Kingdom, der offizielle Begriff für Großbritannien) abzustimmen. Die Wahlbeteiligung war, wie erwartet, sehr hoch. Sie lag deutlich über 80 Prozent (bei Abfassung dieser Analyse, 7 Uhr, wurde sie auf 84 Prozent geschätzt). Die Abstimmungsfrage lautete schlicht: „Sollte Schottland ein unabhängiges Land werden?“ Man konnte nur mit „Ja“ oder „Nein“ abstimmen.
Der Ausgang des Referendums war, wie erwartet, knapp: Rund 54 Prozent der Abstimmungsteilnehmer stimmten mit Nein, rund 46 % mit Ja (Stand: Erste verläßliche Hochrechnungen um 8 Uhr). Ein Ja hätte empfindliche Konsequenzen für Schottland selbst, für Großbritannien, die EU und viele Staaten in der Welt ausgelöst. Ein unabhängiges Schottland (rd. fünf Millionen Einwohner) müßte um die (Wieder-)Aufnahme in die EU und die NATO kämpfen und sich wahrscheinlich vom britischen Pfund trennen, weil die Tories (Conservatives) sowie die Liberaldemokraten in London eine dann zur Debatte stehende Währungsunion brüsk ablehnen.
Wie kam es zu der Entfremdung zwischen Old-England und den Schotten nach 307 Jahren unfreiwilliger Ehe? Schon der Ursprung deckt die tiefen Risse auf, die sich in die schottische Seele eingegraben haben. Die Schotten spüren auch heute noch ihre keltischen Wurzeln, obwohl die Kelten im ersten Jahrhundert n. Chr. verschwanden – von den Römern regelrecht ausgerottet. Im schottischen Nationalbewußtsein leben sie aber fort und sind in vielen Sagen und Märchen noch immer lebendig. Hinzu kommt der sprachliche und konfessionelle Unterschied: Schotten sprechen schottisch und sind mehrheitlich katholisch. Wir alle kennen die Geschichte von Maria Stuart.
Das „perfide Albion“ und die schottische Nation
Durch viele Täuschungen der Engländer, die die von ihnen beherrschten Nationen hinnehmen mußten, entstand das Etikett vom „perfiden Albion“ – ein Sammelbegriff für die englischen Gemeinheiten im In- und Ausland. Wichtig auch das schottische Nationalgefühl: Schotten betrachten Schottland als eine Nation – und eben nicht Großbritannien, das ihnen immer fremd blieb. Folgerichtig und selbstbewußt sagt Alex Salmonds, Schottlands „Premierminister“: „Nationen regieren sich besser selbst!“
Schotten fühlen sich seit je im Vereinigten Königreich nicht ihrer Bedeutung entsprechend respektiert. Nach dem Pro-Kopf-BIP (Bruttoinlandsprodukt) läge Schottland, separat von Großbritannien, auf Platz drei in der EU. Sehr stolz sind die Schotten auch auf ihre industrielle Entwicklung. Das Land war die Wiege der „industriellen Revolution“. Hier entstand faktisch die moderne Welt – die Wiege der industriellen Neuzeit.
Das Establishment aus London gilt als abgehoben, elitär und unglaubwürdig. Die Schotten hingegen fühlen sich stark, mutig und frisch – eben die lebende Alternative zu den verhaßten und saturierten Engländern. Anerkennenswert ist, daß während der gesamten Kampagne um das Referendum dennoch der Ton weitgehend sachlich blieb und die Debatten auf hohem Niveau geführt wurden.
Bremsklotz „Conservatives“
Schottland und die konservative Partei in England (The Conservatives) – das ist seit Jahrhunderten eine heikle Beziehung. Die Unbeliebtheit der Tories (Conservatives) wurde letztlich noch durch Maggie Thatcher befördert und gestärkt. Ihre Politik zerstörte die schottische Schwerindustrie, und sie zögerte nicht, ihre Abneigung gegen die Schotten offen zu demonstrieren – so wie sie dies auch gegenüber den Deutschen tat.
Noch schlimmer sind die Folgen für die Labour-Partei. Im alten England haben sie kaum Chancen, dort dominieren traditionell die Conservatives. Um nationweit zu bestehen, benötigten sie also die Stimmen der traditionell links wählenden Schotten. Ohne diese schottischen Stimmen wäre die Mehrheit im Unterhaus eine sichere konservative Bank.
Anders ausgedrückt: Um je wieder einmal einen sozialistischen Ministerpräsidenten zu stellen, ist Labour auf die schottischen, traditionell linken Stimmen angewiesen. Oder noch deutlicher: Die Schotten schickten seit 1945 zwar immer wieder mehrheitlich Labour-Abgeordnete nach London. Doch fast immer sahen sie sich einer konservativen Regierung gegenüber – faktisch eine „Kriegserklärung“ an die Schotten. Denn das Klima zwischen Schotten und Konservativen – ohnehin ein schwieriges Verhältnis – ist seit den Zeiten Margret Thatchers selig belastet. Daß der derzeitige britische Ministerpräsident, David Comeron, ebenfalls ein Tory ist, machte das Werben um den Fortbestand U. K.´s nicht einfacher. Denn klar: Ohne die Schotten wäre Rest-Großbritannien (England, Wales, Nordirland) fest in konservativen Händen.
Folgen der internationalen Finanzkrise
England hat – besonders in den letzten Jahren – an Beliebtheit und Einfluß auf die Menschen in Schottland verloren. Die wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise, allen voran die hohe Jugendarbeitslosigkeit und das sinkende Realeinkommen, sind überdeutlich zu spüren. Die Separatisten nutzten die unzufriedene Stimmung und machten Front gegen „die Zentralisten“ in London. Auch der Umgang mit dem Thema Kernkraft spielt eine wichtige Rolle. Schottland ist europaweit führend in der Nutzung der grünen Energien und Technologien. England jedoch setzt auf Atomenergie.
Was auf dem Spiel steht – die Brennpunkte der (auch später) möglichen Sezession
Das beste Argument für ein ‘Nein’ zu einer Unabhängigkeit war (und bleibt) die Wirtschaft. Besonders schwer wiegt die Warnung, daß ein selbständiges Schottland die Währung, das Pfund, aufgeben müßte. Die Folge wären hohe Zinsausgaben für den neuen Staat – damit würde Geld für die angekündigten Sozialleistungen fehlen. Nun aber werden Großbritannien und Schottland mit den Wunden leben müssen, die die Kampagne geschlagen hat. Gemeinsame Probleme müssen auch in Zukunft gemeinsam gelöst werden.
Schottland kann sich zweifellos zu einem wohlhabenden und gut funktionierenden Land entwickeln – allerdings erst in vielen Jahren. Allerdings würde die Welt den Unabhängigkeitsprozess nicht gutheißen. Die Möglichkeit, einen neuen Staat anzuerkennen, lehnen die wichtigsten Mitglieder des britischen Commonwealth ab, darunter Kanada, Australien und Indien. Auch die USA und die wichtigsten Länder der EU wollen das nicht: Spanien ebensowenig wie Deutschland, Italien oder Belgien. Man fürchtet sich vor einem gefährlichen Präzedenzfall.
Fehlende Souveränität
Die Entscheidung in Schottland gilt auch als Lackmustest für Europa: Seit Jahrzehnten wird in der Europäischen Union nichts anderes praktiziert als eine Aushöhlung der nationalen Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten. Sie dürfen keine neuen Zollschranken einführen, ihre eigenen Haushaltsdefizite nicht mehr selbst bestimmen und noch vieles mehr. Die Zersplitterung der Mitgliedsstaaten einerseits und der Ruf nach mehr Rechten und Autonomie für neue Mitgliedsländer andererseits widerspricht der europäischen Dynamik. Beides zusammen geht nicht. Ein schottisches Ja, das auch in anderen Ländern nationalen bzw. nationalistischen Strömungen Aufwind hätte geben können, würde eine Ablehnung des politischen Systems an sich bedeuten.
Reich und groß genug
Allerdings: Schottland ist eben keine unterprivilegierte Region Großbritanniens, wie die Schotten gerne behaupten. Nach Greater London – der Hauptstadt mit ihrem Speckgürtel – ist das Land der reichste Teil des Vereinigten Königreichs. Die Staatsausgaben sind wegen der üppig gewachsenen Sozialausgaben pro Kopf höher als im Landesdurchschnitt. Schottland leistet sich eine komfortable sozialpolitische Versorgung.
Daß Schottland reich (und groß) genug ist, auch als separater Staat zu bestehen, kann nicht bezweifelt werden. Natürlich würde im Falle einer errungenen Selbstädnigkeit eine Phase wirtschaftlicher Unsicherheit eintreten, die erst einmal einen Knick in der wirtschaftlichen Entwicklung verursachen wird. Auf lange Sicht gesehen, würde sich wohl der Lebensstandard der dann separaten Schotten nicht verschlechtern. Und genau mit diesem Argument warben die Separatisten – allerdings vergeblich.
Fachleute, vor allem Volkswirte, erwarten, daß die politische Klasse den Ausgang des Referendums respektieren wird. Damit wäre eine gewisse Stabilität gewährleistet.
Nun, nach dem Abstimmungsergebnis zum Verbleib im UK-Verbund, könnten die Schotten in zehn oder fünfzehn Jahren eine erneute Volksabstimmung starten. Das dürfte schon heute erwartbare fatale Auswirkungen auf die investitionswillige Wirtschaft in Great Britain zeitigen. Niemand investiert langfristig, wenn die Zukunft nicht abzusehen ist, zumindest im Bereich der Wirtschaft – eine ökonomische Binsenweisheit. Firmen, besonders große, hassen Unsicherheit. Der Abzug von Schottland nach London ist also vorhersehbar.
Nichts wird mehr so sein wie vorher: Innere Spaltung droht
Eines ist gewiß: Nichts wird nach der Abstimmung mehr sein wie zuvor. Hätte eine Mehrheit für die Unabhängigkeit gestimmt, weil vermeintlich nur so die nationale Identität gewahrt werden könne, dann würden politische, soziale, wirtschaftliche und militärische Bande gekappt, denen Britannien noch heute Stärke, Einfluß und Attraktivität verdankt. Es hat sich aber wohl eine Mehrheit gegen den Sprung ins kalte, unerforschte Wasser der Unabhängigkeit ergeben, aber das Feuer der Leidenschaft – und des Zorns – wird weiterglimmen.
Egal ob Ja oder Nein – die Unabhängigkeitsfrage treibt einen Keil in die schottische Gesellschaft. Und die Kluft zwischen Sezessionisten und Unionisten wird sich nicht morgen schließen. Eine innere Spaltung Schottlands könnte zum bleibenden Erbe werden. Bei Referenden ist das ein typisches Problem: Sie suggerieren eine Einfachheit und Endgültigkeit, die es im wahren Leben nicht gibt.
Aber die Gräben innerhalb Schottlands werden wohl nicht zugeschüttet werden, auch wenn das Ergebnis feststeht. Diese Spannungen gehören dazu – aber sie kommen hauptsächlich aus dem Lager von Schottlands Regierungschef Salmond, auch wenn der unbekümmert das Gegenteil behauptet. Salmonds Nationalismus hat Schottland eine innere Spaltung aufgezwungen. Es brechen schwierige Zeiten an. Das geben selbst die Referendums-Befürworter zu.
Nervenflattern in der EU-Zentrale
Ein Zerfall Großbritanniens hätte Auswirkungen auf ganz Europa. Das Parlament in Edinburgh müßte sich formal neu um eine Mitgliedschaft in der EU bewerben, während der Rest Großbritanniens automatisch Teil der Gemeinschaft bliebe. In Brüssel fürchtet man allerdings weniger solche Neuverhandlungen als vielmehr eine Art Dominoeffekt an anderen Stellen in der EU: Auch in Flandern und Nordirland, in Katalonien und dem Baskenland usw. gibt es Autonomiebestrebungen. Daran wird das Nein in Schottland nichts ändern, sondern eher, im Gegenteil, zu einer Art Trotzreaktion führen: „Jetzt erst recht!“ Was passiert, wenn das Beispiel Schottland überall Schule macht? Den Eurokraten in Brüssel dürften jetzt und in naher Zukunft die Nerven flattern angesichts der wachsenden Unruhe innerhalb der EU. Von festgefügter Struktur und Verläßlichkeit dürfte vorerst wohl nicht ausgegangen werden. Schottland reißt alle mit, die Dezentralisierungsbewegungen in ihren Ländern verzeichnen.
Der Ruf nach Unabhängigkeit
Die Ja-Kampagne mit ihrem überbordenden Optimismus hat bei vielen die Sehnsucht nach einem besseren, stärkeren und gerechteren Land geweckt. Die Befürworter sind allerdings nicht die einzigen, die den Wandel hin zu einer solchen Gesellschaft vorantreiben wollten. Die Frage ist, ob diese Vision eher als Teil Großbritanniens oder als unabhängiger Staat gelingen kann. Der Ruf nach Unabhängigkeit ist mehr als verständlich. Aber Sehnsucht, Beteuerungen und der Glaube an die Vorteile einer Unabhängigkeit sind nicht genug. Eine so weitreichende und unwiderrufliche Entscheidung verlangt nach einer realistischen Bestandsaufnahme der Risiken und Probleme, die damit einhergehen würden. Die Vorteile einer Abspaltung sind nicht zweifelsfrei nachgewiesen.
Auswirkungen bis hin zu den Falkland-Inseln
Interessant ist auch eine – gewiß weit hergeholte – Perspektive: Das Streben nach Unabhängigkeit in Katalonien etc. wie auch in Schottland ist nicht neu, aber Europa und seine Institutionen werden dadurch vor eine große Herausforderung gestellt. Auch für Argentinien z. B. ist das Vorgehen der britischen Regierung gegenüber Schottland deshalb interessant, weil die Argentinier dadurch Erkenntnisse über ihre Verhandlungspartner beim Streit um die Falkland-Inseln gewinnen. Immerhin hat der britische Premier Cameron die schottischen Befürworter einer Unabhängigkeit und die Geschichte und die Traditionen Schottlands nicht gekränkt, sondern einen Dialog gesucht. Der argentinische Fall mag anders liegen, dennoch bietet sich auch hier die Gelegenheit, verlorenes Territorium zurückzugewinnen – und zwar auf dem Verhandlungsweg.
So wie die Schotten und Engländer der Welt schon durch das Unabhängigkeitsreferendum ein beeindruckendes Beispiel dafür gegeben haben, daß man, anders als auf der Krim, mit dem demokratischen Selbstbestimmungsrecht der Völker auch zivilisiert und konsensual umgehen kann, so könnte dies eine Blaupause für Sezessionisten in anderen Ländern sein.
Aber es ist fatal: Die Befürworter einer Abspaltung führten historische Argumente ins Feld und stellten sich als Nationen dar, die von einem Zentralstaat unterjocht werden – und beide glauben, wirtschaftlich alleine, nur auf sich gestellt, besser dazustehen. Es entsteht eine absurde Situation. Gewänne die Ja-Seite, hätte dies unabsehbare Folgen für die ganze EU. Aber auch jetzt, da die Nein-Seite gewonnen hat, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Funke des Separatismus auch auf andere Länder überspringt. Ob das allerdings schlecht – oder gut – für Europa ist, darf nicht voreilig entschieden werden. Mehr Selbständigkeit für die Nationalstaaten wird gewiß kein Schaden sein. Man kann auch seine Identität bewahren und trotzdem Teil eines Ganzen sein – siehe USA oder auch Deutschland (mit seinem starken, selbstbewußten Bayern).
Eine schwierige Situation: Ein gespaltenes Land, dessen Bürger die Separation wollen – dessen Wirtschaft aber mit großer Mehrheit nicht. Es bleiben nämlich entscheidende Fragen für die ökonomische Zukunft des Landes offen:
- Was ist mit dem englischen Pfund bzw. dem Euro?
- Was ist mit der Mitgliedschaft in der EU?
- Was ist mit den britischen (!) Staatsschulden? Wie würden sie nach einer Trennung aufgeteilt?
- Was ist mit den Banken, die angekündigt haben, im Falle eines „Ja“ (zur Trennung) ihren Sitz nach London zu verlegen, wie z. B. die Royal Bank of Scotland und die Lloyds Bank oder der bedeutende Versicherer Standard Life? Der rapide Aufschwung des Landes würde empfindlich abgebremst, befürchten die Ökonomen.
- Was ist mit den Öl-Einnahmen, wenn die Ölkonzerne ähnlich reagieren wie die Banken?
- Wie soll man Investoren überzeugen, in einem politisch unsicheren Umfeld weiter zu investieren? (Viele haben gedroht, ihr Geld nach London zu verlagern.)
Es bleiben besonders in der Wirtschaftspolitik große Fragen
- Die Fragen der zukünftigen Währung waren ungeklärt. Schottlands Premier Salmond wollte zwar das Pfund behalten. London hatte hingegen eindeutig erklärt, daß die Schotten mit einem Ja im Referendum auch auf die bisherige Währung, das Pfund, verzichten müßten.
- Wegen der Ungewißheit der ferneren Zukunft des Landes – werden die Sezessionsbestrebungen weiter am Kochen gehalten? – könnten Investoren und Bankkunden ihr Geld von Schottland abziehen und in London bzw. im Ausland parken. Ein Zusammenbruch des schottischen Finanzsystems könnte die Folge sein.
- Ein Austritt Schottlands aus UK hätte zur Folge, daß das kleine Land (zunächst) nicht mehr Mitglied der EU wäre. Es würde den ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt verlieren. Große Handelsnachteile wären die Folge. Ein Wiedereintritt in die EU wäre sehr schwierig, da alle EU-Mitgliedsstaaten zustimmen müßten. Zumindest im Falle Spaniens ist dies aber sehr fraglich.
RUK – das neue Rumpf-Great Britain
Die britische Union, eben Großbritannien bzw. das „Vereinigte Königreich“ (UK), wurde vor mehr als 300 Jahren geschlossen und war der Grundstein für den Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht, in dem „die Sonne niemals untergeht“. Schotten spielten auf dem Weg dahin zwar eine herausragende Rolle. Aber das war gestern. Heute wollen die Schotten ihren eigenen Weg gehen. Ergebnis: Ein Rumpf-UK, ein „RUK“. Das alte Großbritannien gäbe es nicht mehr. Die Folge: „RUK“ fiele wirtschaftlich, politisch und militärisch im europäischen und internationalen Vergleich um etliche Stufen zurück. Ob der Platz als „Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat“ zu halten wäre, steht in den Sternen. Und ob die englische Sprache weiterhin als politische „Lingua franca“ in Europa Bestand hätte, darf füglich bezweifelt werden (wirtschaftlich wird sie es gewiß bleiben, da zu sehr in die wirtschaftlichen Realitäten verflochten).
„Europa den Regionen!“
Das hätte auch Folgen für den Kontext in der EU. „RUK“ würde gewiß nicht mehr zu den „Großen Vier“ in der EU gezählt und fiele hinter (z. B.) Italien zurück. Und das „alte“ England, London, könnte nicht mehr mit dem Anspruch auftreten, Weltmacht zu sein. Aus Sicht der EU wiederum fiele das europhile Schottland weg, und die euroskeptischen Rest-Briten dürften wohl recht ungnädig mit der EU umgehen – ein Austritt Englands aus der EU wäre zumindest nicht mehr unwahrscheinlich. Die für 2017 geplante Volksabstimmung wirft schon jetzt ihre Schatten voraus. Die Austritts-Bemühungen erhielten dadurch Auftrieb, daß nach einer Separation der Schotten die Restbriten unter konservativer Herrschaft wohl ein klares Nein zur EU wählen könnten. Ein pro-europäisches Labour-Gegengewicht wäre, da nur in Schottland von Bedeutung, nicht mehr vorhanden.
Das „Virus federalis“
Doch größeren Einfluß als bisher dürfte die „United Independent Party“ (UKIP) von Mr. Nigel Farage erringen, der die Konservativen eher zu einem noch europakritischeren Kurs zwingen will. Es könnte also durchaus sein, daß sich auch in „RUK“ ein Drang zu stärkerer Unabhängigkeit breitmacht und damit eine Loslösung von der EU befördert. Diese Tendenz darf man jetzt schon festhalten, unabhängig vom Ausgang des Referendums in Schottland: „Europa den Regionen – gegen den Zentralstaat“, ist die Botschaft der Schotten!
Ein stärkerer Drang zu mehr Föderalisierung ergibt sich schon jetzt, just als Ergebnis des Referendums. Die Abstimmung in Schottland hat – unabhängig von ihrem Ergebnis – ein neues Virus kreiert: das „Virus federalis“, der Drang nach Unabhängigkeit von einem Zentralstaat. Es wird spannend werden zuzusehen, wie die einzelnen nationalstaatlichen Regierungen im EU-Europa darauf reagieren werden.
Großbritanniens Rolle und Bedeutung in der EU wäre nicht mehr dieselbe
Seine Führungsrolle, die es bisher beanspruchte, wäre perdu. Die US-Amerikaner z. B. müßten überprüfen, inwieweit die Tommys noch ein ernstzunehmender Partner sein könnten. Verschiebt sich die transatlantische Achse wieder nach Berlin und Paris – weil nur dort noch leistungsstarke Verbündete sitzen? Und wären diese Partner überhaupt bereit, eine weltpolitisch relevante Rolle auszufüllen? Man darf zweifeln.
Unkontrollierbare Gesamtwirkung auf die EU-Mitgliedsstaaten: Mehr nationale Souveränität oder mehr europäischer Zentralstaat.
Wie schon mehrfach angedeutet, hätte ein positives Abstimmungsergebnis („JA“ zur Trennung von UK) Auswirkungen auf nahezu alle EU-Mitgliedstaaten gezeitigt. Der gebotenen Kürze halber hier nur die wichtigsten Brennpunkte (Quelle: Die Welt):
Spanien: Die Katalanen sind die Nächsten, auf die sich Europas Augen richten werden, wenn sie am 9. November über ihre Unabhängigkeit abstimmen werden. In Madrid ist man darüber nicht begeistert. Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy drohte den Schotten – und damit auch den heimischen Katalanen, Basken oder Andalusiern – an, ihre Wiedereingliederung in die EU zu erschweren. Hunderttausende Katalanen haben eine Abstimmung über die Unabhängigkeit der nordspanischen Region gefordert. Das Referendum in Schottland gibt ihnen Aufwind (Quelle: Reuters).
Die Ur-Separatisten im Baskenland
Eigentlich waren nicht die Katalanen, sondern die Basken die ersten Spanier, die einen eigenen Staat forderten. Schon Ende der 50er-Jahre entstand die Separatistenorganisation Eta, als Reaktion auf die Franco-Diktatur, die das Nationalgefühl der Basken und ihre Sprache unterdrückte. In den 70er- Jahren kämpfte die Eta dann mit brutaler Gewalt und Terror für ein unabhängiges Baskenland, das auch die Region Navarra und Teile Frankreichs einschließen sollte.
Die Bombenanschläge der Eta forderten mehr als 800 Menschenleben. Im Oktober 2011 legte die Eta die Waffen nieder. Doch der Wunsch nach einem eigenen Staat ist nicht erloschen, im Gegenteil. Einer Umfrage vom Juni 2014 zufolge würden 59 Prozent der Basken ein Referendum über die Unabhängigkeit begrüßen, allerdings nur dann, wenn das nicht automatisch den Ausschluß aus der EU bedeutete.
Siebenbürgens Ungarn feuern Schottland an
Auch sie könnten vom Virus federalis angesteckt werden: Tausende Ungarn, viele davon aus Siebenbürgen, leben in Schottland, und die meisten von ihnen sind wahlberechtigt. Auch der Fidesz-Abgeordnete im Europaparlament, György Schöpflin, der in Glasgow studierte und gut 50 Jahre in Großbritannien lebte und lehrte, drückt dem Ja-Lager die Daumen. Im rumänischen Siebenbürgen veranstalteten national gesinnte Parteien der ungarischen Minderheit Solidaritätskundgebungen für die schottische Unabhängigkeit. Auch auf Twitter wurde Stimmung gemacht mit Tweets wie diesem von Attila László: Eure Entscheidung ist unsere Zukunft!
Bei alldem geht es um das jahrzehntealte Bemühen der ungarischen Minderheit, “Autonomie” für eine kompakt von Ungarn bewohnte Region namens “Szeklerland” in Rumänien zu erringen. Von Rumänien selbst will man sich freilich nicht abtrennen. Im ungarischen Mutterland ist das Interesse vergleichbar groß, denn dort unterstützen alle politischen Parteien links und rechts das Autonomiebestreben der Minderheit im Nachbarland.
Die Bayern – aus Freude an der Provokation
Daß sie als „widerspenstiges Bergvolk“ einen Hang zum Separatismus haben, gehört zu den sorgsam gepflegten Vorurteilen der Bayern über sich selbst. Für jeden verkappten Anarchisten (für die sich die Bayern auch halten) ist es einfach eine Freude, gegen jede Form von zentralstaatlicher Obrigkeit zu stänkern. Deshalb fühlen die Bayern auch eine Seelenverwandtschaft mit den Schotten. Dort dominieren die Engländer, hier die Preußen. Neue Nahrung erhielt dieser folkloristisch-mentale Ausgleich zu den Mühen der Globalisierung vor zwei Jahren mit einer Streitschrift von Wilfried Scharnagl: “Bayern kann es auch allein – Plädoyer für den eigenen Staat”, hieß das schmale Büchlein, das der ehemalige Chefredakteur des “Bayernkurier” und Strauß-Intimus 2012 rechtzeitig zum Landtagswahlkampf der CSU veröffentlichte.
Es sei Zeit, sich zu wehren, “Zeit für das große bayerische Aufbegehren”; denn Bayerns Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit sei bedroht. Damals, in außenpolitisch vergleichsweise ruhigen Zeiten, standen die EU und der Euro gerade weniger hoch im Kurs. Der wortgewaltige Scharnagl rauschte durch alle Talkshows und empfahl nebenbei die Schotten als Vorbild. Im Freistaat nahm man es amüsiert zur Kenntnis, wohl wissend, daß die Prosperität des Landes sehr viel mit der bundesweiten Verflechtung und dem Internationalismus der heimischen Wirtschaft zu tun hat. Aber träumen vom freien Staat Bayern wird man noch dürfen. Das gehört auch zur Widersprüchlichkeit der Bayern, die der bayerische Schriftsteller Oskar Maria Graf treffend beschrieb: “Nacha mach ma halt a Revolution, damit a Ruah is!”
Norditalien und Padanien
Das schottische Referendum ist auch für die italienische Partei Lega Nord ein Anlaß, die alten Parolen für die Unabhängigkeit des italienischen Nordens hervorzukramen. Die rechtskonservative Partei, die unter ihrem Anführer Umberto Bossi zu nationaler Bedeutung gelangte, kehrt zu ihrem Ursprung zurück. Am Wochenende (13./14. Sept.) lud sie in das bergige Ausflugsgebiet des Pian della Regina in der Nähe der französischen Grenze. Anno 1996 eröffnete sie von hier oben in 1700 Meter Höhe aus den Kampf gegen den Zentralstaat in Rom. Anno 2014 ist Schottland die große Inspiration.
Die Schlacht für die Unabhängigkeit sei wieder aktuell, sagte Lega-Nord-Parteichef Matteo Salvini. Das sei eine Wette, vor der die Lega Nord nie zurückschrecken werde. “In Schottland dürfen die Bürger wählen. In Italien heißt es, das sei nicht möglich”, sagte Salvini. Partei-Urgestein Bossi nutzt die Gelegenheit, um über Premier Cameron zu spotten: “Ihm ist die schottische Fahne auf den Kopf gefallen”, sagte er. Für Königin Elisabeth findet er indes nette Worte. Sie habe sich nicht eingemischt und sich auf die Aussage beschränkt, den Willen des Volkes zu achten. “Sie ist schlau gewesen.”
Die Gegner verortet die Lega Nord in Rom und Brüssel. Sie macht die Regierung in Rom für hohe Steuern und Abgaben verantwortlich. Zudem spricht sie sich für den Austritt Italiens aus der Euro-Zone aus. Gegen Rom und Brüssel könne man nur gewinnen, wenn sich Regionen wie Piemont und Venetien zusammenschließen würden, sagte Salvini. „Padanien“, wie das neue norditalienische Land (einschließlich der Emilia Romagna und der Metropole Milano) heißen sollte, ist es leid, Jahr für Jahr Milliarden für Milliarden in ein Faß ohne Boden namens Mezzogiorno (Neapel, Sizilien etc.) zu stopfen und damit vor allem die mafiosen Strukturen im Süden des italienische Stiefels zu finanzieren.
Im Zuge einer nicht enden wollenden Wirtschaftskrise wird der Ruf nach Unabhängigkeit in Italien lauter. Besonders stark ausgeprägt sind die Bestrebungen in Venetien (Venedig). Im Frühjahr initiierten Bürger ein in den Medien viel beachtetes Online-Referendum. Es hat allerdings keinerlei praktische Auswirkung. Auch die Teilnehmerzahl sowie das Abstimmungsergebnis sind umstritten. Das Wettern gegen Rom und Brüssel beschert der Lega Nord zumindest einen Stimmenzuwachs. Laut dem Wahlforschungsinstitut Piepoli kommt die rechtskonservative Partei aktuell auf sieben Prozent der Stimmen. Damit ist sie hinter Forza Italia, der Partei von Ex-Premier Silvio Berlusconi, die zweitstärkste Kraft im Mitte-rechts-Lager. Lega-Nord-Frontmann Salvini, der sich als legitimer Nachfolger Bossis inszeniert, ist bei den Italienern beliebt. Mit einer Zustimmungsquote von 19 Prozent schneidet er laut den Wahlforschern von Ixè besser ab als „Fünf-Sterne“-Anführer Beppe Grillo und Berlusconi. Dennoch liegt er weit hinter Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi, der auf eine Quote von 49 Prozent kommt.
Südtirol – kein Dauer-Goldesel für Rom
Auch in Südtirol schaut man gespannt auf die britische Insel. Die Spannungen zwischen Südtirol und Rom haben sich während der Finanzkrise verschärft. Um Löcher im klammen Haushalt zu stopfen, zieht Italien den Südtirolern Millionen aus der Steuerkasse. Außerdem plant Italiens Premier, den Regionen im Zuge einer Verfassungsreform Kompetenzen zu nehmen. Am lautesten für ein unabhängiges Südtirol treten seit Jahren die „Freiheitlichen“ ein. Pius Leitner, Fraktionsvorsitzender der Freiheitlichen im Parlament in Bozen, ist davon überzeugt, daß das Votum der Schotten ganz Europa verändern wird – ganz gleich, wie es ausgehen wird. „So wie Schottland über seine Unabhängigkeit abstimmen darf, soll dieses Recht auch den Südtirolern zugebilligt werden.“ Für einen Freistaat Südtirol lohne es sich zu kämpfen, sagte Leitner.
„Europa ist in Bewegung, und Südtirol sollte sich auch in Bewegung setzen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Für Südtirol kommt dabei vor allem ein unabhängiger Freistaat infrage, den wir Freiheitlichen immer angesprochen und beworben haben.“ Südtirol sei ständigen “Belastungen” und “Angriffen” aus Rom ausgesetzt. „Langfristig führt nichts an einer politischen Lösung ohne Italien vorbei“, sagte Leitner. Mehrheitsfähig ist die Position der Freiheitlichen allerdings nicht. Das Sagen in Südtirol hat die Südtiroler Volkspartei (SVP). Sie stellt seit Jahrzehnten den Landeshauptmann, also den Regierungschef. Seit dem vergangenen Herbst ist das Arno Kompatscher. Die SVP weicht nicht von ihrer bisherigen Linie ab. Sie sieht die Zukunft Südtirols in der Autonomie, das heißt innerhalb Italiens. Die Strategie sei klar. “Evolution statt Revolution”, sagte Kompatscher.
Die Bretonen – Verachtung für den reaktionären Nationalstaat
Auf Separatistenbewegungen in Frankreich werde das schottische Abstimmungsergebnis keine Auswirkungen haben, glauben französische Medien und Intellektuelle. Denn die Idee der Republik und die gemeinsame Geschichte schweiße die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Zentralstaats zusammen. Wenn sie sich da nicht mal täuschen, wie ein Blick zu den Bretonen zeigt!
Frankreich minimiere bewußt die Auswirkungen des schottischen Referendums, urteilt dagegen die bretonische Nachrichtenagentur Agence Bretagne Presse. Denn in der Bretagne wird die schottische Unabhängigkeitsbewegung genau verfolgt – und begrüßt. Bretonische Separatisten hofften, daß ein positiver Ausgang des Referendums auch anderen Bevölkerungsgruppen in Europa mehr Gehör verschafft hätte.
Ihnen geht es dagegen weniger um eine Abspaltung der Bretagne. So hofft Henri Gourmelen von der Union Démocratique Bretonne, daß das Referendum dem französischen Staat vor Augen führe, wie reaktionär er sei. Frankreich könnte endlich zugeben, daß die Unterschiede der einzelnen Bevölkerungsgruppen ein Vorteil seien, meint der Vorsitzende des Parti Breton, Yves Pelle. Darauf müsse die von Präsident François Hollande geplante Territorialreform abzielen.
Die Korsen – mit demselben Leitfaden wie die Schotten
Um die Anerkennung Korsikas als eigenständige Bevölkerungsgruppe in Europa geht es korsischen Politikern. “Wir sind nicht unbedingt für die Unabhängigkeit Korsikas”, sagt Gilles Simeoni. Der Bürgermeister von Bastia ist gemeinsam mit François Alfonsi, dem Vorsitzenden der European Free Alliance und Mitglied der korsischen Partei PNC (partitu di a Nazione Corsa), nach Edinburgh gereist, um die Unabhängigkeit Schottlands zu unterstützen. “Wir haben kein Öl, wir haben nicht dieselbe Demographie, aber wir haben denselben Leitfaden: das Eintreten für die lokalen Identitäten und die Forderung nach einer Politik, die den Völkern nähersteht”, erklärt Simeoni. “Ein kleines Volk wie das unsere muß auf europäischer Ebene anerkannt werden”, fordert er. Gleichzeitig kämpfe Korsika dafür, mehr Verantwortung zu erhalten. Es sei jedoch derzeit unvorstellbar, daß Korsika wie Schottland einen Premierminister wie Alex Salmond bekomme, auch wenn die korsischen Nationalisten sich immer stärker von der Gewalt lossagen würden. Alfonsi von der PNC ist jedoch überzeugt, daß das schottische Referendum einen historischen Prozess in Europa in Gang gesetzt hat.
Schottland – eine Abstimmung für die Zukunft Europas
Schottland hat nun abgestimmt. Es wird nun aber keine „Ruhe“ ins europäische Haus einkehren. Denn in Wirklichkeit handelte es sich um eine Abstimmung, die die Zukunft Europas prägen wird: Mehr nationale Souveränität oder mehr europäischer Zentralstaat. Der (britische) Wähler hat gesprochen – stellvertretend für alle Europäer! Auch wir müssen entscheiden, wohin wir wollen! Es wird nichts mehr so sein wie vorher. Das schottische Abstimmungsergebnis ist eine letzte Mahnung an die Zentralisten, zurück zu einem echten Föderalismus zu finden. Die Loslösungs- bzw. Unabhängigkeitsbestrebungen lassen sich nicht mehr aufhalten, weil der überbordende europäische Zentralismus und der „Moloch Brüssel“ zutiefst der menschlichen Natur widersprechen – dem Recht auf nationale, regionale und individuelle Entfaltung. Schon deshalb gebührt den Schotten der größte Dank aller selbstbewußten Nationen!
(Kenntnisstand 19.09.14, 7:30 Uhr, endgefertigt 8:00 Uhr)