Von Peter Helmes
Als Jakob, ein Junge von zwölf Jahren, zur Christmette ging, war er ganz zufrieden. Seine Mutter hatte wieder den herrlichen Kuchen gebacken, den Jakob so gerne aß. Zwei große Stücke durfte er sich heute nehmen; denn es war ja Weihnachten.
Besondere Geschenke gab es auch in diesem Jahr nicht. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters erhielt seine Mutter nur eine karge Witwenrente, die sie durch Zeitungsaustragen ein wenig aufbesserte, wobei ihr Jakob nach Kräften half. Viel war es nicht, was er tun konnte; denn er hatte ein schwaches Herz – ein Geburtsfehler. Aber Jakob war ein durch und durch zufriedener Junge ohne große Wünsche.
Aber der kleine Junge hatte große Träume. Als Meßdiener hatte er sich mit „Opa Karl“ angefreundet, dem Organisten unserer Pfarrkirche St. Peter und Paul. Ein eigenartiger Kauz mit einer Figur wie in den Zeichnungen von Wilhelm Busch: hager, mit spindeldürren Beinen und kleinen, auf den ersten Blick listigen Augen, in deren Winkeln sich aber auch eine Menge Humor verbarg. Aber vor allem war Opa Karl ein begnadeter Organist. Um die Hände warmzuhalten, trug er stets gestrickte Handschuhe, deren Fingerspitzen jedoch freiblieben, damit er, ohne sie auszuziehen, noch spielen konnte.
Jakob mochte diesen alten Kerl sehr, vor allem, weil er ihm beim Orgelspiel helfen durfte. Opa Karl hatte ihm beigebracht, wie man die Noten verfolgt und punktgenau die Seiten eines Notenheftes umblättert, so daß der Organist flüssig weiterspielen konnte. So entwickelte sich Jakobs größter Traum, Orgelspieler werden zu können. Er hätte es zwar nie werden können, da seine linke Hand ein wenig steif geblieben war, aber das kümmerte ihn nicht sonderlich.
In unserer Pfarrkirche stand eine außergewöhnlich große Orgel, die in dem neugotischen Bauwerk mit den vielen Ecken und Winkeln sowie dem hohen Gewölbe einen wunderbaren Klang erzeugte. Drei Manuale, ein 30-Trittepedal, rund 200 Register und fast fünftausend Labial- und Lingualpfeifen! Eine solch´ gewaltige Orgel gab es weit und breit nicht mehr. Und in dieser Kirche einmal die Orgel schlagen zu dürfen – diese Vorstellung verzückte unseren kleinen Jakob. Mit der Zeit lernte er sie alle kennen: Händel, Bach, Mendelsson-Bartholdy, César Franck und Max Reger, die Lieblingskomponisten Opa Karls. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sei erwähnt, daß Opa Karl nicht immer werkgetreu spielte. Er erlaubte sich manchen „Seitensprung“.
Er liebe, erklärte er Jakob, „ad libitum“ zu spielen, was nichts anderes bedeutete, als seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Da kam es dann auch ´mal vor, daß er während einer Hochzeit zwar ein feierliches Orgelstück von Händel oder Bach zum Besten gab, aber mittendrin „ein Vogel wollte Hochzeit machen“ einflocht und das „Tidirallala, tidirallala“ ganz zart in Oboen- und Clarinettentönen anklingen ließ. Typisch für den Alten! Dafür auch mochte ihn Jakob so sehr.
Jakob war fasziniert vom Orgelspiel. Wenn er nicht gerade die Noten verfolgte, schaute er zu, wie Opa Karl spielte. Er mußte staunen und ab und zu auch lächeln, wenn er sah, wie Opa Karl seine dürren Beine auf die Pedale setzte oder wie er scheinbar spielerisch von einem Manual zum anderen wechselte und sozusagen im Handumdrehen flink ein paar neue Register zog oder ein paar Klappen schloß, ohne daß sein Spielfluß drunter litt. Eine Welt, in der Jakob allen Kummer vergessen konnte. „Musik“, hatte der alte Kauz ihm einmal erklärt, „Musik ist wie das Wasser, daß Kummer und Gram von der Seele spült.“
Warum mußte Jakob gerade heute an diesen Satz Opa Karls denken? In ihm war ein Plan gereift, den er heute, ja heute, in die Tat umsetzen wollte. Natürlich durfte er auch heute bei der Christmette wie üblich Opa Karl die Noten blättern, machte sich aber nach dem letzten Ton sofort davon, ging jedoch nicht nachhause, sondern versteckte sich in einem Winkel der Empore, sehr wohl darauf achtend, daß ihn niemand dabei sähe.
Gelungen! Opa Karl war weg und Jakob ganz allein in dem großen Gotteshaus. Jakob hatte alles durchdacht und vorbereitet, aber er war sehr aufgeregt. Sein Herz flatterte. Einmal Orgelspielen, einmal ein Konzert geben! Er hätte es seiner Mutter gewidmet.
Jakob setzte sich an die Orgel und schlug das Notenheft auf. Drei Stücke hatte er sich vorgenommen: Händels „Heldenstück“, César Francks „Panem angelicus“, das Opa Karl für die Orgel adaptiert hatte, und Max Regers „Inferno-Phantasie“. Als Zugabe sollte ein „Hallelujah!“ erklingen, von Opa Karl aus verschiedenen Musikstücken zusammengestellt.
Und Jakob spielte. Er vergaß die Welt um sich und spielte wie in Trance. Er zog die Register, je nach dem Klang, der ihm vorschwebte. Seine Finger eilten über die Manuale, seine Füße traten die Pedale, als wolle er die Beine verknoten. Er musizierte, als ob er nie etwas anderes getan hätte als Orgelspielen. Crescendo wechselte zum Decrescendo, ein Forte löste ein Pianissimo ab, ein Largo tauschte mit einem Andante.
Dann das „Panem angelicus“, ein feierliches Lied, wie zur Weihnacht gemacht. Jakob spielte es voller Hingabe, mit sehr weichen Tönen, deren Register er sich vorher ausgedacht hatte, mit vielen Geigen im Hintergrund. Er war selbst gerührt von der Feierlichkeit dieser Melodie, sein Herz wurde ganz weich. Dann aber das „Inferno“, in das Jakob alle seine Kraft legte. Und er rief ganz laut: „Gloria in excelsis Deo!“ und „Te Deum laudamus!“ Jakob schwebte. Er war glücklich. Er war Organist, endlich!
Ein letztes Hallelujah sollte es noch sein, ein Hallelujah, wie es in dieser Kirche noch nie erklungen war. Jakob hielt kurz inne, sammelte sich und atmete tief durch. Er zog alle Register, die Trompeten- und Posaunenklang erzeugten. Schließlich sollte die ganze Welt sein Orgelspiel hören. Deshalb drückte er auch den Schweller tief durch. Dann ertönte sein Hallelujah. Ihm war, als ob Engelschöre sein Spiel begleiteten. Hallelujah!
Am nächsten Morgen fand man Jakob tot auf der Empore. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Aber auf seinem Gesicht lag ein Strahlen voller Glück, ein Stück Seligkeit. Er hatte Gott gesehen. Hallelujah!
Besinnliche und gesegnete Weihnacht allen unseren Lesern!
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