Von Thomas Böhm
Der Mann war übel zugerichtet, musste mit Blaulicht ins Krankenhaus direkt auf die Intensivstation gebracht werden. Doch trotz mehrstündiger Notoperation war nichts mehr zu machen. Unzählige Messerstiche hatten zu hohem Blutverlust geführt, der Schädel war durch mehrere Fußtritte zertrümmert und die Haut an den meisten Stellen so verbrannt, dass keine Transplantation mehr sinnvoll war. Kurz: Die Ärzte gaben dem Mann noch höchstens eine Stunde. Auf dem Patientenblatt stand „David St., 32 Jahre, Student, wohnhaft in Berlin-Neukölln“. Die Polizei informierte die Angehörigen. Und die Presse.
Der Reporter verkleidete sich als Krankenschwester und schlich sich unbemerkt in das Zimmer des sterbenden Patienten, der nicht sprechen und auch nur die Finger seiner rechten Hand bewegen konnte. Der Reporter meinte, die Öffentlichkeit hätte noch vor der Staatsanwalt ein Recht, zu erfahren, wer denn als Täter in Frage käme. Also legte er dem Sterbenden ein Blatt Papier aufs Bett, drückte den Zeigefinger in ein Tintenfass und befahl ihm, den Täter mit ein paar Strichen wenigstens zu beschreiben.
Das Opfer malte einen Kreis. Nur fünf Minuten später war dieser Kreis online auf allen Medien verbreitet, denn irgendwie sah dieser Kreis aus wie ein Mann mit Glatze. Keine zwei Minuten später wurden die ersten Kommentare verfasst und O-Töne von Politikern veröffentlicht.
Von einer Schande für Deutschland war die Rede, von der rechten Gefahr, die das Land im Griff hätte und wenn die Demokraten sich jetzt nicht endlich wehrhaft zeigen würden, wäre auch die gesellschaftliche Mitte in Gefahr, von Neo-Nazis aufgefressen werden. Kübelweise wurden Begriffe wie „Rassismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Islamophobie“, und „Xenophobie“ auf die BÜRGERsteige geschüttet. LINKE, SPD und GRÜNE forderten ein Verbot sämtlicher Organisationen rechts von der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN, sowie ein Arbeitslager für alle Kahlgeschorenen und deren Barbiere, einen nationalen Trauertag, mindestens zwei Plätze in den Großstädten der Republik, die den Namen des armen Opfers tragen sollten und ein Mahnmal für alle „immer noch“, „schon wieder“ und „demnächst“ Verfolgten.
Doch dann malte der Sterbende im Bett noch einen Kreis. Einen kleinen Kreis unten in den großen Kreis, sodass man hätte meinen können, der Täter wäre ein Bartträger. Auch von dieser Zeichnung machte der Reporter schnell ein Foto und schickte es über sein Smartphone an die Medien, die natürlich mit einem gehörigen Mut zur Wahrheit das alte Bild gegen dieses neue austauschten. Das soziale Netz explodierte, gebar einen Shitstorm und jede Menge hirnverbrannte Verschwörungstheorien. Auf Twitter verwandelten sich Hashtags zu Hasstags, auf Facebook gründeten sich neue Solidarität-mit-allem-und-jedem-Gruppen im Sekundentakt.
Die SPD, die GRÜNEN und die LINKSPARTEI schlugen Kapital aus der schändlichen Tat, in dem sie der politischen Konkurrenz vorwarfen, Kapital aus der schändlichen Tat zu schlagen, doch alle waren sich darin einig, dass es sich hierbei lediglich um einen Einzeltäter handeln würde und die Bevölkerung jetzt dazu aufgerufen werden müsse, menschliche Schutzwälle vor Gotteshäusern zu bilden und kostenlos Impfstoff gegen die Schweinegrippe zu verteilen, um weitere Anschläge zu verhindern.
Inzwischen aber hatte das Opfer noch zwei weitere kleine Kreise oben in den großen Kreis gezeichnet und diesen mit zittrigem Zeigefinger schwarz gemalt, so dass der Täter jetzt aussah, als ob er eine schwarze Gesichtsmaske tragen würde. Da zerknüllte der Reporter das Blatt, warf es in den Papierkorb und verließ auf leisen Sohlen die Intensivstation. Das Opfer aber streckte noch einmal den Mittelfinger in die Höhe und segnete dann das Zeitliche.
*) Der Berufsjournalist Thomas Böhm ist Chefredakteur des Mediendienstes „Journalistenwatch“ und ständiger Kolumnist bei conservo