Von Peter Helmes
Die Armenier nicht vergessen – der 24. April ist der Jahrestag des GenozidsDerzeit rückt eine Region wieder in das Rampenlicht der Öffentlichkeit, von der wohl nur wenige wissen, wo es liegt und von welcher politischen und kulturellen Gefahr es bedroht ist. Berg-Karabach ist eine kleine Enklave (etwa so groß wie das Ruhrgebiet), die rundum von Aserbaidschan umgeben ist. Die Enklave wird aber heute hauptsächlich von Armeniern bewohnt, wie auch die sieben umliegenden Provinzen, die auf armenischem Boden liegen.
Konfliktanheizer Türkei Auf diesen Landstrich erheben die Armenier zu Recht Anspruch, Aserbaidschan aber auch. Kampf droht. Und in diesem Kampf spielt die Türkei die Rolle des Anheizers. Im Hintergrund lauert ein kultureller Konflikt: Berg-Karabach und die Armenier sind weit überwiegend christlich geprägt, Aserbaidschan hingegen islamisch.
Das weckt unwillkürlich Erinnerungen an den Genozid, den vor gut einhundert Jahren die Türken an den Armeniern verübt hatten – was die Türkei, allen voran Erdogan – zwar heftigst bestreitet, inzwischen jedoch von fast allen Historikern so gesehen wird. Dem Genozid fielen bis zu eineinhalb Millionen armenischer Christen zum Opfer. Und das ehemalige Deutsche Reich (unter Kaiser Wilhelm II) war daran nicht ganz unbeteiligt.
Die Türkei schleppt eine Altlast mit sich rum, die ihr so peinlich ist, daß sie aggressiv reagiert, wenn man daran auch nur tippt: das Armenien-Blutbad bzw. der Völkermord (1915). Die Verharmlosung dieses Genozids gehört zur Stammargumentation am Bosporus. Man dreht den Spieß um und spricht zynisch vom „armenischen Aggressor“.
Die versuchte Ermordung eines ganzen Volkes und der grausame Tod von mindestens 1 Million Kinder, Greise, Männer und Frauen durch die islamischen Türken begann am 24. April 1915. Es war ein von den Jungtürken geplanter Genozid an den Armeniern. Zuerst waren es „Säuberungsaktionen“, von Konstantinopel (Istanbul) ausgehend in die gesamte Türkei. Dann trafen türkische Mordkommandos in armenischen Dörfern ein, die die armenischen Familien beraubten, umbrachten oder auf einen „Todesmarsch ins Nichts“ schickten, in Gegenden, wo sie elendiglich krepieren mußten. Tote in Massengräbern und Gräber mit Leichen am Straßenrand pflasterten den Weg in die Wüste. Die, die nicht ermordet wurden, verhungerten dort. Die Aktion gegen die Armenier erstreckte sich über zwei Jahre. Und die Welt schaute weg.
Türkei leugnet Völkermord Heute weiß die Welt um die Massaker, und viele sprechen offen von Genozid. Aber in der Türkei steht diese Wahrheit auszusprechen unter Strafe. In vielen Staaten ist das Leugnen des Völkermordes durch die Nazis strafbar. Wenn es aber um Armenien geht, dann ist die Vermeidung dieses Ausdrucks für manche Regierung offizielle Politik. Kein Wunder, daß dies bei Armeniern auf Unverständnis stößt. Deutschland kann sich in einem solchen „Spiel“ nur abermals blamieren.
Es geht hier und heute nicht mehr um Verurteilung oder gar Rache. Es geht allerdings um Anerkennung der klaren Tatsachen. Aber solange politische, wirtschaftliche und militärische Interessen den Dialog mit der Türkei bestimmen, wird Ankara wenig Anlaß sehen, seine Haltung – Leugnung des Genozids – zu ändern.
- Jahrestag des Genozids In zwei Wochen, am 24. April (2016), jährt sich nun zum 101. Mal der Tag der Trauer für die Armenier. Die ganze Welt ist sich einig, daß die Türken an diesem Tag (und vielen folgenden) vor einhundert Jahren einen grausamen Genozid an den Armeniern begonnen haben. Grausamkeiten, Mord, Folter oder Vertreibung mit Hungertod – das waren die Werkzeuge der Türken, die sie gegenüber den verhaßten, zumeist christlichen Armeniern anwendeten. Damals sollen bis zu 1,5 Millionen Armenier ums Leben gekommen sein. (Die Schätzungen seriöser Historiker schwanken zwischen 300.000 bis 1,5 Millionen Umgekommener.)
Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte im letzten Jahr anläßlich des 100. Jahrestages den Begriff bewußt umgangen. In der „Süddeutschen Zeitung” hatte er sich besorgt gezeigt, eine aufgeladene Debatte erschwere den Beginn eines aufrichtigen Dialogs zwischen Türken und Armeniern oder könnte ihn unmöglich machen. „Verantwortung heißt eben, Verantwortlichkeit nicht auf einen einzigen Begriff zu reduzieren”, sagte er gegenüber der ARD.
Aus dem Auswärtigen Amt war zu hören, man sei an einer „Aufarbeitung der Geschichte” interessiert, wolle aber „nicht wegen Begrifflichkeiten den Dialog von vornherein zum Erliegen bringen”. Kritiker vermuten, Berlin wolle die Beziehungen zur Türkei nicht weiter belasten, um wirtschaftlichen und „Flüchtlings“-Interessen nicht zu schaden. Mehrere Tausend deutsche Unternehmen sind in dem Land aktiv.
Beschämender deutscher Kuschelkurs mit der Türkei Das ist ein beschämender Kuschelkurs gegenüber einem Präsidenten, der immer autoritärer regiert und längst bereit ist, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien seinem Machthunger zu opfern. Deutschland sollte auf dessen Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen. Im Gegenteil, diplomatischer Druck auf die Türkei ist nötig, damit sie ihre Politik der permanenten Leugnung nach 101 Jahren endlich aufgibt.
Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich wiederholt die Wertung des Massakers als Völkermord verbeten und sieht darin eine Verunglimpfung seines Landes. Wenn es um die Massaker im Jahr 1915 geht, reagiert der türkische Obermufti empfindlich. Das bekam im letzten Jahr sogar der Papst zu spüren. Erdogan tobte. Er warf Seiner Heiligkeit vor, „Unsinn zu reden”, und warnte vor Wiederholung dieses „Fehlers”. Der Papst konterte nur, Botschaft der Kirche sei auch Direktheit und christlicher Mut.
Ja und!? Bricht die Welt zusammen, wenn nun ein Armleuchter in Ankara vom Altar fällt? Die Zahl der Christen in der Türkei liegt eh nur noch im Nullkomma-Prozentbereich. Vor wem hat Erdogan Angst? Aber nun hat er ein neues Spielzeug:
Was hat das mit Berg-Karabach zu tun?
Nach mehr als 20 Jahren ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach wieder aufgeflammt: Bei schweren Kämpfen am Wochenende (2./3.4.) sollen mehr als 30 Menschen ums Leben gekommen sein.
Die Eskalation ist die schlimmste seit 1994. 30 Menschen waren bei gewalttätigen Auseinandersetzungen getötet worden, darunter 18 auf armenischer und 12 auf aserbaidschanischer Seite.
Sehr viel Blut floß damals, 1994. Über eine Million Menschen verloren ihre Heimat, Zehntausende starben, bis Aserbaidschan und Armenien endlich offiziell die Kämpfe einstellten und am 12. Mai vor 22 Jahren ein Waffenstillstandsabkommen unterschrieben.
Die Gemengelage ist schwer zu durchschauen. Die erneute Eskalation der Gewalt in Berg-Karabach ist nicht ohne den inzwischen offen ausgetragenen Konflikt zwischen Russland und der Türkei zu erklären. Russland gibt sich allerdings “deutlich bemüht”, beschwichtigend auf die Auseinandersetzung in Berg-Karabach einzuwirken. Der türkische Präsident Erdogan gibt jedoch den Anheizer: Er hat mit seiner Ankündigung, Aserbaidschan „bis zum Letzten“ zu unterstützen, die Kampfrhetorik verschärft. Mehr als 20 Jahre lang war es dort vergleichsweise ruhig.
Aserbaidschan, das einzige muslimische Land im überwiegend christlichen Südkaukasus Es ist nicht nur, aber auch ein Konflikt, in dem sich Christen und Muslime gegenüberstehen. Armenien ist eines der ältesten christlichen Länder überhaupt, mit einer Christianisierung Anfang des vierten Jahrhunderts. Auf der anderen Seite Aserbaidschan, das einzige muslimische Land im Südkaukasus.
Russland „Schutzmacht“ Armeniens Die Journalistin und Kaukasus-Expertin Silvia Stöber warnte im DLF, mittelbar drohe „die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts“. Denn einerseits sei Russland “per Vertrag” Schutzmacht Armeniens, und andererseits seien die Türkei und Aserbaidschan kulturell und sprachlich sehr eng beieinander. “Natürlich fühlt sich Erdogan verpflichtet, auf der aserbaidschanischen Seite Position zu ergreifen”, so die Journalistin.
(Lage des Konfliktgebietes Berg-Karabach, picture alliance / dpa-Grafik)
Beide Seiten erklärten zwar vor wenigen Tagen, ihre bewaffneten Auseinandersetzungen zu beenden, doch in der umkämpften Enklave wurde sogleich eingeschränkt, dass man erst dann zu einem Kompromiss bereit ist, wenn Aserbaidschan die Republik Berg-Karabach offiziell anerkennt. Das dürfte eine schnell und vor allem dauerhafte Lösung erschweren.
Es ist derzeit ziemlich klar ersichtlich, daß die Eskalation jetzt von Aserbaidschan ausgeht. Armenien hat alles bekommen, was es wollte: die Kontrolle über seine Grenze von Berg-Karabach. Aserbaidschan hingegen träumt von der Wiederherstellung der territorialen Einheit.
Niedergang der aserbaidschanischen Wirtschaft Eine der Hauptursachen der aserbaidschanischen Konfliktbereitschaft dürfte jedoch im Niedergang der dortigen Wirtschaft und der damit einhergehenden politischen Krise in Aserbaidschan zu verorten sein, die herrschende Regierung schwächt. Das hat vor allem mit dem gefallenen Ölpreis zu tun. Präsident Ilcha Alijew steht unter Druck. Nicht nur das, er hat auf Drängen des Westens eine Amnestie für politische Häftlinge verkündet, und das könnte von dem Kreis um seinen radikaleren Vater und ehemaligen Präsidenten als Schwäche ausgelegt werden.
Die Eskalation um Berg-Karabach käme Alijew zu Paß: Das Lebensniveau in Aserbaidschan ist gesunken, den Leuten geht es schlecht, der Präsident will seine Beliebtheit erhöhen, indem er die territoriale Einheit des Landes wiederherstellt.
Türkische Interessen – Solidarität mit Aserbaidschan Das noch größere Interesse an einem Wiederaufflammen des seit 1988 ungelösten Berg-Karabach-Konfliktes aber dürfte die Türkei haben. Der türkische Präsident Erdogan hatte mehrfach einen Besuch in Baku geplant, wegen der Terroranschläge in der Türkei aber verschoben.
Die bis vor kurzem freundschaftlichen Beziehungen zwischen Ankara und Moskau hatten sich rapide verschlechtert nach dem türkischen Abschuß eines russischen Kampfflugzeuges im Herbst, wodurch sich die türkischen Interessen nun gegen Moskau richten. Aserbaidschan wird stark von der Türkei unterstützt, zumal Erdogan den Südkaukasus nicht mehr länger unter russischem Einfluß stehenlassen will.
Die Türkei werde immer an der Seite Aserbaidschans sein, versicherte noch in der letzten Woche der türkische Premier Davutoglu. (Russische Fernsehsender berichten, daß sich in den Reihen der aserbaidschanischen Streitkräfte türkische Instrukteure befinden sollen.)
Die Russen stehen zu Armenien Russische Streitkräfte stehen in Armenien, Moskau versteht sich als Schutzmacht Jerewans, aber unterhält auch gute Verbindungen zu Aserbaidschan, verkauft Waffen an Baku. Deswegen ist die offizielle Mittlerposition Moskaus derzeit glaubwürdig. Präsident Putin rief als erster zu einer Beilegung des Konfliktes auf. Deutlich später reagierte Erdogan.
Dazu sandte mir eine besorgte Leserin, Frau Karin Zimmermann, folgendes Mail:
„…anders als wir Vertriebenen wird sich hierzulande kaum einer für das Schicksal der Armenier interessieren, die (nach vorangegangenen Verfolgungen) schon im 1. Weltkrieg in Massakern und Todesmärschen nach Dokumenten aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes mehr als 1,5 Millionen Menschen beklagen mussten. Der so an ihnen begangene Völkermord fand ziemlich genau 3 Jahrzehnte vor demjenigen statt, unter dem wir und unsere Vorfahren zu leiden hatten. Die in der Türkei heute verbreitete “Political Correctness” bestreitet, dass es überhaupt einen Völkermord gegeben habe.
Auch eine junge, mir persönlich bekannte türkische Bauingenieurin “schaltete sofort in den Rückwärtsgang”, als ich ihr gegenüber das Thema “Armenier” angesprochen habe. Das ist dort nicht anders wie bei uns: Die jungen Leute und auch deren Lehrer wissen über die tatsächlich abgelaufene Geschichte nicht (mehr) Bescheid.
Umso mehr sollten wir unser Blicke auf diese Volksgruppe richten und – wo immer es uns möglich ist – deren Belange unterstützen. Ihr Verlangen an die Bundesregierung mit den Möglichkeiten, die sie durch die OSZE-Präsidentschaft hat, Aserbaidschan zum Einhalten des Waffenstillstandes zu verpflichten, ist wahrlich nachvollziehbar.
Daher gebe ich die untenstehende Presseerklärung des Zentralrats der Armenier gerne an Sie weiter.
Mit freundlichen Grüßen, Karin Zimmermann
(Am Hang 19, 53819 Neunkirchen-Seelscheid, E-Mail: info@AVIADOC.de, (Vertriebene mit Vertriebenenausweis-Nr. A – 3334/30.358)
Presseerklärung des Zentralrats der Armenier in Deutschland: ZAD appelliert für die Durchsetzung einer politischen Lösung des Konflikts im Berg Karabach
„In der Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft sich ihrer Verantwortung, gerade auch gegenüber der zivilen Bevölkerung aller beteiligten Parteien, bewusst wird, appellieren wir für die Durchsetzung einer politischen Lösung, die das Selbstbestimmungsrecht der Karabach-Armenier anerkennt“, so die Vorsitzende des Zentralrates der Armenier in Deutschland.
Die Angriffe auf Berg Karabach sind das aktuelle Ergebnis einer nationalistischen Gesinnung und mehrjährigen Hochrüstens auf aserbaidschanischer Seite. Die provokative Kriegsbesessenheit der aserbaidschanischen Regierung stellt eine Behinderung des friedlichen Lebens und eine Gefahr für die zivile Bevölkerung dar. Die Aufforderungen der internationalen Gemeinschaft, den Konflikt durch die politischen Verhandlungen zu lösen, werden seitens Baku schlichtweg ignoriert.
Die ruckartige Aufkündigung der seit 1994 bestehenden Waffenruhe scheint, mit Blick auf innenpolitische Schwierigkeiten des Staatsführers Aliyev ebenso Grund für die Eskalation des Konflikts zu sein wie binationale Interessen des türkischen Staates. Denn dank finanzstarker Propagandaarbeit ist die Innenansicht des Landes in Deutschland weitgehend unbekannt. Menschenrechtsverletzungen, der Umgang mit Dissidenten, die Pressefreiheit und Vorwürfe, sich persönlich an den Öl-Reserven des Landes zu bereichern, bedingen eine wirksame politische Ablenkung.
Gleichzeitig zeigen die Vorwürfe des türkischen Ministerpräsidenten R.T. Erdogan, der den aserbaidschanischen Staat in Anwendung panturkistischer Ideologien zum Brudervolk erklärte, gegenüber der OSZE, dass die Türkei ein Interesse daran hat, die Minsk-Gruppe, als Teil der internationalen Gemeinschaft, mit welcher Erdogan immer deutlicher auf Schwierigkeiten stößt, vorzuführen.
Der Zentralrat der Armenier in Deutschland appelliert an die Bundesregierung, im Rahmen ihrer OSZE-Präsidentschaft die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, Aserbaidschan zum Einhalten des Waffenstillstandes zu verpflichten, sowie die Sicherheit und das friedliche Leben der Bevölkerung im Berg Karabach in ihrer historischen Heimat zu gewährleisten. Vorstand des Zentralrats der Armenier in Deutschland e.V., Frankfurt am Main, 04.04.2016, Kontakt: E-Mail: vorstand@zentralrat.org
- April 2016