Europäische Verteidigungsunion – Illusion und Albtraum

(www.conservo.wordpress.com)

Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist *)

Die mit Stolz verkündete „Europäische Verteidigungsunion “PESCO“ (Permanent Structured Cooperation)

In seinem Buch „ Wunschdenken“ bezeichnet Thilo Sarrazin „Selbstüberschätzung“ und „Wunschdenken“ als entscheidende Ursachen für falsche politische Entscheidungen – auch im Kollektiv.

„Cooperation“ heißt nicht „gemeinsame Kampfkraft“ oder „gemeinsame glaubwürdige Abschreckung mit einer sichtbaren Verteidigungsfähigkeit“. Es bedeutet schlicht „Zusammenarbeit“, was immer das bedeutet und bewirkt.

Frau von der Leyen erklärt sinngemäß: Da man sich nicht mit ausreichender Sicherheit darauf verlassen kann, dass die USA unter der Führung von Donald Trump den Europäern militärisch zur Hilfe kommen werden, müssen die Europäer in ihren Verteidigungsanstrengungen zulegen, um die selbstständige Verteidigung Europas sicherzustellen.Dazu einige Fakten

# Die USA tragen seit Jahrzehnten rd. 72 Prozent der NATO-Verteidigungsausgaben. Die 27 europäischen Staaten die restlichen 28 Prozent.

# Bei allen bisherigen NATO-Tagungen haben die USA die Europäer aufgefordert, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Diese Forderung fiel auf taube Ohren.

# In den 90er Jahren forcierte Frankreich das Misstrauen gegenüber den Vereinigten Staaten. Es forderte eine Trennung der NATO-Hauptquartiere (Headquarter = „HQ“) in zwei getrennte Hauptquartiere. Das europäische Hauptquartier sollte ohne die USA die attraktiveren „Einsätze im Bereich des Krisenmanagements“ übernehmen, während die USA die unangenehme – und damals weniger wahrscheinliche und unpopuläre, aber verlustreiche Landes- und Bündnisverteidigung übernehmen sollten.

Die NATO-Verantwortlichen fanden eine Lösung. Sie bezeichneten die NATO-Hauptquartiere als „separable, but not separate“. Das bedeutet, dass die NATO bei „Auslandseinsätzen“ aus ihren HQs ein besonderes HQ bilden sollte – genannt „Combined Joint Task Force Headquarters“ Multinationales, teilstreitkraftübergreifendes HQ). Das verantwortliche HQ sollte den Nukleus für diese HQs stellen – mit personellen und materiellen Verstärkungen durch andere NATO-HQs und Vertreter der teilnehmenden Staaten – inkl. der Staaten, die am Programm „Partnership for peace“ beteiligt waren. Der Verfasser dieses Kommentars war unter der Führung des hoch angesehenen deutschen Oberbefehshabers, General Helge Hansen, maßgeblich verantwortlich für die jährlichen Übungen, an denen bis zu fünfzig Ofiziere und Generale von Nicht-Natostaaten in verantwortungsvollen Positionen im HQ erfolgreich teilgenommen haben.

Nach mehreren solcher Übungen hat sich das Konzept bewährt – mit einem beweglichen, geschützten Gefechtsstand, ausgestattet mit rd. 400 PC.

# In der Zeit des wachsenden – französischen – Misstrauens gegenüber den USA beschloss der NATO-Rat 1996 das sog.“Berlin plus Abkommen“, in dem sich die USA verpflichtet haben, den Europäern ihre „Strategic assets“ – das heißt „strategische Kommunikation, strategische Aufklärung und strategischen Transport – zur Verfügung zu stellen, falls sie sich nicht an der geplanten Operation beteiligen wollten oder konnten.

# Donald Trump hat im „Wahlkampf“ die NATO als „obsolet“ bezeichnet. Dieses Urteil hat er mittlerweile widerrufen. Auch mit Blick auf Russland hält er eine starke NATO als unverzichtbar. Er ist umgeben von sicherheitspolitischen Beratern, die „Nato-minded“ und kompetent sind.

# Im Jahre 2014 haben die NATO-Staaten einstimmig beschlossen, bis zum Jahre 2024 Anstrengungen zu unternehmen, ihre Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes anzuheben. Geschehen ist in den zurückliegenden drei Jahren wenig.

Gegenwärtig erfüllen nur drei Staaten diese Quote: Estland (2,2.), Griechenland mit Blick auf die Türkei 2,4 Prozent und die USA 3,8 Prozent.

Die Verteidigungsausgaben Deutschlands stehen bei 1.2 Prozent. Es ist kein Ansatz erkennbar, diese für ein reiches Land beschämende Zahl nach oben zu korrigieren.

Jetzt wird auch von SPD Ministern, die mit dem damaligen Außenminister Steinmeier dieser Absprache zugestimmt haben, erklärt, die zwei Prozent seien „Zahlenfetischimus“ oder ein „Drehen an der Rüstungsspirale“. Von selbsternannten „Verteidigungsexperten“ wird behauptet, die Bundeswehr könnte diese Mehrausgaben nicht sinnvoll ausgeben.

# Der Wehrbeauftrage des Deutschen Bundestages, SPD-Abgeordneter, kommt in seinem Bericht 2016 zu einem niederschmetternden Urteil über die Bundeswehr und ihre Streitkräfte, die personell und materiell am Boden liegen.

# Der „Spiegel 45/2017 zitiert aus einem Geheimbericht der NATO und fasst zusammen: NATO nur „bedingt abwehrbereit“.

# Dem Verfasser ist aus den letzten 50 Jahren kein Angebot der Europäer an die USA bekannt, die eigenen Verteidigungsausgaben zu erhöhen, um die USA zu entlasten und zu einer fairen Lastenteilung zu kommen.

# Bei der internationalen militärischen Operation in Libyen war die NATO als Bündnis nicht beteiligt. Es war eine „Koalition der Willigen“, an der sich Deutschland aktiv nicht beteiligt hat.

Frankreich und Großbritannien haben den sehr zögernden amerikanischen Präsidenten Obama händeringend „überzeugt“, sich an der Operation zu beteiligen. Er stimmte letztlich zu mit der Einschränkung, dass die USA nicht auf dem „Fahrersitz“ sitzen würden.

Der Anfang der Operation verlief gut. Nach vierzehn Tagen leisteten die militärstarken Staaten Frankreich und Großbritannien den Offenbarungseid, dass sie ihre „präzise“ Munition bereits verschossen hätten – in einem Scharmützel gegen einen schwachen Feind.

Was sollen die 23 Staaten mit ihren Streitkräften in 20-30 Jahren leisten können?

Die bisher verfügbaren Informationen reichen nicht aus, um diese Frage komplett zu beantworten.

Bevor man den Bau eines Gebäudes plant, muss man die spätere Verwendung und den Preis kennen. Den 23 Staaten ist zu raten, auf folgende Fragen klare Antworten zu finden.

# Was wollen die Staaten für eine selbständige Verteidigung erreichen? Was ist der „level of ambition“?

# Welche politische und militärische Architektur streben die 23 an? Ständige HQs, die politische und militärische Pläne erarbeiten und in Einsätze umsetzen, mit einem zentralen HQ und regionalen HQs?

# Sind die 23 in der Lage, diese HQs mit kompetenten Generalen/Admiralen und hohen Stabsoffizieren zu besetzen? Ist die Verwendung in diesen HQs für Berufssoldaten attraktiv?

# Welche Seestreitkräfte werden – ohne die USA, Portugal und Großbritannien – im Nordatlantik verfügbar sein?

# Wie viele Übungen und Einsätze werden pro Jahr personell und materiell geplant?

# Welche Truppen werden für Übungen und Einsätze fest eingeplant? Sind es Stabsoffiziere und Truppen, die bislang für NATO-Übungen und Einsätze vorgesehen sind? Wer hat Priorität ? Die 23 oder die NATO?

# Welche strategischen Kapazitäten soll es geben bei Kommunikation, Aufklärung und Transport?

# Gibt es genügend Auswertekapazitäten?

# Welche Erkenntnisse dürfen die nationalen Geheimdienste weiterleiten, die bislang als „NATO secret“ eingestuft sind?

# Sind sich die 23 bewusst, dass in der NATO die Landes- und Bündnisverteidigung wieder an Bedeutung gewinnt und vieler Anstrengungen bedarf, um eine glaubwürdige Abschreckung gegen mögliche Aggressoren aufzubauen?

# Wann soll die politische und militärische Struktur „einsatzbereit“ sein? In zehn Jahren?

# Last but not least; Wer soll den Aufbau und den jahrelangen Betrieb der notwendigen Einrichtungen bezahlen? Als Anhalt: Der Betrieb der bestehenden NATO-Infrastruktur kostet jährlich rd. 30 Milliarden Euro. Bislang zahlen die 27 NATO-Mitgliedstaaten lediglich 28 Prozent der Ausgaben. Sie haben abgesprochen, ihre Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu steigern.

# Sind die 23 Länder willens und fähig, zusätzlich zu den Ausgaben für die NATO Milliarden für die eigene Architektur zur Verfügung zu stellen, ohne ihre Zahlungen an die NATO zu reduzieren oder gar einzustellen?

# Welchen sicherheitspolitischen Kurs wird eine zukünftige deutsche Regierung einschlagen?

Der Verlauf der „Jamaika-Sondierungsgespräche“ gab keinen Anlaß für Optimismus.

Eine gründliche Machbarkeitsstudie muss diese Fragen überzeugend beantworten, bevor ein Euro investiert wird.

Ausblick auf die Zukunft der Europäischen Verteidigungsunion

In seinen 39 Berufsjahren – darunter 4,5 Jahre als Operationschef des damaligen NATO-HQ Europa Mitte in Brunssum, NL – und der anschließenden Zeit als kritischer Beobachter hat der Verfasser viele europäische Initiativen erlebt. Sie erlitten dasselbe Schicksal. Sie sind alle sanft entschlafen und in aller Stille beerdigt worden.

Eine Verteidigungsunion ohne die weltweite Militärmacht Nr.1 USA, ohne Großbritannien mit seinen globalen Erfahrungen und den Staaten des Commonwealth sowie Portugal mit seinen maritimen Beiträgen im Nordatlantik ist eine Totgeburt.

Mit einem Unterschied zu früheren Initiativen:

Wenn die USA unter Donald Trump den Eindruck gewinnen, sie werden in Europa nicht mehr gebraucht und nicht mehr gern gesehen, könnten sie die Einladung zum Disengagement in Europa annehmen und sich mit noch deutlich verstärktem Schwerpunkt dem asiatisch-pazifischen Raum zuwenden, der für sie wichtiger geworden ist als Europa.

Allerdings: Sollte die Europäische Verteidigungsunion ohne Portugal, Großbritannien – immerhin weiterhin ein NATO-Mitgliedstaat – und die USA scheitern, gibt es keinen Plan B für die Sicherheit Europas.

Die Illusion, die 23 europäischen Staaten der Verteidigungsunion wollten und könnten gewaltige finanzielle Mehrbelastungen zum Erreichen der Unabhängigkeit von den USA schultern, wird in einem Katzenjammer enden – zur Freude von Putin und seinen Nachfolgern.

Eine Konkurrenz zwischen der NATO und der EV um knappe finanzielle und personelle Ressourcen erscheint unvermeidbar.

Die Trennung verstößt gegen die kluge Feststellung Madeleine Albrights, damalige US-Außenministerin, die im Dezember 1998 drei „No´s“ für die NATO und EU gefordert hat: no discrimination, no duplication und no decoupling.

Die Alternative:

Die europäischen Staaten sollten ihre Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit gegenüber den USA dadurch beweisen, dass sie sich klar festlegen, in welchen verbindlichen Schritten sie sich bis 2024 der Benchmark der zwei Prozent annähern wollen und können, um ihre konventionelle Verteidigungsfähigkeit deutlich und sichtbar zu verbessern. Die erhöhten Ausgaben könnten zu einer abgestimmten Entlastung der USA in und für Europa führen.

Eine solche Zusage könnte die USA unter Donald Trump wieder zu einem zuverlässigen Bündnispartner machen. Die besonders für die mittelost- und südeuropäischen NATO-Partner wichtige nukleare Garantie der USA waren für sie das Hauptmotiv, der NATO beizutreten.

Eine Bemerkung zum Schluss:

Sollten die Wunschvorstellungen der Europäischen Verteidigungsunion jemals realisiert werden, wird Donald Trump nach vier oder acht Jahren nicht mehr in Amt sein, aber die USA werden weiter die Militärmacht Nr.1 sein, was von Europa nicht zu erwarten ist.

Deutschland und Europa brauchen einen starken Partner gegen die Weltmacht China, die mittel- und langfristig durch ihre wirtschaftliche, finanzielle und militärische Power auch das zerstrittene und wirtschaftlich zunehmend von China abhängige Europa dominieren will. Die Strategie „One road, one belt“ hat globale geostrategische Ambitionen bis nach Europa.

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*) Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.
Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.
Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.
In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ;Partnership for Peace beteiligt.
Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegernerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.
Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.
Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.
Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.
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www.conservo.wordpress.com   20.11.2017
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