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Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist
Votum gegen Flüchtlingspolitik
Die Entscheidung Großbritanniens vom 26. Juni 2016, aus der EU auszutreten, und der mögliche Austritt im Jahre 2019 lassen die geopolitischen und geostrategischen Veränderungen, die auf Europa zukommen, noch nicht abschließend bewerten. Sie sind jedoch stärker und bedeutender als sie in deutschen Medien und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Das Ergebnis wird nicht nur mathematisch sein: 28 EU-Staaten minus einem.
Der Brexit ist auch ein Votum gegen die europäische Flüchtlingspolitik, besonders gegen die deutsche Politik. Die Bilder von der illegalen Masseneinwanderung nach der einseitigen Grenzöffnung durch Deutschland am 4./5 September 2015 haben nicht nur die Briten geschockt, sondern auch die Staaten Mittelosteuropas.
Wenn sich die deutsche Regierung so um Großbritannien gekümmert hätte wie um Griechenland, hätte es den Brexit oder das für Deutschland und Europa negative Ergebnis vermutlich nicht gegeben. Die Stimmen „Reisende soll man nicht aufhalten“ oder “Wer gehen will, soll gehen“ überwogen.Verlust für die EU
Der Austritt wäre ein herber Verlust für die EU. Das haben etliche europäische Spitzenpolitiker übersehen: sie waren froh, einen Störenfried bei der Vertiefung der EU endlich loszuwerden. Ihnen geht es um Bestrafung des „ Verräters“ und um Abschreckung von möglichen Nachahmern.
Dabei können die Anhänger eines „ Europas der Vaterländer“ Großbritannien dankbar sein, weil mit London eine tiefere Integration der EU verhindert wurde.
Für die NATO ist es erfreulich, dass Großbritannien als starker und zuverlässiger Partner bleibt. In Deutschland sollte man nicht vergessen, dass sich Großbritannien mit seinen Truppen in Deutschland von Anfang an in der Vorneverteidigung an der Grenze zur ehemaligen DDR engagiert hatte.
Die „Pfennigfuchser“ und „Erbsenzähler“ in der EU haben die stolzen Briten unterschätzt, die bereit waren, für ihre Befreiung von dem „Monster“ Brüssel Opfer zu bringen.
Wenn die EU abschreckende Strafen braucht, um die Einheit zu wahren, ist es um sie nicht gut bestellt. Wer ihr freiwillig beitritt, sollte auch ohne Bestrafung austreten dürfen.
Darüber hinaus verliert man mit Großbritannien als Führer des Commenwealth und Mitglied der EFTA einen global ausgerichteten Partner, der zudem besonders gute Beziehungen zu den USA besitzt.
Neben der sog.“Flüchtlingkrise“ und der sog. “Eurokrise“ hat der Brexit die EU in eine existentielle Krise geführt, deren dramatische Auswirkungen sich noch zeigen werden.
Die Entwicklung der EU – von sechs auf (noch) achtundzwanzig Mitgliedsstaaten
Die Gründernationen Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg und die Niederlande unterschrieben am 25.März 1957 die sog.“ Römischen Verträge“, die die Schaffung eines großen gemeinsames Marktes auf europäischer Ebene zum Ziel hatten. Gemeinsame Politiken für alle Mitgliedsstaaten wurden „angestrebt“
Damit hatte diese jedoch einen wichtigen Geburtsfehler: Es fehlt eine klare Zielsetzung zu einer Politischen Union, ein Geburtsfehler, der bis heute nicht behoben ist und grundsätzliche Probleme verursacht. Die Frage ist bis heute nicht beantwortet: Soll die EU ein „Europa der Vaterländer“ mit weitgehender nationaler Souveränität oder ein „Europäischer Gemeinschaftsstaat“ mit einer starken Zentralregierung werden?
Lange Jahre war die EU auf Westmitteleuropa konzentriert. Mit der Erweiterung in 2004 kam Ostmitteleuropa hinzu, ohne den Blickwinkel aus Brüssel deutlich zu verändern.
Chronik der Erweiterung:
# 1. Mai 1958 offizieller Start der EU
# 1. Mai 1973 Beitritt: UK, Irland und Dänemark
# 1. Mai 1981 Beitritt: Griechenland nach Fälschung der Beitrittsdokumente, die Ursache wurden für die dauerhafte, sehr teure Unterstützung Griechenlands, die erst durch den Bruch des „Maastrichter Vertrages“ (Aufhebung der „no-bail-Klausel) auf besonderes Betreiben von Frankreich und Deutschland möglich wurde.
# 1. Mai 1986 Beitritt: Portugal und Spanien
# 1. Mai 1995 Beitritt: Österreich, Finnland und Schweden
# 1. Mai 2004 Beitritt: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, Zypern
# 1. Mai 2007 Beitritt: Bulgarien und Rumänien
# 1. Mai 2013 Beitritt: Kroatien
Vertiefung und Erweiterung?
Die Erweiterungen folgten der Formel: Vertiefung und Erweiterung. Eine Formel, die nicht erfolgreich sein konnte. Die relativ stabile Interessenidentität der sechs Gründerstaaten wurde durch die Geopolitik und national orientierten Geostrategien der neuen Mitgliedsstaaten deutlich geschwächt. Es ist nahezu unmöglich, zwischen Finnland im Norden und Malta im Süden eine stabile Interessenidentität zu erreichen.
Hinzu kam die Aussicht der neuen Mitgliedsstaaten auf die finanziellen Hilfen der EU, die ihren Aufbau enorm beschleunigt haben.
Insgesamt ist die EU ein großer Erfolg für die sog.“ schwächeren“ Staat im Süden und in Südosteuropa, während die sog.“reicheren“ Staaten durch die unverantwortliche Geldpolitik der EZB eine eher negative Bilanz ziehen müssten.
Der schwerste Brocken war die gleichzeitige Aufnahme von den 10 Kandidaten zum 1. Mai 2004.
Die vier Visegràdstaaten bilden heute und in Zukunft die größte Herausforderung für den Fortbestand der EU in der jetzigen Struktur, was bisher von der europäischen Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wird.
Welche Ziele verfolgen die Visegràdstaaten?
Diese Gruppe – Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn – besteht seit gut 25 Jahren, ohne politisch besonders in Erscheinung getreten zu sein. Es war bekannt, dass sie sich vor europäischen Konferenzen abgestimmt hatten.
Die Geschlossenheit der Gruppe wuchs mit der nicht existierenden europäischen „Flüchtlingspolitik“. Ungarn war der erste Staat, der die Außengrenze der EU gemäß den Auflagen des Schengen-Abkommens abriegelte, da Griechenland dazu nicht in der Lage war. Ungarn widersetzte sich der Weisung der EU, sog. “Flüchtlinge“ auch in Ungarn aufzunehmen. Tschechien und die Slowakei folgten dem Beispiel Ungarns. Polen nahm einige wenige Menschen auf, ließ diese ohne längeren Aufenthalt nach Deutschland oder Schweden weiterreisen. (Während seiner Reise durch Schlesien hat der Verfasser keinen einzigen Migranten oder „Flüchtling gesehen.)
Brüssel drohte, ein Strafverfahren gegen die unbotmäßigen Visegràdstaaten einzuleiten.
Präsident Juncker und sein Vize Timmermans wollen den Ungarn gar das Stimmrecht entziehen. Da diese Maßnahme nur einstimmig beschlossen werden kann, steht der Ausgang fest: Eine Blamage für die EU.
Der Widerstand steigerte die Wut Brüssels besonders gegen Ungarn und Polen.
Etliche europäische Medien schlossen sich diesem “bashing“ an. Diese politischen und medialen Attacken förderten den Zusammenschluß der Visegràdstaaten.
Ihr Hauptargument gegen die Aufnahme von Migranten und „Flüchtlingen“ ist deren überwiegende Zugehörigkeit zum Islam und anderen Kulturkreisen. (Von der tiefen Gläubigkeit der überwiegend katholischen polnischen Bevölkerung konnte sich der Verfasser überzeugen. Für ihn sind die Visegràdstaaten ein Bollwerk gegen eine weitere Islamisierung Europas. Damit setzen sie sich ab von dem Trend im übrigen Europa – außer Großbritannien.
Die Visegràdstaaten haben zur Kenntnis nehmen müssen, dass Brüssel entschieden hat, keine europäische Institution nach Warschau oder Prag zu verlegen. Die Europäische Arznei-Agentur (EMA) geht nach Amsterdam, während die Europäische Bankenaufsicht (EBA) nach Paris umzieht – ein Weihnachtsgeschenk für den französischen Präsidenten Macron?
Eine interessante Konferenz in Budapest und ihre möglichen weitereichenden Folgen
Im November 2017 lud Ungarn 16 Staaten aus Mittelosteuropa und China – vertreten durch den Ministerpräsidenten Li-Keqiang – zu einer Konferenz nach Budapest ein, bei der es in erster Linie um den Abschluss von wirtschaftlichen Verträgen ging. Für China war es eine gute Gelegenheit, die Fühler nach Ostmitteleuropa auszustrecken und für ihre Strategie „one belt, one road“ in Richtung Europa zu werben.
Hinter dieser Veranstaltung sind die Umrisse eine Vision zu erkennen: das „Intermarium“. Darunter wird die Region zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer verstanden.
Bekannt sind die guten Beziehungen zwischen Polen und den Baltischen Staaten sowie die Nähe von Österreich zu Tschechien.
Sollte die EU-Kommission den Kampf gegen die Visegràdstaaten fortsetzen oder gar steigern, so ist auf mittlere Sicht nicht auszuschließen, dass die Visegràdstaaten ihre Distanz zu Brüssel und damit zur EU vergrößern. Sie könnten zu einer Güterabwägung – wie Großbritannien 2016 – kommen:
Wo sollte ihre Zukunft sein? Mit der EU und einer starken EU-Kommission oder in einer regionalen EU-Struktur mit mehr Souveränität für die Mitgliedsstaaten und einer kleinen EU-Kommission?
Mögliche neue Partner könnten aus der Region „Intermarium“ kommen. Eine solche Entscheidung würde die EU zerstören.
Austritt oder Dauerzahlmeister
Diese Frage wird sich für die Visegràdstaaten verschärfen, sollten sich der französische Präsident Macron, der Präsident Juncker und vielleicht auch eine mögliche Kanzlerin Merkel zu einer weiteren Vertiefung der EU verständigen sollten – unterstützt durch die SPD.
Drei Probleme für die EU werden die nächsten Jahre überschatten und ihre Zukunft bestimmen:
Die sog. “Flüchtlingskrise“, die sog. “Eurokrise“ und die Folgen eines Brexit. Auch für Deutschland könnte sich mittelfristig die Frage einer Güterabwägung stellen: Austritt oder Dauerzahlmeister? Mit der zu erwartenden neuen Regierung wird diese Frage weiter tabuisiert.