(www.conservo.wordpress.com)
Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist *)
Nach dem 2. Weltkrieg gab es zunächst den Ost-Westkonflikt – angeführt durch die beiden Antagonisten USA und Sowjetunion – beide hoch gerüstet inklusive Nuklearwaffen. Diese Waffen waren es in erster Linie, die das „ Gleichgewicht des Schreckens“ schufen: den sog. “Kalten Krieg“.
Beide Antagonisten versuchten, eine Hemisphäre ihrer Interessen und Partner aufzubauen, was auch weitgehend gelang. NATO und Warschauer Pakt waren die politisch-militärischen Allianzen zum Schutz der „eigenen Hemisphäre“ und Interessen. In der „eigenen Hemisphäre“ sorgten die beiden Weltmächte für Disziplin und „Ruhe“. Beide waren berechenbar. Sie gestatteten ihren Partnern keine politischen und militärischen Abenteuer, die das sorgsam ausgeklügelte Gleichgewicht hätten stören können.
Diese relative Stabilität wurde geändert mit dem Zusammenbruch und Auseinanderfallen der Sowjetunion, von Wladimir Putin als die „ die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet – die sein Denken und Handeln nachhaltig bestimmt.
Nach der Auflösung der Sowjetunion zerfiel der Warschauer Pakt. Ehemalige verbündete Staaten schieden aus dem Pakt aus – und wurden in den Folgejahren sogar Mitglieder der NATO, die jedoch auch einen Prozess der inneren Erosion zu verzeichnen hatte. Ihr fehlte die äußere Bedrohung als Kitt. In den europäischen NATO-Staaten verlangten viele Menschen nach einer „Friedensdividende“, die sie in unterschiedlichen Formen und Ausmaß auch bekamen: Kürzungen der Verteidigungshaushalte, Truppenreduzierungen um etwa 50 Prozent und de facto Abschaffung der Wehrpflicht:
Die Begründung: „Man sei von Freunden umzingelt“.
Die USA und Russland verloren an Bindungskraft.
Die globale Sicherheitslage wurde beinahe unüberschaubar. Alte Mächte – insbesondere Kolonialmächte – erlitten einen ungeheuren Machtverlust. Kolonien verlangten die Unabhängigkeit. Der daraus entstehende Nord-Süd-Konflikt überlagerte den „Ost-West-Konflikt“. Es kam zu tektonischen Verschiebungen, die noch heute, im Jahre 2018, nicht zur Ruhe gekommen sind.
In Asien entstehen neue Mächte – wie z.B. Beispiel China, Indien und Japan – während Russland hinter diese zurückfällt. Weltweit zählen heute 50 Staaten als sog.“failed states“, die die Herrschaft über ihr Territorium verloren haben und Sicherheit und Ordnung nicht mehr garantieren können – hauptsächlich in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Viele Nationalstaaten verlieren an Bedeutung. Es gibt sogar sog. “Experten“, die diesen Staaten keine Chancen mehr geben, ihre Zukunft vernünftig zu gestalten. Global agierende Großkonzerne haben größere Budgets als die meisten Mitgliedsstaaten der VN.
Sog. “NGOs“ – Nicht-Regierungsorganisationen – mischen sich ohne demokratische Legitimation in die große Politik ein (oder versuchen es).
Die VN sind politisch weitestgehend gelähmt. Notwendige Reformen scheitern an zahlreichen konkurrierenden Partikularinteressen.
Europa ist in mehrere Gruppierungen gespalten. Es spricht politisch nicht mit einer Stimme. Nach dem Ende des 2.Weltkriegs und während der nationalen Befreiungskriege galt die „Demokratie“ als Gütesiegel. „Freie, demokratische Wahlen“ wurden zu Eintrittskarten in die freie, demokratische Welt. Man übersah dabei, dass vielerorts die alten Machtstrukturen die „freien“, demokratischen Wahlen aber als Gewinner oder Nutznießer überstanden haben und jeden echten demokratischen Fortschritt verhindern.
Das kennzeichnet auch den sog. “Arabischen Frühling“, der ohne Übergang in einen „Arabischen Winter“ mutierte.
„Welt der Unordnung“
Die andauernden Konflikte – z.B. im Nahen/Mittleren Osten – werden uns noch Jahre begleiten und weitere „Flüchtlingsströme“ nach Europa leiten, besonders nach Deutschland, das diesen Menschen großzügige, beispiellose materielle Anreize bietet.
In der Summe aller globalen Konflikte stellt sich die sicherheitspolitische Welt als eine „Welt in Unordnung“ dar.
In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg und während der nationalen Befreiungskriege besonders in Afrika und Kleinasien waren Demokratien auf dem Vormarsch. Wenn junge Staaten nach den ersten „ freien Wahlen“ als Demokratien anerkannt wurden, waren dies Ereignisse, die gefeiert und weltweit in Statistiken aufgelistet wurden. In den Vereinten Nationen wurde auch Statistiken über Autokratien und Demokratien geführt. Bis vor wenigen Jahren nahmen die „westlichen Demokratien“ eine Vorbildfunktion ein – besonders in den eigenen Demokratien.
Die Strahlkraft der Demokratien hat mittlerweile weltweit nachgelassen.
Die wirtschaftlichen und machtpolitischen Erfolge der Autokratien haben Letzteren nicht nur in der eigenen Bevölkerung breite Zustimmung gebracht..
Die Kurzformel der Autokratien lautet: „Effizienz vs. Menschenrechte“.
Bertold Brecht hat es in der Dreigroschenoper etwas drastischer ausgedrückt: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“
Der Wettkampf der beiden Systeme wird bislang zu wenig als konfliktträchtig wahrgenommen. Er wird aber die Weltordnung in naher Zukunft verändern. Alte Allianzen werden aufgeweicht oder gar verschwinden, neue Allianzen werden neue Kraftfelder entstehen lassen.
Es geht um politische Macht und deren Projektion auf dem Globus.
Wie lange trägt wirtschaftliche und politische Effizienz – ohne Menschenrechte?
Kann der Schutz der Menschenrechte weltweit trotz wirtschaftlicher Schwächen aufrechterhalten oder gar ausgebaut werden? Sind die sog. “universellen Werte“ etwas, wofür sich das Kämpfen – nicht nur militärisch – lohnt ?
Autokratien im Vormarsch
China, Russland und die Türkei sind die Autokratien, die auf der Weltbühne die prominentesten und dynamischsten Beispiele vor anderen zahlreichen Autokratien bieten.
Wenn man auf einer Weltkarte Autokratien und Demokratien auf der Zeitachse der letzten 50 Jahre unterschiedlich farbig kennzeichnen würde, würde man den Vormarsch der Autokratien deutlich erkennen. Allerdings gibt es unter den 50 sog.“ failed states“ zahlreiche Autokratien, die zu den Verlierern zählen.
„Erfolgreiche“ Autokratien weisen zahlreiche gemeinsame Merkmale auf – neben einigen nationalen Facetten, die geopolitische und daraus resultierende geostrategische Ursachen haben.
Sie haben auch unterschiedliche außenpolitische und innenpolitische Ambitionen – bei unterschiedlichen machtpolitischen Potentialen und Interessen.
Die Gemeinsamkeiten sind: Ein-Personen- oder Ein-Parteienherrschaft, Durchregieren von der Spitze bis auf die untersten Ebenen – die sog. “Vertikale Macht“, die Gleichschaltung der Medien, Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, der Presse– und Religionsfreiheit sowie die Abhängigkeit der Justiz und keine fairen, freien Wahlen. Es herrscht harte Repression – eine Vermeidung des Begriffs „ Gefängnis“.
China ist heute – 2018 – die global stärkste und gefährlichste Autokratie
Der Verfasser hat in diesem Jahr bereits zwei Kommentare veröffentlicht, die den rasanten Aufstieg Chinas zur Weltmacht dokumentieren. ( siehe www.conservo.wordpress : „China zeigt seine Muskeln – eine Weltmacht gegen den wachsenden Einfluss des Westens vom 21.01 2018“ sowie „ Xi Jinping – der Kaiser von China“ vom 26.06.18). Der rasante Aufstieg ist mit seinem Namen verbunden – Xi Jinping, der „ Chairman of everything“.
Er vereint alle wesentlichen Machtpositionen in seiner – harten – Hand: Parteivorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas unbegrenzt, unbegrenzt Vorsitzender der Militärkommission sowie auf Lebenszeit Staatspräsident Chinas.
Er hat die Scheu von früheren chinesischen Führern abgelegt, über die Ziele chinesischer Politik zu sprechen.
Zur Verwirklichung des „chinesischen Traumes“ strebt er „ein wirtschaftliches und militärisches China an, das eine große Rolle in der Welt spielen soll“. Eine klare Kampfansage.
Die Mittel dazu soll die umfassende Strategie „ One belt. One road“ liefern – ein gigantisches Projekt, das 50-70 Staaten dieser Welt verbinden soll. Es soll überwiegend mit Investitionen aus diesen Ländern finanziert werden – ohne deren Mitsprache über die Verwendung der Mittel. Ein neuartiges Geschäftsmodell: China vergibt Darlehen zu marktüblichen Konditionen – in der Erwartung und Hoffnung, dass diese Länder mittelfristig die Schuldzinsen nicht bezahlen können. Für den Ausfall der Zinszahlungen erhält China das Kommando über das Objekt.
Der überwiegende Teil der Baumaßnahmen – besonders in der Verkehrsinfrastruktur – in Höhe von rd. 80 Prozent wird chinesischen Firmen übergeben. Die Gesamtkosten werden auf einige Trillionen Dollar geschätzt.
Neue Verkehrsverbindungen zu Lande, im Wasser und in der Luft sollen China besonders mit Europa verbinden. Der Binnenhafen von Duisburg soll zum größten Umschlagshafen chinesischer Produkte ausgebaut werden. Bereits 2018 erreichen täglich Güterzüge aus China Duisburg.
Eine besondere Rolle in den Planungen spielt die westliche Provinz Xinjiang. Vordergründig soll der Tourismus gefördert werden. Tatsächlich soll der Griff auf die unruhige Provinz verstärkt werden durch eine schnelle Verlegung von Streitkräften aus Zentralchina.
Xi Jinping spielt auch die nationale Karte und hat die Lehre von Konfuzius wieder verstärkt gefördert – in China und im Ausland.
Als Zwischenziel gilt das Jahr 2025, bis zu dem China in 10 Säulen der Schlüsseltechnologien eine „starke Macht“ sein will.
So weit, so gut.
Der Preis für die chinesische Bevölkerung
Die chinesische Bevölkerung zahlt für diese ambitionierte Politik einen hohen Preis. China ist auf dem Wege zu einem totalen Überwachungsstaat schon weit vorangekommen. Die rd. 800 Millionen Internetnutzer liefern dem Staat und seinen Geheimdiensten dermaßen viele Informationen über ihr Leben, die mit Hilfe der künstlichen Intelligenz nicht nur gesammelt, sondern schnell und umfassend ausgewertet werden. Ein Ergebnis ist ein Personenerkennungssystem, das innerhalb von Sekunden die von zahllosen Kameras aufgenommenen Bilder in die Erkennung der Person umgesetzt. So gilt die angesprochene westliche Provinz Xinjian , in der die Uiguren immer wieder Widerstand gegen die Zentralmacht leisten, als „Paradebeispiel“ Dort funktioniert die totale Überwachung. Hunderttausende von Uiguren sollen in sog. “ Umerziehungslagern“ ohne Gerichtsurteil eingesperrt sein. Die Provinz Xinjiang – offizielle Bezeichnung „Uigurisches Autonomisches Gebiet Xinjiang“ – dient als Blaupause für das gesamte China ( vgl. Spiegel 30/2018, „In der Strafkolonie“ von Bernhard Zand).
Eine neue Erfindung ist ein Punktekonto für jeden chinesischen Bürger oder Bürgerin. Auf diesem Konto, das mit 100 Punkten startet, werden die guten – aber auch die für den Staat schlechten – Leistungen festgehalten und ausgewertet. Es entscheidet über die Genehmigung von Reisen – besonders mit den superschnellen Fernzügen, über Erfolge oder Misserfolge im Beruf oder in der Partei. Ab 60 Punkten gilt der Kontoinhaber als „gefährlich“.
Sog. “ Dissidenten“ – also Oppositionelle – werden ebenfalls mit oder ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis oder in die bereits erwähnten Umerziehungslager gesteckt. Im „Extremfall“ wird die Todesstrafe vollstreckt. Nach offiziellen Angaben von Menschenrechtsorganisationen sollen in China jährlich 1000 Todesurteile vollstreckt werden – bei hoher Dunkelziffer.
Eine besondere Waffe Xi Jinpings ist der Vorwurf der „ Korruption“. Es trifft hohe Parteifunktionäre und Wirtschaftsführer, zu denen auch Menschen gehören, die Xi Jinping als für ihn gefährlich einschätzt. Er selbst soll mehrfacher Dollarmillionär sein. Woher hat er dieses Vermögen?
Allerdings gibt es in China immer wieder Aufbegehren der Bevölkerung. Pro Jahr soll es 100.000 sog. “major incidents“ geben, die durch massiven Einsatz von Polizei und Militär unterdrückt werden. In den meisten Fällen geht es um Landraub durch örtliche Parteifunktionäre, die „schwarzes Geld“ für illegale Bauvorhaben in ihre tiefen Taschen stecken.
Es stellt sich natürlich die entscheidende Frage: Kann dieses System die Politik gegen die eigene Bevölkerung auf Dauer durchsetzen?
China hat keine „soft power“. Es besitzt keine Attraktion für Ausländer. Weder für Studenten noch für Fachkräfte. Reiche Chinesen schicken ihre Kinder in die USA oder Großbritannien, um dort zu studieren. In diesen Ländern lernen sie andere Lebens- und Gesellschaftsformen kennen. Wie empfinden sie ihr eigenes Land bei ihrer Rückkehr? Sie haben keine materiellen Sorgen. Sie erhalten gute Jobs und werden so ruhig gestellt. Für immer ?
China hat nicht nur ein Problem mit den Uiguren, sondern auch mit den Tibetern. Hinzu kommt sein Anspruch, dass Taiwan als chinesische Provinz zu China gehört.
In den ost- und südchinesischen Meeren, die von China als „chinesische Binnenmeere“ beansprucht werden, setzt China seine aggressive Politik fort. Es schüttet – trotz des anderslautenden Urteils des internationalen Schiedshof in Den Haag aus dem Jahre 2016– weiterhin Inseln künstlich auf und baut auf ihnen militärische Einrichtungen. Diese Aktivitäten haben negative Effekte bei den Anrainerstaaten. Unter dem Schutz der Vereinigten Staaten verstärken sie ihre militärische Zusammenarbeit.
Chinas Führung lebt vom wirtschaftlichen Erfolg. Er ist der entscheidende Gradmesser. Man nutzt das Bild vom Fahrrad: Wenn es sich nicht mehr nach vorne bewegt, fällt es um.
Der derzeitige Handelskrieg zwischen China und den USA könnte das Fahrrad stoppen.
Eine solche Entwicklung würde global zu tektonischen Verwerfungen führen, die sich kein Verantwortlicher wünschen kann, aber er sollte frühzeitig einen Plan B entwickeln.
Man sollte daher jetzt und heute beginnen, die Abhängigkeit Deutschlands von dem wirtschaftlichen Erfolg China rasch und deutlich zu reduzieren. China ist keine Überlebensversicherung der deutschen Wirtschaft, und Industrie. „ China first“ kennt nur vitale nationale Interessen.
Demokratien – in der Theorie bestechend, in der realen Welt unter Druck
Viele Diskussionen über den Wert von Demokratie als Staatsform werden mit der Aussage von Churchill beendet, der 1947 vor dem britischen Unterhaus ausgeführt hat: „Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Basta. Schluss mit der Diskussion.
Zu seiner Zeit stimmte dies Aussage,
Gilt sie auch noch heute?
Die Menschen, denen es – wie beschrieben – in effizienten Autokratien wirtschaftlich gut geht, werden diese Frage anders beantworten.
In der Welt stehen beide Systeme heute in Konkurrenz zueinander. Der Ruf nach einem „starken Mann“ wird in Demokratien lauter, wenn die Leistungen demokratisch gewählter Führer nachlassen.
Nicht alle Staaten, bei denen Demokratie draufsteht, sind tatsächlich „ demokratisch“. Es gibt eine große Grauzone.
Warum verlieren Demokratien an Rückhalt in ihrem Volk und an Attraktivität im Ausland?
Die von dem amerikanischen Politologen Joseph S. Nye Jr. propagierte kluge Politik von „smart power“ beruhend auf „ hard“ und „soft power“ ist in etlichen westlichen Demokratien in Vergessenheit geraten ( siehe Joseph S. Nye. Jr. “ The Future of Power“, 2011, „Public Affairs“)
In Autokratien sind die Wege bis zur Entscheidung schneller und kürzer, sie unterliegen keiner Kontrolle durch die Medien oder Parlamente oder gar die Justiz.
Woher kommt die Politik- und Politikerverdrossenheit in Deutschland?
Der Verfasser beschränkt seinen Kommentar auf Deutschland, das er am besten kennt und beurteilen kann.
Er weiß, dass es in Europa auch Demokratien gibt, die ein hohes Ansehen im In- und Ausland haben – wie z.B. die Schweiz und Norwegen.
Die Wahlen in verschiedenen Ländern in der jüngsten Vergangenheit zeigen einen für die Demokratien gefährlichen Trend auf: Die früher „staatstragenden“ Parteien werden marginalisiert – siehe Frankreich, Italien und Spanien. Neue Parteien profitieren von diesem Ansehensverlust, ohne mit einer eigenen Programmatik zu punkten.
Gemäß „DeutschlandTrend“ vom 02.08.2018 sind 74 Prozent der Deutschen mit der Arbeit der deutschen Regierung unzufrieden. Die Parteien, die die „Große Koalition“ bilden, landen bei Umfragen unter 50 Prozent.
Wenn man diese Zahlen auf die Wahlbeteiligung umrechnet, werden diese Parteien nur noch von einem Viertel oder Drittel der Bevölkerung gewählt. Sind das noch „Volksparteien?
Die Nachteile des deutschen Verhältniswahlrecht
In Staaten mit Mehrheitswahlrecht gilt „The winner takes all“ – auch wenn die Mehrheit des Direktkandidaten minimal ausfällt.
In Deutschland gibt es schon seit etlichen Wahlen weder im Bund noch in den Ländern – Bayern ist noch eine Ausnahme – einen klaren Sieger mit einer absoluten Mehrheit.
Koalitionen sind die einzige Chance, an der Regierung beteiligt zu werden. So müssen drei oder vier Parteien in mühseligen und langwierigen Koalitionsverhandlungen zu einem Kompromiss kommen – oder nicht, wie es in Deutschland nach den Bundestagswahlen 2017 bei dem Versuch, eine sog. „Jamaikakoalition“ zu bilden, geschehen ist. Es kam dann zu einer „Koalition der Verlierer“. Ihre Bilanz nach 100 Tagen ist mager – siehe die Umfrage des „DeutschlandTrends“.
Angesichts einer „Welt in Unordnung“ und eines gespaltenen Europas – der französische Soziologe Emmanuel Todd kommt zu dem klaren Urteil „ Europa ist futsch“ (siehe sein Gespräch im Spiegel 32/2018) brauchen Demokratien respektierte Regierungen.
Je schwächer eine Koalitionen ist, desto mehr versucht die Regierung, außerparlamentarische Unterstützung – z.B. durch Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) –zu erhalten, die keine demokratischen Legitimationen haben, durch die beiden Staatskirchen und natürlich auch durch die Gewerkschaften, die zahllosen Lobbyisten sowie durch die Medien. Man versucht, jeden „mitzunehmen“. Man sucht den Konsens mit Vertretern von Partikularinteressen – wie z.B. mit Homosexuellen, denen man im Eilverfahren die „Ehe für alle“ schenkt, oder mit dem Eingehen auf „ Genderideologen“.
Um kritische Stimmen zu vermeiden, beherrscht die „ political correctness“ die öffentliche Diskussion. Verstöße gegen die „political correctness“ werden hart bestraft – bis hin zum de facto „Berufsverbot“.
In Deutschland kommt ein weiteres Handicap hinzu: Der Bundesrat, der bei der Genehmigung von Gesetzen eine entscheidende Rolle spielt. In 10 von den 16 Landesregierungen sind 2018 Parteien an der Macht beteiligt, die im Bund in der Opposition sind. De facto entsteht eine All-Parteien-Regierung, die „harte“ Gesetze – z.B. in der „ Flüchtlings- und Integrationspolitik“ – verhindert.
Es fehlt an „ Leadership“ in der deutschen Politik
In den etablierten Parteien kommt nur nach oben, wer über den notwendigen „Stallgeruch“ verfügt. Seiteneinsteiger sind unerwünscht.
Nach oben kommen, bedeutet, dass „ Kompromisse schließen“ gelernt werden. Das beginnt im Orts- oder Kreisverband. Kanten werden rund gemacht.
Die Kanzlerin und CDU-Parteivorsitzenden führt nicht, sie moderiert. Die Minister und – innen aus drei Parteien verfolgen in erster Linie deren Interessen. Ihre „Richtlinienkompetenz“ hat sie in 13 Jahren nur einmal angewandt bzw. angedroht.
Entscheidungen werden nicht durch intensive Beratungen in der Partei oder dem Parlament vorbereitet, sondern aus dem „hohlen Bauch“ getroffen.
So geschehen 2010 bei dem Bruch der „No-bail-out-Klausel“ des Maastricht-Vertrages, so geschehen 2011 bei der Entscheidung zur Abschaltung der Atomkraftwerke bis 2022 als Folge der Naturkatastrophe in Fukushima, bei der es keinen Toten durch auslaufende Nuklearenergie geben hat, der de facto Abschaffung der Wehrpflicht 2011sowie der einsamen Entscheidung am 4.September 2015, die deutschen Grenzen für Asylbewerber zu öffnen. Polizei und Behörden waren überfordert in der Registrierung und in der Aufnahme in überfüllten Notunterkünften. Noch heute weiß die Regierung nicht, wie viele „ Flüchtinge“ auf die Registrierung bewusst verzichtet haben und wo sie heute in Deutschland leben – und wovon?
Die Folgen der drei genannten Entscheidungen werden Deutschland und sein Volk noch Jahre finanziell, wirtschaftlich und kulturell belasten.
Es waren viele Ministerien und Behörden zuständig, aber keines hatte die volle Verantwortung. Und kaum einer wurde zur Verantwortung gezogen.
Das beste, aber erschreckende Beispiel ist der Fall Amri, der zum Tode von 12 Menschen geführt hat.
Dieses Regierungs- und Behördenversagen leistet einen wesentlichen Beitrag zu der Politik- und Politikerverdrossenheit in Deutschland.
Welcher qualifizierte, leistungsbereite junge Mensch verlässt seine gute Anstellung in der Industrie oder in der Wirtschaft, um Politiker zu werden?
Es macht nur der, der in der Politik einen sozialen und materiellen Aufstieg erwartet. Die Listen der Nebeneinkünfte von Politikern im Bund und in Europa führen zu der Frage, wie engagiert sie ihre Hauptaufgabe wahrnehmen.
Viele Arbeitnehmer in Deutschland wären froh, wenn sie die erwähnten Nebeneinkünfte als einzige Einkünfte in der Ausübung ihres Berufes hätten.
Deutschlands Topmanager – kriminell oder unfähig ?
Herbe Rückschläge für das Ansehen der deutschen Demokratie sind unbegreifliche Vorkommnisse in nahezu allen Bereichen – von den Dieselskandalen über die Bonizahlungen selbst für gescheiterte Topmanager, zu den Skandalen in der Lebensmittel- oder Pharmaindustrie. Dazu kommen Politik- und Behördenversagen bei der Verwirklichung großer Projekt vom Berliner Flughafen bis zu „Stuttgart 21“.
Das Zertifikat „Made in Germany“ hat im In- und Ausland schweren Schaden genommen.
Deutsche Topmanager – nicht alle – haben sich Jahre dafür feiern lassen, dass sie „ihr Haus“ im Griff hatten und bei den von ihnen geleiteten Großprojekten alles im Kosten- und Zeitrahmen verliefe.
Bei den Großvorhaben in Berlin und Stuttgart wurde der erstaunten Öffentlichkeit scheibchenweise mitgeteilt, dass sich Kostensteigerungen und Verzögerungen ergeben würden – und das über Jahre.
Konsequenzen?
Das Personal in Aufsichtsräten wurde zu einem geringen Teil ausgetauscht – mehr nicht.
Ein Topmanager der Automobilindustrie sitzt seit Kurzem in U-Haft, und einer ist zurückgetreten – mit einer sehr großzügigen Abfindung.
Die überwiegende Mehrheit zeigt weder Scham- noch Schuldgefühle, obwohl sie ihre Kunden belogen und betrogen sowie Milliarden Euro verbrannt haben. Ihr Krisenmanagement war und bleibt unterirdisch. Das gilt auch für Vertreter der Gewerkschaften, die in den Aufsichtsräten der Konzerne ein „bescheidenes Zubrot“ verdienen.
Topmanager, die sich jahrelang als „Technikfreaks“ haben feiern lassen, haben die kriminellen Aktivitäten nicht gekannt – oder nicht kennen wollen.
Die sog. “Selbstreinigungskräfte“ versagen. Es geht nicht primär um strafrechtliche Konsequenzen.
Je höher die Position ist, umso höher ist die Verantwortung für korrektes Einhalten von Regeln.
Die Verantwortung ist nicht teilbar. Es gibt offensichtlich keinen „Ehrenkodex“, der betroffene Topmanager zum freiwilligen Rücktritt oder – bei Weigerung – zur Entfernung aus seiner Position führt, ohne eine Gerichtsurteil jahrelang mit Hilfe von gut bezahlten Anwälten herauszuschieben.
Ob ein Topmanager kriminell oder unfähig ist, spielt für die Außenbetrachtung eine nachgeordnete Rolle. Er hat versagt.
Diese „großzügige“ Behandlung der Versager verstärkt den Eindruck bei dem „normalen“ Arbeitnehmer, „dass man die „Kleinen“ hängt, aber die „Großen“ laufen lässt.
Die Kritik muss sich auch an die Behörden und Institutionen richten, die in ihrer „Dienstaufsicht“ ebenfalls versagt oder weggeschaut oder mitgemacht haben – ohne erkennbare Konsequenzen. Braucht man solche „Bundesämter“ und Institutionen überhaupt? Nimmt man hin, dass tausende Lobbyisten permanent in den Amtsstuben bei Gesetzentwürfen „helfen“, weil die zuständigen Beamten es angeblich alleine nicht schaffen?
Durch das Ausmaß solcher Hilfen und das Versagen der Topmanager stellen sich etliche der 40 Millionen Erwerbstätigen die berechtigte Frage, ob diese Situation in der deutschen Demokratie nicht zu ändern , sondern als „gottgegeben“ anzusehen ist.
Dann braucht man sich über Politik- und Politikerverdrossenheit nicht zu wundern.
Das sinkende Vertrauen in Demokratien stärkt den Wunsch nach einer starken Hand in der Politik. Die Autokratien lassen grüßen.
Wie geht es weiter im Kampf der Systeme ?
Natürlich können Autokratien und Demokratien nebeneinander herleben, solange sie auf eine aggressive Außenpolitik verzichten und bestehende Grenzen akzeptieren.
Das ist jedoch bei den drei größten Autokratien China, Russland und der Türkei nicht zu erwarten.
Sie wollen ihre Macht und Einfluss exportieren – im Falle der Türkei mit Hilfe des politischen Islam, den die beiden anderen Autokratien als Bedrohung einstufen. Russland führt seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin im Jahre 2004 einen blutigen Krieg in den islamisch geprägten Republiken im Süden des Landes.
Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim zeigt seine Bereitschaft, Grenzen zu verändern – wenn das Risiko kalkulierbar ist.
In Demokratien soll expressis verbis die Macht vom Volke ausgehen. Das Volk ist der Souverän, der Mandate auf Zeit vergibt. Wenn das nicht mehr funktioniert, kann und wird der Souverän das Mandat entziehen, was bei Wahlen in Europa geschehen ist.
Auch in Deutschland gibt es bedenkliche Zeichen an der Wand.
Es ist nur sehr schwer möglich, Vertrauen und Ansehen im eigenen Volk zurückzugewinnen.
Der einzige Rettungsanker ist der wirtschaftliche Erfolg.
Wenn dieser bei Autokratien und Demokratien schwächer wird, werden es beide schwer haben, den jetzigen Status zu erhalten. Die Geschichte ist voller Beispiele vom Aufstieg und Fall von Staaten.
In Deutschland sind Dynamik, Transparenz der politischen Entscheidungsfindungen, Innovationsbereitschaft und Optimismus in Gefahr, durch eine Regierung, die schon zu lange mit demselben Personal im Amt ist.
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*) Brig.General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.
Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.
Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.
In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt.
Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegenerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.
Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.
Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.
Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.
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www.conservo.wordpress.com 10.08.2018