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Von Dr. Wolfgang Caspart
Folgt man der systemischen Ansicht, dass die Menschheit selbst ein Subsystem eines übergeordneten Systems ist, beispielsweise der Natur, dann haben auch ihre Einrichtungen der über sie hinausgreifenden Ordnung Rechnung zu tragen. In ihr gelten unabhängig von menschlicher Zustimmung oder von Menschen „positiv“ gesetztem Recht allgemeingültige Grundsätze. Die Berufung auf überpositives Recht geht davon aus, dass bestimmte Rechtssätze unabhängig von der konkreten Ausgestaltung durch die Rechtsordnung „schlechthin“ Geltung beanspruchen und somit durch einen positiven Akt der Rechtssetzung weder geschaffen werden müssen, noch außer Kraft gesetzt werden können.
NATURRECHT UND SEIN GEGNER
Nicht zuletzt für die Grundrechte gilt die Überzeugung, dass jeder Mensch von Natur aus mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sei, unabhängig von Geschlecht, Alter, Ort, Staatszugehörigkeit oder Rasse. Dazu gehören das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf persönliche Freiheit. Die Naturrechte gelten demnach als vor- und überstaatliche „ewige“ Rechte. Das überpositive Recht geht dem positiven Staatenrecht voran und ist ihm übergeordnet. Das Naturrecht beruht nicht in einer unveränderlich für alle Zeiten gleichen Moralkasuistik, sondern in den das vollmenschliche Sein bedingenden und den Menschen verpflichtenden Grundwerten oder Grundprinzipien. (Messner 1950).
Dagegen vertritt der Rechtspositivismus die Auffassung, dass „Recht“ mit den positiven, d. h. vom Gesetzgeber gesetzten oder als Gewohnheits- oder Richterrecht geltenden Normen gleichbedeutend ist. Als Antithese zum Naturrecht taucht der Rechtspositivismus bereits bei den Sophisten des alten Griechenland auf. Formale Kriterien der Rechtsentstehung, Rechtsdurchsetzung oder Rechtswirksamkeit genügen für die Kennzeichnung sozialer Normen als „Recht“, ohne inhaltlich auf übergesetzliche Erkenntnisquellen wie Religion, Ethik, Gerechtigkeit, Naturgesetze oder Vernunft zurückzugreifen. Die Rechtswissenschaften werden einer faulen Vernunft. Damit kann positiv gesetztes Recht in seinem Inhalt auch zu legislativem Unrecht führen (Radebruch 1946).
Die schwankende Meinung eines laufend manipulierten „Demos“ kann natürlich nicht als Ausweis eines überpositiven und „ewigen“ Rechtes herhalten. Vielen naheliegender schien es, sich dem Positivismus zu verschreiben und diesem gleich Religionsstatus zu verleihen (Comte 1852). Da absolute Erkenntnis unmöglich zu erlangen sei, solle man bei der Suche nach Ursprung und Bestimmung des Weltalls und des einzelnen oder der Naturgesetze von übergeordneten, transzendentalen Gesichtspunkten absehen – die Wissenschaft habe sich auf das „positiv“ Erkenn- und Beweisbare, auf Beobachtungen zu konzentrieren und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Nach dem „kindlich“ religiösen und dem „jungenhaften“ metaphysischen würde das „männliche“ Stadium der positiven Wissenschaften mit historischer Notwendigkeit eintreten. In Nachfolge Condorcets (1795) und in Vorgriff auf Marx (1867) entwickelte Auguste Comte einen geschichtlichen Automatismus, den er zur „Religion der Humanität“ steigerte.
RECHTSPOSITIVISMUS
Da absolute Erkenntnis unmöglich zu erlangen sei, sollte man dem Rechtspositivismus folgend bei der Suche nach Ursprung und Bestimmung des Weltalls, des Individuums oder der Naturgesetze von übergeordneten, transzendentalen Gesichtspunkten absehen. Die Wissenschaft habe sich auf das „positiv“ Erkenn- und Beweisbare, auf Beobachtungen zu konzentrieren und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Weil freilich empirische Erkenntnisse immer nur provisorisch bis zur ihrer Falsifizierung gelten (Popper 1935), gibt es keine verbindlichen Rechtsgrundlagen. Die Wissensfindung unterliegt Modeströmungen und Paradigmenwechseln (Kuhn 1962). Auch in der Demokratie bestimmen unüberhöht die jeweiligen Regierenden und herrschenden Parteien, was Recht ist und Gerechtigkeit sein soll.
Die Auswirkungen der Ablehnung einer transzendentalen Fundierung der Demokratie lassen sich die ganze Geschichte des demokratischen Zeitalters hindurch verfolgen. Jede neue Regierung definiert ihr Recht von vorne, ohne an höheren Grundsätzen, die nicht „positiv“ erkenn- und beweisbar sind, gebunden zu sein. Klassische Philologie, Geschichte und Philosophie scheinen nicht mehr „praxisrelevant“. Kein Wunder, dass das Unterrichtsfach Geschichte bei heutigen Demokraten nicht den besten Ruf genießt, sie würde zu Peinliches zu Tage fördern. Dem Aufgehen in der augenblicksbezogenen und geschichtslosen Oberflächlichkeit steht nichts mehr im Wege. Beliebige Ideologien und Utopien beherrschen den politischen Diskurs genauso wie die politische Praxis.
Jüngstes Zeichen für die Transzendenzfeindlichkeit emmanzengeleiteter Demokraten ist in internationalen Organisationen die Ablehnung des Gottesbezuges im europäischen Verfassungsentwurf. Man will ausdrücklich kein „Christenklub“ sein. Die Demokratie, ursprünglich nur eine Organisationsform für Macht, ist zum unüberhöhten Selbstzweck und zur Ersatzreligion geworden, ihre Herrschaft sichert sie sich durch die „softcontrol“ der „political correctness“. Die Entwicklung verlief über die Transzendenzfeindlichkeit und Gottlosigkeit über die Sinnlosigkeit zur heute das öffentliche Leben prägenden Ratlosigkeit. Der Hauptleidtragende dieser Entwicklung ist dabei nicht die Metaphysik, denn ihre Gültigkeit hängt prinzipiell nicht von der Zustimmung oder Ablehnung der momentan tonangebenden Mode ab, sondern die Demokratie. Indem sie sich in ihren Grundlagen vom Materialismus abhängig gemacht hat, muß auch sie in ihren Grundfesten schwanken, sobald er mit seiner Weisheit am Ende ist. Wer das demokratische Prinzip retten will, sollte es schleunigst vom Ballast der materialistischen Ideologie befreien, idealistisch ausrichten und transzendental fundamentieren (Caspart 2008, S. 107).
LEGALISMUS UND GEWALTHERRSCHAFT
Ohne sittliche Verankerung geht der Rechtspositivismus nahtlos in den Legalismus über. Der Wunsch des Herrschers ist Befehl, wer die Macht hat, hat auch das Recht. In der Haltung, seine Handlungen an selbst kreierten und damit positiv erkennbaren Rechtsnormen auszurichten, verliert das Recht jede übergeordnete Legitimität. Es kommt auf die Macht des Herrschers und die Stärke des Staates an, konsequente Belohnungen und Bestrafungen führen zur Disziplinierung der Untertanen (Ching Ping und Dennis Bloodworth 1977). Den Technokraten der Macht ist Gewaltenteilung ein Unwort. Es kommt auf die richtige Handhabung von Macht, Methoden und Gesetz an. Legalität ist nicht mit Legitimität identisch und zu verwechseln.
Nicht nur in China werden Kultur- und Geisteszeugnisse zerstört, wenn es den Machthabern ins Konzept passt und die Gesetze (chinesisch Fa) nicht mehr auf den Sitten (chinesisch Li) beruhen. Die Staats- und Moralphilosophie des Konfuzianismus hat der Tschin-Kaiser zu vernichten versucht, seine Bücher verbrannt und hunderte Philosophen umbringen lassen. Ähnliches kommt direkt wie indirekt bis in unsere Tage immer wieder vor. Am Harmlosesten ist es noch, die Bürger in die Schweigespirale hineinzumanipulieren (Noelle-Neumann 1991 und 2001). Der Schritt in die Gesinnungsdiktatur ist nicht mehr weit, und der entgeistigte Legalismus fließt unmittelbar in die nur mehr aus sich und den eigenen Machterhalte bezogene Gewaltherrschaft ohne höheren Auftrag. Die schönen Phrasen von Moral, Menschlichkeit und Demokratie sind nur Flitter und Residuen, wenn das gesetzliche Recht nicht auf dem übergesetzlichen Recht fußt.