(www.conservo.wordpress.com)
Von Dr. Wolfgang Caspart
Wer weiß, wohin er will, wird auch die Wege dazu finden. Eigentlich ganz einfach. Sich ohne konkrete Vorstellungen nur treiben zu lassen, führt nämlich zu keinem Ziel. Stellt sich die Frage, welche Ziele suchen die Menschen? Über die Zahl der Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Vorsorge, Ansehen und Liebe (etwa nach Maslow 1977) haben die Menschen eine Unzahl an Motiven und Zielen. In weiterer Folge durchläuft das Individuum zu seiner Selbstverwirklichung verschiedene Entwicklungsstufen. Ein Kleinkind hat andere Bedürfnisse als ein Heranwachsender, ein Student andere als ein Professor. Ein Geisteswissenschaftler setzt sich andersartige Ziele als ein Naturwissenschaftler. Ein Physiker steht vor anderen Problemen und Aufgaben, die er lösen will, als ein Theologe.
WEGE
Von der Grundschule an über den sekundären zum tertiären Bildungsbereich bedarf es Anleitung, Schulen und Lehrer. Es bilden sich Traditionen, denn keine Generation fängt wieder im Cro Magnon von vorne an (Lorenz 1987). Zunächst wird eine spezielle Muttersprache und dann in der Grundschule eine kultur-spezifische Schrift erlernt. Aus diesen Wurzeln findet jede Weiterentwicklung statt. Wie jede Kulturtechnik wird ein Ziel um so weniger im Handumdrehen erreicht, je anspruchsvoller oder ehrgeiziger es gesetzt ist. Jede Zielerreichung kann erst durch die Erledigung von Zwischenzielen erlangt werden. Stets bedarf es Anregungen, Vorbilder und Lehrer, die eine Weiterbildung erst ermöglichen. Je höher ein angepeiltes Ziel liegt, desto zahlreicher werden die zu absolvierenden Zwischenstufen. Wer eine Prüfung bestehen will, kommt nicht umhin zu lernen. Mit einer einzigen Prüfung ist freilich noch wenig erreicht, viele weitere werden folgen.
Professoren und Literatur können helfen und vermitteln, ersetzen aber nicht das individuelle Engagement des Schülers. Wie im Straßenverkehr helfen Wegweiser bei der Zielerreichung, doch auf dem Weg muss sich jeder selber machen. Setzt sich ein junger Mensch bloß das Ziel, ein Automobil lenken und fahren zu wollen, muss er einen Führerschein erwerben, den er erst nach vorangehenden Kursen und zuletzt einer Prüfung erhält. Wer sich für den Reitsport interessiert, kann sich nicht so ohne weiteres auf den Rücken eines Pferdes setzen und glauben, deshalb schon ein Reiter zu sein. Beabsichtigt ein Pferdeliebhaber, sich alle Übungen der Hohen Schule anzueignen, bedarf es einer jahrelangen Ausbildung unter Anleitung ausgezeichneter Trainer, um Piaffen, Transversalen, Pirouetten, Levaden, Galoppwechsel usw. zu beherrschen. Um eine Skipiste abfahren zu können, muss man den Skisport erlernt haben. Jedermann versteht, dass ein Flieger die Aviation studieren muss, welches er nie alleine bewerkstelligen kann, sondern einer intensiven Ausbildung durch Fachleute bedarf. Niemandem sei es angeraten, beim ersten Tauchversuch flugs eine Flasche umzuschnallen und in der Tiefe zu verschwinden, ohne einen Tauchkurs absolviert zu haben, wenn er wieder heraufkommen möchte.
LEHREN UND LEHRER
Wer einmal Nobelpreisträger werden will, wird nicht umhin können, sein Fach gründlich kennengelernt zu haben. Als halbwegs brauchbarer Politiker sollte man in Geschichte versiert sein, denn die Politik von gestern ist die Geschichte von heute und die Politik von heute ist die Geschichte von morgen. Wer Krieg führt, sollte sich in der Kriegsgeschichte auskennen (Delbrück 1900 – 1920). Noch nie etwas von Platon gehört zu haben, qualifiziert auch den engagiertesten Schlauberger noch nicht zum Philosophen (Whitehead 1929). Von oder über Gott zu sprechen, ohne das Wesen und Zustandekommen von Religion verstanden zu haben (Mensching 1959), ist eine armselige Theologie und führt nur zu einem überflüssigen Geschwätz.
Zum Meditieren bedarf es Exerzitienleiter, Gurus („Dunkelheitsvertreiber“) oder Zen-Meister. Einem Psychologen ohne tieferen Erfahrungen und Einsichten in die Dimensionen des menschlichen Bewusstseins (Wilber 1977) sollte man sich besser nicht anvertrauen. Keinem Techniker würde es einfallen, eine Maschine zu bedienen und zu warten, ohne ihre Funktionsweise verstanden zu haben. Über Wissenschaft zu streiten, macht erst einen Sinn, wenn man sich vorher über Wissenschaftstheorie informiert hat und etwa über Hermeneutik, Heuristik und Naturwissenschaft im Bilde ist (Gadamer 1960).
SOZIALE WECHSELWIRKUNGEN
Eine individuelle wie auch eine kollektive Entwicklung beruht immer auf sozialen Wechselwirkungen und kulturellen Rückkoppelungen. Sei es im Guten oder sei es im Bösen, ein Solipsismus (solus ispe = lat. „alleine selbst“) ist irreal. Ohne Wärmelehre kamen weder Relativitätstheorien noch Unschärferelation zustande. So großartig Einzelleistungen auch sein mögen, sind sie ohne Umfeld, Anregungen und Voraussetzungen undenkbar. Jeder steht auf den Schultern seiner Vorgänger – und kann auch auf ihnen ausgleiten. Die gelungene oder misslungene Interaktionen der Generationen bestimmt die Richtung. Die Jungen sind meist durch eine größere Neugierde bevorzugt, werden aber durch geringere Erfahrung benachteiligt. Die Reife und Weisheit des Alters bremst hingegen oft den Schwung der Erkenntnis und die vitale Kraft. Wie die Ziele der Menschen sind auch die Wege zu jenen sowohl unterschiedlich als auch verschlungen.
Verarbeitet werden neue Erfahrungen, wenn sie mit dem bisher Kennengelernten in Verbindung stehen. Ohne Bezug zu den schon gewonnen Kenntnissen wird nichts Neues gelernt und sinnvoll rezipiert. Kreativität entsteht aus anregenden Ereignissen und Überlegungen, die mit dem bisherigen Erfahrungsschatz in Verbindung gebracht werden. Erlebnisse ohne Zusammenhang mit den bis jetzt Erfahrenen stehen entweder als unverstandenes Traumata im Raum oder werden wieder vergessen. Aus den Assoziationsketten der bisherigen Wahrnehmungen erwachsen die Ziele und Wege zur Weiterentwicklung. Gelernt wird am besten durch überzeugende Vorbilder, denen man nachstrebt und die man vielleicht noch übertreffen kann. Ohne übergreifende Zusammenhänge entstehen nur zusammenhanglose Trümmer, die mehr verwirren als erklären, oder bestenfalls Phantasmagorien.
ZIELSETZUNG
Zielsetzungen ohne Verständnis für die gegebenen und notwendigen historischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen münden in willkürlichen Flausen. Aufgrund einer vorweggenommenen Vorstellung von einer Problematik tendieren einige „Intellektuelle“ dazu, ihren einmal eingenommenen Standpunkt zu generalisieren und ihnen alles andere unterzuordnen. Auf diese Art und Weise werden Theorien zur Ideologien, Partialwerte zu Utopien und Bekenntnisse zu Dogmen aufgeblasen (Caspart 1987, S. 77 ff). Naturwissenschaftler sprechen dann gerne den Geisteswissenschaften die Wissenschaftlichkeit ab, ohne begriffen zu haben, dass auch die naturwissenschaftlichen Axiome über Heuristik und Hermeneutik geisteswissenschaftliche Ursprünge besitzen (Gadamer 1960) und empirische Erkenntnisse grundsätzlich nur eine provisorische Gültigkeit beanspruchen können (Popper 1935).
Um sinnvolle Ziele zu verfolgen und zukünftige Probleme zu lösen, sollten die allgemeinen Rahmenbedingungen, die „Kontrollparameter“, verstanden und optimiert werden, anschließend jedoch den Ordnungsparametern ihre selbstorganisierende Ausgestaltung überlassen bleiben. Komplexe Systeme halten sich nämlich durch ihre „Ordnungsparameter“ selbst in einem flexiblen Gleichgewicht (Dress u.a. 1986). Wer in die autonomen Ordnungsparameter eingreift, stört die Selbstorganisation (Autopoiese), destabilisiert das Gesamtsystem und geht folglich kontraproduktiv vor. Je krasser, massiver und uneinheitlicher in die Ordnungsparameter interveniert wird, desto leichter stürzt das Gesamtsystem ins Chaos (Gleick 1988). Nur mühsam und langsam erzeugen dann nach chaotischen Ereignissen die Ordnungsparameter ein neues Gesamtsystem, das dem früheren selbstähnlich, aber nicht mit ihm identisch ist (Hacken 1991). Kontrollparameter stützen als nachhaltige Grundsatzentscheidungen langfristige Weichenstellungen, um die richtigen Wege zu realistischen Zielen zu entwickeln. Ein berechtigtes Vertrauen in optimierte Kontrollparameter lässt den Ordnungsparametern großzügig ihre freien Wege (Malik 1992) und führt alleine zu konstruktiven Ergebnissen und Zielen. Der Weg ist nicht das Ziel: kontrollparameterische Perspektiven brauchen keine sich im Kreise drehenden Turnübungen von Eingriffen in die Ordnungsparameter. Wer weiß, wohin er will, findet die Wege dorthin von selbst.