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Von Maria Schneider
Es ist meine vorletzte Tour vor Weihnachten und ich bin ganz schön geschlaucht. Um mir bei meinem halbstündigen Aufenthalt in Hildesheim die Zeit zu vertreiben, gehe ich meinem Hobby nach und fotografiere den Bahnhof. Sofort fallen mir die schönen, gebrannten Kacheln am Ende der Gleise auf, die in die Wand eingelassen sind und die Entwicklung der Dampflok zeigen. Ich fotografiere sie und stelle dabei fest, dass die Namen „Mahmoud“ und „Fadel“ in die harte Glasur der Kacheln gekratzt wurden. Es hat die beiden sicherlich recht viel Zeit gekostet, ihre Markierungen im Gedenken an ihre überragende Intelligenz zu setzen, denke ich mir, aber offensichtlich wurden sie wohl von niemandem gestört.
In der Bahnhofshalle weiche ich zwei Afrikanern aus, die auf einem Rad schlingernd im Kreis fahren und sich lauthals unterhalten. In der Mitte der Halle stehen die üblichen metallenen Sitzgelegenheiten. Auf einem der Sitze schläft seitlich gekrümmt ein Obdachloser. Wie so oft in Bahnhofshallen beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Dennoch gehe ich auf den Vorplatz, um meine Mission fortzusetzen und den Christbaum zu fotografieren. Da steht er, allein auf weiter Flur. Etwas trostlos, mit ein paar Lichtern oben um die Spitze gefädelt. Die Wahrheit ist, ich habe schon Schönere gesehen und verbuche den traurigen Anblick unter „das arme Hildesheim hat noch nicht mal genug Geld für einen anständigen Christbaum“.Zurück in der Halle stelle ich mich in der hellen, traditionellen Familienbäckerei hinter einem Ehepaar mit Kindern an. Wieder einmal ertappe ich mich dabei, dass ich diese Art Familie gerührt anstarre, einfach, weil der Anblick inzwischen in manchen Regionen so selten geworden ist. Die Eltern und ihre beiden Kinder sind blond, hellhäutig und blauäugig. Die Schönheit der Frau und der wohlerzogenen, gepflegten Kinder ist beeindruckend.
Kaum habe ich es mir mit meinem Tee gemütlich gemacht, kommt die Mitarbeiterin und vertreibt mich. Punkt 20.00 Uhr ist Schluß. Das war wohl nichts mit der kurzfristigen Geborgenheit. Also wieder hinaus in die Halle, wo das fremde Leben tobt. Routinemäßig verschaffe ich mir einen Überblick über die Gesamtlage. Der Obdachlose schläft noch. Auf der ihm gegenüberliegenden Sitzreihe sitzen drei junge Migrantenmädchen, um die 16 Jahre alt, mit schwarzem Haar und stark geschminkten Augen. Ein weiteres Mädchen steht neben ihnen. Sie unterhalten sich ununterbrochen und kichern vor sich hin. Ich beschließe, mich auf den vierten freien Platz neben den Dreien zu setzen, um Teil des Pulks zu werden und weniger Angriffsfläche zu bieten, als wenn ich alleine wäre.
Kaum entspanne ich mich etwas, naht Gefahr. Ein arabischer Junge setzt sich mir gegenüber. Schmächtig ist er, ohne Bartwuchs und höchstens 16 Jahre alt. Dennoch strahlt er schon das typische Machogehabe und Primatenprahlerei aus. Er bedenkt den schlafenden Obdachlosen neben sich mit einem Blick voll belustigter Verachtung und beginnt, die Mädchen und mich anzustarren. Sofort sagt eines der Mädchen leise: „Kommt, wir machen den Abgang.“ Wie auf Kommando stehen alle drei auf und setzten sich geschlossen auf die Reihe hinter mir, mit dem Rücken zu mir und dem jungen Araber.
Nun sind noch der Araber, der Obdachlose und ich übrig. Der Araber – er könnte mein Sohn sein – sucht meinen Blick, ich weiche ihm aus, blicke auf mein Handy und bin genervt.
„Na toll“, denke ich, „der hat mir gerade noch gefehlt“, als ein alter Obdachloser mit ledergegerbter Haut und Zahnfriedhof sich zwei Plätze neben mir niederlässt und aus seiner Bierdose trinkt. Ich ringe innerlich mit mir und versuche abzuwägen, was besser ist. Hier in der relativ warmen Halle ausharren oder schon jetzt auf das kalte, zugige Gleis gehen.
Noch während ich mit mir debattiere, taucht ein Mann mit einem Fahrrad auf und posiert regelrecht vor dem jungen Araber. Der bewundert das Fahrrad:
„Schönes Fahrrad hast Du. Willst Du verkaufen?“
„Nein. Brauch’ ich selber.“
„Ach komm schon. Wie viel willst Du dafür? 50 Euro?“
„Nein. Brauch’ ich doch selber.“
„Ich geb’ Dir 40 Euro. Was meinst Du, wallah?“
„Whalla. Vielleicht. Ich überleg’s mir.“
„Wallah“, bei Gott, ist das Codewort. Bestanden noch Restzweifel, so ist nun klar, dass man zum gleichen Stamm gehört, auf jeden Fall nicht deutsch ist und der Handel beginnen kann. Eh’ ich mich versehe, verlassen beide wie auf ein geheimes Signal hin die Halle, um das Geschäft mit dem – wie ich vermute – gestohlenen Fahrrad zu besiegeln.
Erleichtert atme ich auf und lese die Nachrichten auf meinem Handy, während die Mädchen hinter mir giggeln.
„Geht es Ihnen gut?“ Ich schrecke auf. Denn die Besorgnis in der Stimme ist echt, was nachts in einer Bahnhofshalle so selten ist wie Schnee in der Sommersonne. Vor mir steht ein junger Mann, ein „Hemd“ würde man in meiner Gegend sagen. Struppiges, blondes Haar und rappeldürr, mit pickligem Gesicht, höchstens 17 Jahre alt. Allerdings gilt seine Sorge nicht mir, sondern den schlafenden Obdachlosen, der inzwischen noch schiefer in den Seilen hängt.
Ein junger, bärtiger Migrant ist ebenfalls wie aus dem Nichts erschienen und gibt in kehligem, stakkatoartigem Deutsch den hilfreichen Tipp: „Hau’ ihm eine aufs Maul, dann weißt Du, ob er nur schläft.“
Der junge Mann läßt sich nicht beirren und geht vor dem Schlafenden in die Hocke, nimmt ihn genauer in Augenschein und spricht ihn nochmals an, während der Migrant um ihn herumtigert und das Ganze von oben herab aus sicherer Entfernung beobachtet.
Als der Helfer sich wiederaufrichtet, beschließe ich, ihn zu ermutigen und sage: „Das ist aber toll von Ihnen, dass Sie sich um ihn kümmern.“ An diesem Punkt hören sogar die Mädchen auf zu schnattern und drehen sich um. Aller Augen sind nun auf den jungen Mann gerichtet.
Aber auch die plötzliche Aufmerksamkeit erschüttert ihn nicht. Er fängt sogar an, einen kleinen Vortrag zu halten: „Ich habe eine Sanitäterausbildung gemacht. Daher weiß ich, dass man helfen muss, wenn man das Gefühl hat, dass ein Mensch bewußtlos ist. Das ist er aber nicht, denn sonst hätte er sich eingenäßt. Also scheint er wirklich nur zu schlafen.“
„Das hat man trotzdem selten, dass heutzutage jemand einfach so hilft“, merke ich an. „Und deshalb haben Sie heute meinen Abend gerettet.“
„Das ist doch selbstverständlich“, meint der junge Mann.
Die Gesichter der Gänschen bleiben blank. Sowohl die Hilfeleistung, als auch der kleine Fachvortrag scheinen wie an einer Glaswand abzugleiten. Der junge Mann und ich sind für sie wahrscheinlich nichts weiter als ein Kuriosum oder eine willkommene Abwechslung.
Dafür kommt zwei Plätze weiter etwas Bewegung in den alten Trinker. „Ja, ist ganz selten heutzutage, dass man sich umeinander kümmert. Ganz selten.“ Ich wende mich ihm zu und unsere Blicke treffen sich. Blaue, wache Augen, tief im faltigen Gesicht eingegraben. „Ja, das stimmt“, erwidere ich und bemerke überrascht, wie in mir – der hartgesottenen Geschäftsfrau – etwas aufbricht und ich auf einmal den Tränen nahe bin. Ohne Worte fühle ich mich plötzlich mit den drei Männern verbunden: dem Trinker, dem Helfer und dem Obdachlosen, während sich die Mädchen und der bärtige Migrant abwenden.
Für kurze Zeit sitzen wir inmitten einer Insel der menschlichen Wärme, umgeben von der Härte des Lebens. Ja, die Zeiten haben sich verändert, die Menschlichkeit hat sich verkrochen und ja, die Angst sitzt uns in den Knochen. Und doch hat ein junger Mann an diesem Abend, in dieser Stunde, den Geist der Weihnacht angelockt und unser Mitgefühl geweckt, die Erinnerung daran, was war und auch heute noch möglich ist. Änderung ist möglich und der Geist der Weihnacht’ weht überall – wenn nur einer den Anfang macht.