Vereintes Tirol als „Europaregion“ – eine Schimäre

(www.conservo.wordpress.com)

Von Reinhard Olt ‘)

Niemand fasste die Malaise in treffendere Worte als der Landeskommandant der Südtiroler Schützen: Dass er seit nunmehr hundert Jahren zum italienischen Staat gehöre, sei für den südlichen Teil Tirols negativ. Demgegenüber müsse, wer einen ungetrübten Blick auf die Geschichte werfe, das Positive darin erkennen, dass „wir nicht von italienischen Politikern, italienischer Verwaltung und italienischen Gewohnheiten, die wir uns angeeignet haben, abhängig waren, als Tirol noch eins war“. Major Elmar Thaler nahm die alljährlich im Februar stattfindende Landesgedenkfeier für den Volkshelden Andreas Hofer in Meran zum Anlass, um „überbordende Gesetze, ausufernde Bürokratie, Schikanen gegenüber Betrieben, Beschlagnahme von Autos, nur weil ein ausländisches Kennzeichen drauf ist“, zu kritisieren, denen seine Landsleute unterworfen seien.

Nicht allein das – als einige Tage zuvor 30 Zentimeter Neuschnee und einige Lawinen den Verkehr über den Brenner lahmgelegt hatten, sodass zwischen Innsbruck und Trient (vice versa) für nahezu 30 Stunden so gut wie nichts mehr ging, habe „jeder, egal ob in Nord- oder Südtirol, dem anderen die Schuld gegeben“, sagte Thaler. Zu Recht fragte der ranghöchste Repräsentant des nach wie vor uneingeschränkt für die Tiroler Landeseinheit einstehenden Südtiroler Schützenbundes (SSB), wo denn in dieser winterlichen Notsituation die angeblichen Segnungen der seit einem Vierteljahrhundert in Sonntagsreden vielbeschworenen „Europaregion Tirol“ ihren Niederschlag gefunden hätten. Fehlanzeige – dieses Gebilde existiere lediglich auf dem Papier; es sei bei den Politikern, die stets davon sprächen, noch nicht angekommen, und beim Volk schon gar nicht, resümierte Thaler.Ein niederschmetternder Befund

Das ist ein niederschmetternder Befund, der von der überwiegenden Mehrheit aller Tiroler zwischen Kufstein und Salurn sowie aller Welschtiroler (Bewohner des Trentino) zwischen Kronmetz (Mezzocorona) und Borghetto geteilt werden dürfte, sofern diese überhaupt etwas mit diesem Begriff respektive dessen schlagwortartiger Verkürzung „Euregio Tirol“ anzufangen wissen. Diese Skepsis sieht sich in der Umfrage „Jugend und Politik“ des Südtiroler Statistik-Instituts ASTAT vom August 2017 bestätigt, welche ergab, dass sich lediglich 17,1 Prozent der Personen im Alter bis zum 30. Lebensjahr für die „Euregio-Ebene“ interessier(t)en. Dies wiederum ist Beleg genug dafür, dass besagtes Gebilde ohne inhaltliche Tiefe ist und offenkundig weit unter dem bleibt, wofür es stehen und was es eigentlich erbringen soll(te).

Am 1. Januar 1995 war Österreich der Europäischen Union (EU) beigetreten. Damit eröffneten sich neue Chancen und Möglichkeiten in der Südtirol-Politik. Die Teilhabe am EU-Binnenmarkt sowie der 1997 vollzogene Beitritt zum Schengener Abkommen beendeten trotz formellen Erhalts der Staatsgrenze zwischen den beiden Tiroler Landesteilen das zuvor gängige Grenzregime, womit die historisch stets als „Schandgrenze“ empfundene Teilungskonsequenz aus der aus dem italienischen Seitenwechsel im Ersten Weltkrieg erlangten Kriegsbeute in ihrer Wirkung erheblich an Trennschärfe verlor. Wenngleich der institutionelle Abbau der Grenze eine erhebliche Erleichterung des Alltagslebens auf beiden Seiten sowie eine Intensivierung des grenzüberschreitenden Verkehrs zur Folge hatte, ist das damit von der Politik beidseits des Brenners wie im Mantra beschworene „Zusammenwachsen“ der Landesteile bisher allenfalls ein frommer Wunsch geblieben.

Zusammenwachsen der Landesteile?

Parallel zu den grundstürzenden Veränderungen, welche nach dem Kollaps des Kommunismus, dem Fall der Mauer in Berlin und der Beseitigung des Drahtverhaus quer durch Europa sowie dem Untergang der Sowjetunion und der Auflösung Jugoslawiens die politische Geographie neu zeichneten, stellte man in den Landtagen Tirols und Vorarlbergs sowie Südtirols und des Trentino Überlegungen an, wie man sich möglichst in institutionalisierter Form zunutze machen könnte, was sich – über die nach dem Pariser Vertrag von 1946 zwischen Österreich und Italien mühsamen errungenen sogenannten Accordino-Vereinbarungen (geltend für Tirol, Süd- und Welschtirol) hinaus – an „regionaler Subsidiarität“ bot, wie sie schon EG-Europa begrenzt zuließ. Insbesondere der 1992 errichtete Vertrag von Maastricht (aus der EG wurde die EU) schuf mit seinem inkorporierten – aber nie politisch konsequent verwirklichten – Konzept eines „Europas der Regionen“ die Voraussetzungen für das inhaltlich und institutionell nur rudimentär ausgefüllte Projekt der „Euregio Tirol“.

Die Idee dazu war am 21. Mai 1991 im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der Landtage der österreichischen Bundesländer Tirol und Vorarlberg sowie der beiden (seit De Gasperis Verwässerung des Pariser Vertrags von 1946 im 1. Autonomiestatut 1948 in einer Region zwangsvereinigten) italienischen Provinzen Südtirol und Trient geboren worden. Obwohl sich Vorarlberg nach der zweiten gemeinsamen Sitzung am 2. Juni 1993 daraus zurückzog, begannen die entsandten Delegierten, das Konzept sukzessiv weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt stand dabei insbesondere die weitere Ausgestaltung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Dies schlug sich im 1996 vorgestellten Statut über die künftige politische Marschroute sowie die institutionelle Ausgestaltung der Europaregion Tirol nieder.

Rom legt sich quer

Um den von Beginn an vorherrschenden römischen Vorwurf der Sezession zu entkräften, bewegte sich die institutionelle Ausgestaltung strikt innerhalb geltender verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen sowie auf dem völkerrechtlichen Grundsatz des am 21. Mai 1980 getroffenen Madrider Rahmenübereinkommens bezüglich grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften. Zur Vermeidung von Problemen mit der italienischen Regierung nahm man – zunächst – Abstand von der ursprünglichen Idee, die Europaregion als öffentliche Körperschaft mit eigener finanzieller Ausstattung und Völkerrechtssubjektivität einzurichten.

Die Initiatoren erhofften, dass durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik nicht nur die wirtschaftliche Prosperität der Regionen, sondern damit auch eine Stärkung des Autonomie- und Föderalismusprinzips auf nationaler und EU-Ebene einhergehen würde. Und insbesondere in Innsbruck und Bozen verband man mit der Europaregion die Hoffnung, dass die Kooperation nicht nur dem soziokulturellen „Auseinanderdriften“ der Landesteile Einhalt gebieten würde, sondern sogar das Gefühl der gemeinsamen Identität wiederaufleben ließe. So beriefen sich führende Politiker beider Landesteile verstärkt auf gemeinsame Herkunft sowie Identität und begrüßten zugleich den faktischen Abbau der trennenden „Unrechtsgrenze“ im Rahmen der Europaregion.

„Sezessionismus, Irredentismus, Pangermanismus“

Dies führte sogleich dazu, dass von den damaligen italienischen Regierungsparteien nicht etwa nur die – aus dem neofaschistischen MSI hervorgegangene – Alleanza Nazionale (AN) unter Fini, sondern auch die von Ministerpräsident Silvio Berlusconi geführte Forza Italia (FI) immer wieder den reflexartigen Vorwurf des Sezessionismus / Irredentismus erhoben. Aus anfangs vereinzelten Vorwürfen entwickelte sich ein breiter Proteststurm in Rom, der 1995 in einen handfesten politischen Konflikt mündete.

Auslöser war die Absicht der drei Europa-Regionisten, ein gemeinsames Verbindungsbüro in Brüssel einzurichten, um selbständig und überzeugtermaßen effektiver die eigenen regionalen Interessen gegenüber den EU-Institutionen vertreten zu können. Obwohl Innsbruck ebenso wie Bozen und Trient versicherten, dass man allein föderalistische Absichten verfolge, da das Büro auf ausschließlicher Grundlage von EU-Rechtsbestimmungen geschaffen werde, geriet insbesondere die Südtiroler Landesregierung ins Kreuzfeuer Roms.

Selbst von höchster Ebene wurden offene Vorwürfe oder gar Drohungen gegenüber der Landesregierung geäußert. So etwa von der Generalstaatsanwaltschaft in Trient, die die Südtiroler der „zunehmenden Staatsfeindlichkeit“ bezichtigte. Auch Staatspräsident Luigi Scalfaro drohte Bozen offen an, etwaige Sezessionsabsichten stellten einen evidenten Verstoß gegen die Verfassung dar und zögen schwerwiegende Konsequenzen nach sich. Im internen Jahresbericht des italienischen Innenministeriums wurde das Verbindungsbüro als „provozierend“ und „subversiv“ eingestuft, und zufolge von Anzeigen mehrerer rechter italienischer Parteien, besonders aus deren Südtiroler Dependancen, wonach mit der Europaregion die „Zerstörung der Einheit Italiens“ oder „die Rückgliederung Südtirols nach Österreich“ angestrebt werde, wies Ministerpräsident Lamberto Dini die Staatsanwaltschaft in Rom an, den Vorwürfen nachzugehen. Wenngleich selbst Büros von SVP-Abgeordneten durchsucht wurden, konnten die ermittelnden Staatsanwälte keine Indizien für den Vorwurf des Sezessionismus finden. Schließlich musste der italienische Verfassungsgerichtshof anno 1997 die Rechtmäßigkeit des Büros anerkennen.

Wien verharrt in Passivität

Trotz dieses zwischen 1995 und 1997 das politische Klima zwischen Rom, Trient, Bozen und Innsbruck vergiftenden Konflikts vermied es die österreichische Regierung, zugunsten der Europaregion Tirol Partei zu ergreifen, sondern verharrte am Ballhausplatz in Passivität. In internen Aktenvermerken der Regierungen Vranitzky/Mock bzw. Vranitzky/Schüssel wurde kritisiert, Bozen und Innsbruck hätten es verabsäumt, Wien in ausreichendem Maße über das Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Außenminister Alois Mock sowie sein Nachfolger Wolfgang Schüssel vermieden es, öffentlich Stellung zu nehmen. Ihre Partei ÖVP befleißigte sich der Zurückhaltung, wohingegen Grüne und Teile der in großer Koalition mit der ÖVP verbundenen Kanzlerpartei SPÖ sogar offen vor angeblichen Gefahren eines Wiedererstarkens des „pangermanistischen Nationalismus“ warnen zu müssen glaubten. Lediglich die FPÖ sowie die Schützenverbände Tirols, Südtirols und Welschtirols sprachen sich geschlossen und eindeutig zugunsten der Europaregion aus. Die österreichischen Parteien spielten Italien faktisch in die Hände, indem Rom das Projekt mit dem Hinweis darauf, dass FPÖ wie Schützen zuvor offen das Recht auf Selbstbestimmung für Südtirol eingefordert hätten, als „Föderalismusprojekt von Rechtsaußen“ zu stigmatisieren trachtete, das dem „sezessionistischen Pangermanismus“ diene.

„Aufstand gegen Gleichgültigkeit“

Da es seit der Initiierung eher durch Konflikte mit Rom denn durch signifikante politische Erfolge aufgefallen war, erlangte das Projekt erst mit der nomenklatorischen Prägung „Europaregion Tirol Südtirol Trentino” wieder ein wenig Auftrieb, zumal da sich die drei Landesregierungen verstärkt seiner Erweckung aus dem „Dornröschenschlaf” widmeten. Ziel war die Stärkung der „Achse Innsbruck-Bozen-Trient“ auf kultureller Ebene sowie der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Politik und Wirtschaft. Im Kulturellen erhoffte man sich, den seit Jahrzehnten doch recht weit fortgeschrittenen Entfremdungsprozess südlich und nördlich des Brenners zu stoppen. Obwohl das postulierte Ziel eines „Aufstands gegen die Gleichgültigkeit“ – am 21. Februar 2009 auf Schloss Tirol begrifflich geprägt vom damaligen Trentiner Landeshauptmann Lorenzo Dellai während einer gemeinsamen Sitzung der Landeshauptleute – an sich nicht neu war, erfuhr es in Bozen eine besondere Ausformung. In Anbetracht des Wählerzulaufs zum oppositionellen Lager der Selbstbestimmungsbefürworter, welcher sich nicht allein in Wahlerfolgen von Süd-Tiroler Freiheit (STF) und Freiheitlicher Partei Südtirols (FPS) abzeichnete, wollte man mit dem Ausbau der Euregio ein alternatives Modell schaffen und möglichst attraktiv machen. So gaben insbesondere SVP und Nordtiroler ÖVP vor, mit der Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit werde die politische Unabhängigkeit der Landesteile gegenüber Rom, Wien und Brüssel gestärkt, was dazu beitrage, dass die Teilung Tirols im „europäischen Geiste“ überwunden werde.

Außenminister Kurz: „Ewiggestrige“

Das Werben mit der politischen „Nord-Süd-Achse“ postulierten die Regierungsparteien in Bozen (SVP), Innsbruck (ÖVP) und Wien als „einzige realpolitische Alternative“ zur Freistaatslösung, wie sie die oppositionelle FPS vertritt, und zur Wiedervereinigung mit Tirol, mithin der Rückgliederung zu Österreich nach erfolgreicher Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, wie sie die ebenfalls oppositionelle STF auf ihre Fahnen geschrieben hat. Zugleich erhoben die Regierungsvertreter gegenüber den Selbstbestimmungsparteien und -befürwortern scharfe Kritik. Diese nannte der damalige österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) seinerzeit „Ewiggestrige“, die vom „Aufziehen neuer Grenzen“ träumten. Zugleich verstörten er und seine ÖVP mit der faktisch die Aufgabe des Selbstbestimmungsverlangens markierenden (und von der neuen SVP-Führung unter Philipp Achammer sowie Landeshauptmann Arno Kompatscher stillschweigend-freudig gutgeheißenen) Position alle patriotischen Kräfte, wonach mit der Südtirol-Autonomie „eine besondere Form der Selbstbestimmung verwirklicht“ sei.

Hinsichtlich einer besseren funktionellen Zusammenarbeit in der „Euregio“ vereinbarten nunmehr die drei Landesregierungen, die bis dato als „träge“ geltenden Entscheidungsprozesse, wie sie etwa im Rahmen der Dreierlandtage gang und gäbe waren, durch neue effektivere und stärker institutionalisierte Mechanismen zu ersetzen. Wenngleich die Treffen der Landtage – trotz ihres gemeinsamen Zusammentretens im Zwei-Jahres-Rhythmus – durchaus einen politischen Fortschritt darstellten, war durch das dort geltende Einstimmigkeitsprinzip die Entscheidungsfindung erschwert. Daher vermied man es, im Rahmen dieses Gremiums strikt, politisch heikle Themen auf die Tagesordnung zu setzen. Dies wiederum führte dazu, dass die realpolitische Bedeutung der gemeinsamen Landtagssitzungen als sehr gering einzuschätzen war und lediglich einen symbolischen Zweck erfüllte. Daher entschieden sich die Landesregierungen am 15. Oktober 2009 zur Einrichtung des sogenannten „Europäischen Verbunds territorialer Zusammenarbeit“ (EVTZ), um die Europaregion mit eigener Rechtspersönlichkeit und damit auch größerer politischer Selbständigkeit auszustatten.

Die „Euregio“ als „EVTZ“

Das Konzept fußt auf der Verordnung 1082/2006 des Europäischen Parlaments und verfolgt dabei Ziel und Zweck, „[…] regionalen und kommunalen Behörden (und auch nationalen Behörden in kleineren oder zentralisierten Ländern) sowie öffentlichen Unternehmen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten die Einrichtung von Verbünden mit eigener Rechtspersönlichkeit zur Lieferung gemeinsamer Leistungen“ im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu ermöglichen. Die Gründung der EVTZ rief zwar neuerlich Einspruch seitens der italienischen Regierung hervor; der Protest fiel jedoch weitaus „gemäßigter“ aus als beim ersten Anlauf (s.o.). So trug Rom jetzt lediglich „formelle Bedenken“ vor und zeigte sich zudem bereit, über das Projekt am Verhandlungstisch zu diskutieren. Bereits nach einigen Konsultationen zog sie ihre anfänglichen Vorbehalte zurück und stimmte schlußendlich zu, sodaß der Eröffnung des EVTZ-Büros in Bozen nichts mehr im Wege stand.

Die Aufgabenfelder der Europaregion à la EVTZ sollten nunmehr eine umfassende politische, wirtschaftliche und soziale Bandbreite abdecken. Dies führte allerdings bereits nach kurzer Zeit zu Bedenken. So befürchtete man sogar in den jeweiligen Landesregierungen, man könne sich dabei, wie schon einmal, politisch übernehmen. Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher, sonst eher ein glühender EVTZ-Akteur, befand sogar zu Beginn seiner Amtszeit 2014 nüchtern, dass es der Europaregion – mit Ausnahme des im Bau befindlichen Brenner-Basistunnels – an großen „politischen Leuchtturmprojekten“ fehle und mahnte, die EVTZ dürfe „nicht wieder nur zu einem Schlagwortprojekt“ verkommen. Daher stufte die Südtiroler Landesregierung die EVTZ als „Projekt herausgehobener politischer Priorität” ein und stellte dafür zusätzliche Mittel bereit.

Nationalstaatliche Interessen

Nichtsdestotrotz bleibt abzuwarten, welche Entwicklung die Euregio Tirol-Südtirol-Trentino in Zukunft tatsächlich nimmt, und es muß sich auch erst noch herausstellen, ob damit tatsächlich das Wiederzusammenwachsen der seit hundert Jahren getrennten Landesteile begünstigt werden kann. Skepsis ist angesichts des eingangs (mit Bezug auf das winterlich bedingte Verkehrschaos) geschilderten Zuständigkeitsproblems schon im Kleinen angebracht. Und wenn es um größere Bedürfnisse geht, welche nationalstaatliche Interessen unmittelbar berühren, bleibt von der hehren Euregio wenig mehr als ein matter Schein.

Das zeigte sich 2016 in aller Deutlichkeit, als Österreich im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise”, die infolge politischen Fehlverhaltens und selbstzerstörerischer Willkommens-Signale in Wahrheit einer Masseninvasion überwiegend junger Männer aus zuvorderst muslimisch geprägten nah- und fernöstlichen sowie afrikanischen Ländern glich, ernstlich erwog, nach der vom damaligen Außenminister Kurz maßgeblich zustande gebrachten Unterbindung des Zustroms über die Balkan-Route auch jenen über die stark frequentierte Italien-Route durch Wiedereinführung von (auch mit militärischen Mitteln unterstützten) Brenner-Kontrollen zu stoppen. Was jedoch unterbleiben konnte, da sich Rom tatsächlich zur Abkehr von zuvor eher laxem „Durchwinke”-Verhalten bequemte. Und seit dem mit der vorgezogenen Parlamentswahl 2018 vollzogenen Machtwechsel hin zu der von der Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Nord gebildeten Regierung betreibt Rom – eben im nationalen Interesse des vom einstigen königlichen Regierungschef Antonio Salandra 1915 beim Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien geprägten Prinzips des „Sacro egoismo” – neben den Visegrad-Vier Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen die weitaus strengste Flüchtlings(abweisungs)politik im Rahmen der EU.

Institutionell funktionierende „Euregios”, jeweils ausgestattet mit politischer Selbstverwaltung, Regionalparlament und -regierung, welche tatsächlich die vielen ursächlich von der ohne Beachtung der historisch-kulturellen Identität und Volkszusammengehörigkeit sowie der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts gezogenen) Grenzen verschwinden ließen und damit auch die dadurch erst entstandenen und bis heute fortwirkenden Probleme nationaler Minderheiten auf einen Schlag beseitigten, würden wohl nur durch Aufhebung des Nationalstaatsprinzips und demzufolge mit der herbeizuführenden Metamorphose der Nationalstaaten zu einer wirklich politischen EUnion möglich. Deren Parlament müsste sich aus gewählten Abgeordneten aller Europaregionen konstituieren und aus dessen Mitte die EU-Regierung hervorgehen. Derartigen Träumen, wie sie vielleicht in den 1990er Jahren von einigen in der Minderheiten- und Volksgruppenpolitik Engagierten geträumt worden sein mochten, stehen Entwicklung, Zustand und Lage, in der/dem sich EUropa befindet, diametral entgegen. Es dominieren nationalstaatliche Interessen, um nicht zu sagen Egoismen, und es gewinnen auf Loslösung und Eigenstaatlichkeit bedachte Fliehkräfte – just auch innerhalb der Nationalstaaten (beispielsweise in Spanien, Italien, Belgien, Großbritannien) – ebenso an Attraktivität wie politisches Handeln in nationalstaatlicher Fasson.

Landeseinheit durch Euregio – ein Wunschbild

Wider den in der Europa-Frage gleichsam missionarisch agierenden österreichischen Schriftsteller Menasse ruft der türkisch-deutsche Literat Zafer Senocak ernüchternd den „Abschied vom Fetisch eines politisch vereinten Europa” aus und stellt fest, Europas Zukunft könne nur in der wertgebundenen Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten liegen. Wie diese „wertgebundene Zusammenarbeit“ in Bezug auf die Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino funktioniert, geht aus dem auf den einleitend erwähnten Meraner Andreas-Hofer-Feierlichkeiten getroffenen Befund des Schützen-Kommandanten Elmar Thaler hervor. Dem stellte der in Mailand angesiedelte österreichische Generalkonsul Wolfgang Spadinger im Beisein von Schützenformationen aus besagter Euregio auf der Gedenkfeier in Mantua am Denkmal des dort vor 209 Jahren füsilierten Tiroler Volkshelden entgegen, Andreas Hofer sei ein „früher Vertreter der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino“ gewesen, die heute gut funktioniere. Wie dem auch sei – unter dem Aspekt der Aufhebung der Teilung des Landes und des nach wie vor nicht aus den Augen zu verlierenden Ziels des Wiedergewinnens seiner Einheit reicht sie kaum über die Wunschbildkontur einer Schimäre hinaus.

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*) Reinhard Olt, deutscher Journalist und Hochschullehrer, studierte in Mainz und Gießen Germanistik, Volkskunde, Osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft. Seiner Promotion 1980 schloss sich eine Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen an.
Von 1. November 1985 bis 31. August 2012 war Olt für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ tätig, vom 1. September 1994 bis zum Ausscheiden als politischer Korrespondent mit Sitz in Wien. Neben dieser Tätigkeit hatte er Lehraufträge an deutschen (Gießen, Frankfurt/M.) und österreichischen Hochschulen (Innsbruck, Graz, Krems) inne und veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Von 1992 bis 2008 war er Mitglied des Gesamtvorstands der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS). Ab dem Wintersemester 2012/13 lehrte er als Gastprofessor gelegentlich in Budapest sowie in Graz.
Die Eötvös-Loránd-Universität (ELTE) Budapest, die bedeutendste Hochschule Ungarns, zeichnete Olt 2012 mit dem Ehrendoktorat (Dr. h.c.) sowie mit dem Professoren-Titel aus, und der österreichische Bundespräsident verlieh ihm 2013 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.
www.conservo.wordpress.com     26.02.2019
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