(www.conservo.wordpress.com)
Von Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist *)
Am 11. April haben die Wahlen in Indien begonnen. 900 Millionen Wahlberechtigte haben die Möglichkeit, in sieben Phasen bis zum 19. Mai ihren Präsidenten zu wählen. Diese lange Wahlperiode auf dem Subkontinent Indien ist der schieren Menschenmasse und den politischen Instabilitäten in einigen Teilen Indiens geschuldet.
Die deutsche Öffentlichkeit erfährt wenig von diesen Wahlen der Nuklearmacht Indien und ihren großen Problemen mit dem Nachbarn Pakistan – ebenfalls Nuklearmacht – und dem Nachbarn China – ebenfalls Nuklearmacht, mit dem es ab und an Grenzstreitigkeiten im Himalayagebirge gibt.
In seinem Kommentar „Die Vereinigten Arabischen Emirate – aus geopolitischer und geostrategischer Perspektive“ vom 11.März 2019 hat der Verfasser auf den damaligen heißen Konflikt zwischen Indien und Pakistan und die Gefahr einer militärischen Eskalation hingewiesen (siehe: https://www.conservo.blog/2019/03/11/die-vereinigten-arabischen-emirate-aus-geopolitischer-und-geostrategischer-perspektive/). Beide Staatsführungen haben bis heute die gefährliche Eskalation vermeiden können. Der Konflikt im Kaschmir schwelt weiter – wie seit der Trennung Indiens und Pakistans im Jahre 1949.
Indien – Land und Leute
Mit seinen rd. 1,3 Milliarden Menschen – 80 Prozent Hindus – steht die weitgehend stabile, bevölkerungsreichste Demokratie der Welt Indien in Lauerstellung– die China von der demographischen Entwicklung aufgrund der höheren Geburtenrate überholen wird. Es ist unverständlich, dass Indien keinen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat hat.
Der indische Subkontinent misst bei einer Gesamtfläche von 3.287.263 Quadratkilometern – knapp das Zehnfache Deutschlands – in der Nord-Süd-Achse 3.214 km und in der Ost-West-Achse 2.933 km. Die Topographie reicht vom Dach der Welt im Norden bis zur Meereshöhe entlang der Küstenlinie von 7.516 km.
Geopolitisch sind die Nachbarn besonders interessant, die vom Norden im Uhrzeigersinn sind:
China, Nepal, Bangladesch – ursprünglich ein Teil Indiens und später Pakistans, Myanmar, Sri Lanka und Pakistan – für Indien eine fragile Umgebung mit ethnischen und religiösen Spannungen, die schon zu drei Kriegen gegen Pakistan geführt haben, mit dem Indien in Erzfeindschaft lebt. Daher rührt der Konflikt um Kaschmir, das geteilt unter indischer und pakistanischer Verwaltung steht.
Ein von den VN im Jahre 1948 geplantes Referendum, bei dem die Bevölkerung entscheiden sollte, zu welchem Land Kaschmir gehören sollte, hat bis heute nicht stattgefunden, weil beide Staaten befürchten müssen, dass die Umsetzungen des Referendums blutig werden könnten. Schutz und Durchsetzung indischer Interessen bleiben in diesem Umfeld geostrategisch herausfordernd.
Ethisch weist die indische Bevölkerung eine große Homogenität auf
Es gibt nur kleine Minderheiten von Tibetern, Chinesen und Europäern, die keine Schwierigkeiten bereiten. In der Religion dominieren die Hindus mit ca. 80 Prozent, gefolgt von den Muslimen mit rd. 13,4 Prozent, den Christen mit 2,3 Prozent sowie die Sikhs mit 1,9 Prozent. Die 13,4 Prozent Muslime beinhalten einen Kern von radikalen Terroristen, die in engem Zusammenwirken mit den Muslimen im benachbarten Bangladesch wiederholt terroristische Anschläge verübt haben. (vergl. Dieter Farwick „Wege ins Abseits. Wie Deutschland seine Zukunft verspielt“, Osning-Verlag, 2012. / siehe auch: https://www.conservo.blog/2018/10/03/wann-bekommt-deutschland-endlich-einen-nationalen-sicherheitsberater/)
Die Wirtschaftsdaten Indiens sind beeindruckend
Mit einem stabilen Wirtschaftswachstum von 5-7 Prozent hat Indien die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 ff überwunden. Die Arbeitslosenquote liegt bei rd. 4,7 Prozent, die Inflationsrate bei rd. 9,7 Prozent. Wie in China ist in Indien die Wirtschaft – einschließlich des Dienstleistungssektors und des
Tourismus – der Motor der positiven Entwicklung
Allerdings sieht es in den 29 Bundestaaten und 7 sog. „Unions Territorien“ sehr unterschiedlich aus. Es gibt reiche und arme Staaten. Die Bundestaaten und die „Unions Territorien“ sind unterschiedlich stark. Mit ihren Rechten und ihrem Sonderstatus erschweren sie der Zentralregierung notwendige Reformen.
Das Bildungsniveau ist sehr unterschiedlich. Kinder aus der Ober- und Mittelschicht erhalten eine vorbildliche schulische und berufliche Ausbildung – einschließlich der Bildung und Ausbildung in erstklassigen (meist westlichen) Einrichtungen. In diesem Zusammenhang ist die Beherrschung der englischen Sprache eine wesentliche Voraussetzung, die westliche Arbeitswelt kennenzulernen, was das Verständnis für spätere Kooperationen und die Arbeit in englischsprachigen Firmen erleichtert.
In Indien spielen Privatschulen eine besondere Rolle für das Bildungsniveau
Indien gehört zu den Ländern, die am meisten Geld für die Erziehung in privaten Schulen ausgeben. Eine gute Investition in seine Zukunft. Rund 50 Prozent der Heranwachsenden besuchen solche Schulen. Sie kommen überwiegend aus begüterten Familien. Der Preis: Der Abstand zwischen „arm“ und „reich“ nimmt bei der Jugend zu (vgl.“ The Economist“ Special report on Private education“ vom 13.4.2019).
Während unseres Studienaufenthaltes im Jahre 2005 galt das Bundesland Gujarat als erfolgreichster Bundesstaat mit einer sehr dynamischen, liberalen und innovativen Regierung unter dem Gouverneur Narendra Modi, einem „strenggläubigen“ Hindu. In Indien gab es damals ein bitteres Wort:
„Die Wirtschaft Indiens floriert nicht dank der Zentralregierung, sondern trotz der schwachen Zentralregierung.“
Die Entwicklung Indiens als moderner Staat wird durch die Widerstände einzelner Bundesländer gehemmt. Das hat negative Auswirkungen in landesweiten Entwicklungen:
Es fehlen Fernstraßenverbindungen, Flughäfen, Häfen und Schienenfernverbindungen. Import und Export sowie die Öffnung im Handel für ausländische Investoren und Gewerbetreibende würden von einer besseren Infrastruktur profitieren – wie es unter Modi in Gujarat geschehen ist.
Es war daher kein Wunder, dass der Gouverneur von Gujarat, Narendra Modi, als großer Hoffnungsträger galt, als er vor fünf Jahren mit der absoluten Mehrheit im Parlament – bei einer Wahlbeteiligung von 63,4 – mit großen Erwartungen zum Präsidenten gewählt wurde.
Die hohen Erwartungen haben sich nicht überall in Indien erfüllt. Nahezu unverändert hoch ist auch heute die Zahl von 350-400 Millionen Armen, die von 2-3 Dollar pro Tag leben müssen – überwiegend auf dem Lande, weniger in den Städten. Die Konfrontation mit teilweise verkrüppelten Bettlern – überwiegend Kindern – ist für westliche Touristen nur schwer zu ertragen. Schon seit Jahren lassen westliche Firmen ihre Steuererklärungen in Indien erstellen, Call Center haben häufig ihre Zentrale in Indien. Westliche Ärzte lassen die Röntgenbilder in Indien auswerten. Der Tourismus nach Indien ist eine wichtige Einnahmequelle für Indien. Das Eintauchen in die indische Geschichte und Kultur ist ein besonderes Erlebnis. Zu bewundern gibt es viele Sehenswürdigkeiten – nicht nur das unvergessliche Taj Mahal.
Die Sicherheitspolitik Indiens
Nach Jahrzehnten der Blockfreiheit und Neutralität ist Indien ein enges Bündnis mit den USA eingegangen. Die Nuklearbewaffnung wäre ohne die Hilfe der USA kaum möglich gewesen. Sie ist auch eine Antwort auf die Politik der Nuklearmacht China mit ihrer aggressiven Außenpolitik. Indien sucht Sicherheit gegenüber dem Erzfeind Pakistan im Westen und dem großen Nachbarn China im Nordosten. Die aggressive Expansionspolitik Chinas im Südchinesischen und Ostchinesischen Meer – und darüber hinaus – hat die Anrainer beider Meere enger zusammengeführt – z.B. auch in wiederholten militärischen Übungen mit den USA.
———————————————————————————————————
„Der Systemvergleich kann für Indien ein Vorteil sein: Indien als stabile und erfolgreiche Demokratie und China als Einparteiendiktatur mit großen wirtschaftlichen Erfolgen in den letzten Jahrzehnten – allerdings mit dem Makel, ein totaler Überwachungsstaat zu sein.“
———————————————————————————————————–
China betrachtet die beiden chinesischen Binnenmeere als zu China gehörend – im Widerspruch zu dem Urteilsspruch des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, NL.
Trotz dieses Schiedsspruchs schafft China neue künstliche Inseln mit militärischen Einrichtungen, die von den Anrainerstaaten und den Vereinigten Staaten als illegal und Bedrohung eingestuft werden. So haben sich die Anrainerstaaten zu einer Verteidigungsallianz unter Führung der USA zusammengefunden – einer Allianz, die vor Jahren undenkbar gewesen wäre.
Bei dieser Gleichung spielt ein weiterer Verbündeter – Japan – eine wichtige Rolle, den wachsenden Einfluss Chinas einzudämmen. Japan ist neben den USA und Südkorea Garantiemacht für die Existenz von Taiwan, das China unverändert als chinesische Provinz betrachtet, die China nach Erklärung von Xi Jinping in das Festland China zurückholen will – falls notwendig auch mit militärischen Mitteln. Pure Propaganda? Hoffentlich.
Das sicherheitspolitische Engagement Indiens mit den USA und den Anrainerstaaten hat die „Rüstung“ der indischen Streitkräfte bestimmt – besonders der Seestreitkräfte. Mit zunehmender Abhängigkeit von der Rohstoffversorgung auch von der Arabischen Halbinsel und Australien geht es Indien auch darum, diese Versorgungslinien zu schützen – nicht nur gegen Piraten. Indien verfügt mittlerweile über zwei Flugzeugträger, die seinen Anspruch auf Verantwortung jenseits seiner Hoheitsgewässer unterstreichen. Dabei spielt die Straße von Malakka als Nachschubroute nicht nur für Indien eine wichtige Rolle. Eine Beherrschung dieser Straße durch China wäre für die gesamte Region ein GAU.
Indien hat sich in den letzten Jahren bemüht, sein lange vernachlässigtes Verhältnis zu seinen Nachbarn zu verbessern, was besonders mit Myanmar gelungen ist.
Indien konnte den Einfluss Chinas auf Myanmar deutlich zurückdrängen. Ähnliches gilt auch für Bangladesch. Afghanistan ist kein direkter Nachbar, aber dessen Feindschaft mit Pakistan verhindert, dass sich Pakistan zu stark auf Indien konzentrieren kann. Aus diesem Grund unterstützt Indien Afghanistan. Geopolitik und Geostrategie spielen in Asien eine größere Rolle als in Europa. Dort ist noch vieles im Fluss. Indien stellt sich mehr und mehr dieser außenpolitischen Herausforderung.
Die größte innenpolitische Herausforderung für Indien bleibt die Armut
Die große Armut für 350– 400 Millionen Einwohner ist der größte Hemmschuh in der Entwicklung Indiens in naher Zukunft. Unter Modi hat es in den fünf Jahren seiner Regierungen einige Fortschritte gegeben, aber sie reichen nicht aus. Es ist nicht verwunderlich, dass die Armut für die beiden großen Parteien das Thema Nr. 1 bleibt.
Beide großen Parteien – die Bharatiya Janata Party (BJP) mit Modi – der sich als „Wächter“ Indiens bezeichnet – und die Kongresspartei mit Rahul Gandhi und seiner Schwester Priyanka – versuchen, sich mit Versprechungen an die Armen zu übertrumpfen – mit allen legalen und illegalen Tricks wie z.B. mit „ fake news“.
Die charismatische Priyanka, Enkelin der legendären Großmutter Indira, soll der Kongresspartei bei den Massen das Vertrauen zurückgewinnen, das diese bei den Wahlen 2014 dramatisch verloren hat. Priyanka versucht mit Indira Gandhi besonders Frauen zu animieren, zur Wahl zu gehen.
Es wird sich zeigen, welche Partei den „schmutzigen“ Wahlkampf für sich entscheiden kann. Modi wird seinen grandiosen Sieg von 2014 wohl nicht wiederholen können. Er muss mit Verlusten rechnen. Die meisten politischen Beobachter gehen jedoch von einem Sieg von Modi aus.
Der Systemvergleich kann für Indien ein Vorteil sein: Indien als stabile und erfolgreiche Demokratie und China als Einparteiendiktatur mit großen wirtschaftlichen Erfolgen in den letzten Jahrzehnten – allerdings mit dem Makel, ein totaler Überwachungsstaat zu sein.
**********
*) Brig.General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen. Nach einer Verpflichtung auf Zeit wurde er Berufssoldat des deutschen Heeres in der Panzergrenadiertruppe.
Vom Gruppenführer durchlief er alle Führungspositionen bis zum Führer einer Panzerdivision. In dieser Zeit nahm er an der Generalstabsausbildung an der Führungsakademie in Hamburg teil. National hatte er Verwendungen in Stäben und als Chef des damaligen Amtes für Militärisches Nachrichtenwesen.
Im Planungsstab des Verteidigungsministers Dr. Manfred Wörner war er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig und unter anderem an der Erarbeitung von zwei Weißbüchern beteiligt. Internationale Erfahrungen sammelte Dieter Farwick als Teilnehmer an dem einjährigen Lehrgang am Royal Defense College in London.
In den 90er Jahren war er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte eingesetzt. Er war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt.
Seinen Ruhestand erreichte Dieter Farwick im Dienstgrad eines Brigadegenerals. Während seiner aktiven Dienstzeit und später hat er mehrere Bücher und zahlreiche Publikationen über Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte veröffentlicht.
Nach seiner Pensionierung war er zehn Jahre lang Chefredakteur des Newsservice worldsecurity.com, der sicherheitsrelevante Themen global abdeckt.
Dieter Farwick ist Beisitzer im Präsidium des Studienzentrum Weikersheim und führt dort eine jährliche Sicherheitspolitische Tagung durch.
Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Publizist, u. a. bei conservo.