(www.conservo.wordpress.com)
VON DR.PHIL.MEHRENS, AUTOR & PUBLIZIST
Kurz vor Himmelfahrt findet die Wahl zum EU-Parlament statt und kurz vor Ostern brennt Notre-Dame ab. Sollte uns das eine Lehre sein und wenn ja, welche?
Die Europäische Union gilt als Friedensprojekt und viele Jahre lang war sie das auch. Inzwischen aber, da sind sich Experten wie Rolf-Dieter Krause, ehemaliger Leiter des ARD-Studios Brüssel, oder Dirk Schümer, Europa-Experte der WELT, einig, befindet die EU sich in der größten Krise ihrer Geschichte. Die EU-Elitisten schieben die Schuld daran gern auf so genannte populistische Bewegungen, auf nationalistische Stimmungsmacher. Der Begriff »Populist« ist seit einiger Zeit Dauergast in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und der Print-Leitmedien. Aber die Kritik greift zu kurz.
Erstens ist es in demokratisch legitimierten Systemen völlig normal, dass Stimmung für oder gegen einen politischen Kurs gemacht wird. Im Wettstreit der politischen Anbieter miteinander ist es anders nicht möglich, die Massen zu mobilisieren. Populistische Empörung ebnete dem Frauenwahlrecht die Bahn, verhinderte Wackersdorf und rettete den Hambacher Forst, Stimmungsmache gegen konservative Leitbilder machte die so genannte »Ehe für alle« möglich, feministische Propaganda die Straffreiheit für Kindstötungen im Mutterleib. Das Endergebnis solcherart meinungsstarker linkspopulistischer Bewegungen waren politische Entscheidungen in ihrem Sinne. So funktioniert Demokratie.
Zweitens dient der Vorwurf der EU-Funktionäre vor allem dazu, vom eigenen Versagen abzulenken. Dieses Versagen thematisiert der französische Soziologe Emmanuel Todd in seinem Buch »Traurige Moderne«. Die Vorstellung, alle Europäer seien »kulturell gleich […] und Europa ein homogener Raum«, bezeichnet Todd als »romantische Idee« überenthusiastischer Visionäre und die Krise der EU als das Resultat fortdauernder Ignoranz. Das EU-Projekt von heute ist für den Sozial- und Geschichtswissenschaftler der totale Triumph von Ideologie über Empirie: Übernationale Imperien wie die Sowjetunion oder Jugoslawien sind zerfallen und ehe sie zerfallen sind, war es auch nur Zwang und nicht ideologische Verschworenheit, was sie zusammenhielt. Solchen Zwang, meint Todd, übe nun auch der Euro aus. Die dahinter steckende Doktrin lautet: Eint uns sonst nichts, eint uns der Mammon. Doch Nationen mit fundamentalen soziokulturellen und anthropologischen Unterschieden durch die Einführung einer gemeinsamen Währung in ein gemeinsames ökonomisches Korsett zu zwängen ist für Todd so erfolgversprechend wie Rosenpflanzen auf dem Mond.
Und dann brennt auf einmal die berühmteste Kirche der Welt. In notorischer Eintracht mit den Franzosen beklagen Europas Eliten – ja, was? Ein beschädigtes Museum oder den zerstörten Ort religiöser Andacht? Jedenfalls wirkt die brennende Kathedrale fast schon aufdringlich wie ein Fanal. Ein Leuchtfeuer, das den vier Tage zuvor mitten in der Passionszeit veröffentlichten Bußruf, mit dem sich Benedikt XVI. aus der klösterlichen Abgeschiedenheit zurückmeldete, besonderes hell erstrahlen lässt: »Nach der Erschütterung des 2. Weltkriegs hatten wir in Deutschland unsere Verfassung noch ausdrücklich unter die Verantwortung vor Gott als Leitmaß gestellt. Ein halbes Jahrhundert später war es nicht mehr möglich, die Verantwortung vor Gott als Maßstab in die europäische Verfassung aufzunehmen«, schrieb der in einem bemerkenswert scharfsinnigen Essay und rückte damit eine weitere wichtige Ursache für die Krise der EU ins Bewusstsein: die Abkehr vom Christentum als der zentralen Europa einenden Tradition. Eine Gesellschaft ohne Gott, so der Papst a.D., stapft auf der Suche nach Maß und Orientierung blind durch die Gegend. Europas ideologiegetriebene Visionäre sehen nicht mehr oder haben vergessen, dass die Aufspaltung der Menschheit in Kultur- und Sprachgemeinschaften, die sich so stark voneinander unterscheiden, dass ein globales An-einem-Strang-Ziehen nicht (mehr) funktioniert, gottgewollt ist. Das versinnbildlicht die alttestamentliche Geschichte vom Turmbau zu Babel, dem globalistischen Urprojekt gewissermaßen: Die Bibel schildert, wie sich die Menschheit an einem monströsen Großprojekt versuchte, das zeigen sollte: Wir sind zu allem fähig, wir können es mit Gott aufnehmen. Der Teufel in Gestalt der Schlange hatte dem Menschen bereits im Paradies verheißen, dass er sein werde wie Gott und damit die Verbindung Mensch-Gott gekappt. Nun also der größenwahnsinnige Versuch zu beweisen, dass die Schlange recht hatte: »Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht« (1. Mose 11,4a). Wozu? »Wir werden sonst zerstreut in alle Länder« (1. Mose 11,4b). Gott sieht darin den menschlichen Größenwahn, den Hang zur Selbstherrlichkeit: »Sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun« (1. Mose 11,6) – und macht der Menschheit einen Strich durch die Rechnung, indem er die Nationen- und Sprachgrenzen erfindet. »Zerstreuung« nennt das die Bibel. Die göttliche Züchtigungsmaßnahme hat der Turmbau-Erzählung zufolge also zwei Komponenten: eine linguistische, die Sprachverwirrung, und eine geografische, die Zerstreuung.
Während Christen daran glauben, in dem von Jesus gepredigten Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist, die verloren gegangene Einheit auf spirituellem Wege wieder herstellen zu können, führt eine EU-Elite, die diesen Glauben abgestreift hat wie einen alten Handschuh, ein realitätsfernes ethnosoziales Großexperiment mit ungewissem Ausgang durch. Der Missionsbefehl aus dem Schlusskapitel des Matthäusevangeliums, der der geografischen Zerstreuung entgegengewirkt (»Gehet hin und lehret alle Völker«), und das Pfingstwunder, das die Sprachverwirrung außer Kraft setzt, markieren den Weg, den die Bibel zur Überwindung der Doppelsanktion von Babel weist. Das heidnische Gegenprojekt dazu ist die vom Atheisten Karl Marx ausgerufene internationale Arbeiterbewegung, deren Hymne passend auch die »Internationale« heißt. Proletarier aller Länder sollten sich vereinigen und mit Gewalt in dieser Welt ein globales kommunistisches Paradies errichten, ein Paradies ohne Gott, versteht sich. Als Kosmopolitismus-Doktrin lebt diese fixe Idee bis heute im linken Milieu weiter und ist von ihren Anhängern mitten in das Herz der EU getragen worden. Wer dort von Migrationspakten, von »einer Welt« und von Globalisierung spricht, denkt kosmopolitisch. Und er denkt Kosmopolitismus mit Marx ohne Gott. Der moderne Kosmopolitismus ist gleichsam der Versuch des Menschen, die Sanktion von Babel aus eigener Kraft wieder aufzuheben.
Dass es eine linke, heidnische Mehrheit ist, die die EU-Politik bestimmt, dafür gibt es eine Reihe von Indizien: 2004 sollte der italienische Politiker Rocco Buttiglione EU-Justizkommissar werden. Er wurde jedoch vom zuständigen Ausschuss abgelehnt, weil er es gewagt hatte, Homosexualität als Sünde zu bezeichnen. Undenkbar, dass eine von den Werten des Christentums bestimmte EU einen Kandidaten für ein Kommissionsamt zur unerwünschten Person erklärt, nur weil er öffentlich wiederholt, was in der Bibel steht (vgl. Römer 1). Eines der neueren Projekte des paneuropäischen Neomarxismus ist das so genannte »Menschenrecht auf körperliche Selbstbestimmung«, eine politische Auswirkung des heidnisch-hedonistischen Weltbildes der stark sexualisierten Achtundsechziger: Die »sexuellen und reproduktiven Rechte« der Frau werden als »grundlegende Menschenrechte« postuliert und somit die Vernichtung Ungeborener endgültig entkriminalisiert. Jede Frau, so das Argument, müsse allein über ihren Körper verfügen können. Ein solches Recht ist der Bibel fremd. Sie verlangt, dem Schöpfer zu dienen und nicht dem Geschöpf (vgl. Röm. 1,25).
Die Weichen für ein nicht-christliches Europa wurden gestellt, als sich im Ringen um den Gottesbezug in der EU-Verfassung die Atheisten durchsetzten. Gott war dem postmodernen Abendland nicht mehr zuzumuten. Im Vertrag von Lissabon ist stattdessen vage die Rede vom »kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas«, Gott gleichsam als Mumie ins Museum gestellt, ein Museum, wie es Notre-Dame war. Ironie am Rande: Nach knappen zehn Jahren haben die Argumente der Gottesgegner ihr Haltbarkeitsdatum bereits überschritten: Eine Sorge war gewesen, dass ein klares Bekenntnis zum Gott der Bibel die Türkei von der EU-Mitgliedschaft ausgeschlossen hätte. Heute wissen wir: völlig zu Recht. Dass die Türkei mit ihrer muslimischen Tradition ein natürlicher Antipode zum abendländischen Europa ist, musste nicht erst durch das illiberale Erdogan-Regime erwiesen werden. Das hätte man auch aus der Geschichte lernen können. Die von Emmanuel Todd diagnostizierte »anhaltende Realitätsverweigerung durch die geschichtsvergessenen Eliten« hat das aber offensichtlich verhindert. Das zweite Argument, Menschen ohne Glauben könnten sich durch den Gottesbezug diskriminiert fühlen, ist sogar noch absurder. Wenn es an einem in der EU-Gesetzgebung nicht mangelt, sind es schließlich Antidiskriminierungsvorschriften, die nebenbei bemerkt selbst längst illiberale Züge tragen.
Ohne es zu wissen, haben die Gegner eines klaren Bekenntnisses zur christlichen Tradition und den damit verbundenen Werten Europas Totenglöckchen geläutet. Das viel postulierte »mehr Europa« hat die Krise der EU erst möglich gemacht. Wer durch freien Warenverkehr nur möglichst viel Umsatz erzielen will, für den reicht eine Zoll- und Wirtschaftsunion mit gemeinsamem Binnenmarkt, wie es sie im Kern schon seit den Römischen Verträgen von 1957 gibt. Wer aber eine Kultur- und Werteunion anstrebt und glaubt, dies auf der Grundlage von Theoremen, staubtrockenen Verträgen und verklausulierten Gesetzestexten herbeiführen zu können, und gleichzeitig historisch gewachsene nationale Eigenarten als leicht über Bord zu werfenden Ballast abtut, ist ein Dünnbrettbohrer, der sein Werkzeug wegschmeißen kann, sobald ihm das erste dicke Brett vorgelegt wird. Ein solches dickes Brett war die Griechenland-Krise. Ein solches dickes Brett ist die weiter ungelöste Flüchtlingskrise. Gesellschaften, die unter Druck geraten und sich von Auflösung bedroht sehen, reagieren darauf mit einem »Rückzug in die innere Burg«, ist sich EU-Kritiker Emmanuel Todd sicher. Die Union wurde so zum Gegenteil von dem, was sie angeblich bezweckt: Statt zu einen, spaltete sie, statt Frieden zu stiften, säte sie Zorn und Hass. Die Folgen; Merkel mit Hitlerbärtchen, Brexit-Chaos, Pegida. In seinem Ausblick im Schlussteil von »Traurige Moderne« malt Todd ein düsteres Bild und prognostiziert eine »postdemokratische Zukunft«. Eine »Schwächung der Demokratie« sieht er schon jetzt darin, dass sich rechtes und linkes Lager im Parlament verbünden, im deutschen wie im europäischen. Dass große Koalitionen den Niedergang der Demokratie begünstigen, haben Jahrzehnte vor Todd schon andere festgestellt.
Ist die EU also noch zu retten?
Der oft erhobene Vorwurf mangelnder Bürgernähe, wie ihn etwa Dirk Schümer von der WELT erhoben hat, kratzt nur an der Oberfläche. Denn damit ist noch nichts darüber gesagt, was denn den Bürgern wirklich nahegeht. »Familie und Religion bilden gewissermaßen das Unbewusste der Gesellschaften, während Wirtschaft und Politik sich an der Oberfläche der Geschichte, im Bereich des Bewussten abspielen«, so Todd in einem Interview mit dem SPIEGEL. Das Private ist wichtiger als das Politische, weil es tiefer geht. Wenn Vertrautes auf einmal nicht mehr vertraut ist, das geht Bürgern nahe. Wenn Dinge sich ändern, obwohl man sie so, wie sie waren, gut fand, das geht Bürgern nahe. Wenn Menschen beim Arzt im Wartezimmer sitzen oder bei Netto in der Schlange stehen und sich von einem babylonischen Sprachgewirr umgeben sehen, das Unsicherheit und Unbehagen auslöst, das geht ihnen nahe. Das betrifft sie unmittelbar. Denn ihr Zuhause ist auch im Zeitalter der Globalisierung immer noch ihr Stadtteil, ihr Dorf, ihre Straße und wird auch morgen nicht die ganze Welt sein. Die unbewussten Bindungen sind es auf der anderen Seite auch, die die Bildung von Gettos in Gastgesellschaften durch nicht integrationswillige Zuwanderer begünstigen.
Will man den Zumutungen der Europäischen Union etwas entgegensetzen, um an dem viel beschworenen Friedensprojekt Europa festzuhalten, dann muss man gesamteuropäische Identität stiften und keine politischen Gardinenpredigten halten. Man könnte einen gesamteuropäischen Feiertag einführen, an dem sich alle an die Hand nehmen und eine länderübergreifende Lichterkette bilden. Man könnte sich aber auch einfach auf das besinnen, was es schon seit Jahrhunderten gibt: Was könnte unterschiedliche Nationen und Sprachgruppen schließlich besser zusammenbringen und -halten als derselbe Glaube mit Weihnachten, Ostern und Pfingsten als seinen unumstößlichen, sinnlich erleb- und begreifbaren, Halt gebenden Marksteinen? Hierauf haben nicht nur die im zeitgenössischen Diskurs vollkommen vernachlässigten Geschichtsphilosophen Christopher Dawson und Arnold J. Toynbee hingewiesen, sondern in jüngerer Zeit auch der US-Politologe Samuel Huntington, der in »Kampf der Kulturen« schrieb: »Das westliche Christentum ist historisch gesehen das wichtigste Charakteristikum der westlichen Kultur.«
Der fundamentale Fehler der EU in der gegenwärtigen Krise besteht in dem sturen Festhalten an dem, was sich als wenig aussichtsreich erwiesen hat: dem verwegenen Versuch, trotz beträchtlicher nationaler Eigenheiten und Eigenarten ein übernationales Imperium zu errichten und gleichzeitig die wichtigsten Einheit stiftenden Elemente als ideologisch überholt unter den Teppich eines flachen Humanitarismus zu kehren, der den EU-Eliten als Ersatzreligion dient. Europa aber braucht wie die Luft zum Atmen das vereinigende Band des gemeinsamen Glaubens an den dreieinigen Gott und die Verbindlichkeit seiner Gebote als Grundlage einer Wertegemeinschaft. Dieser Glaube ist seit Jahrhunderten grenzübergreifend in Europa lebendig. Er wurzelt tiefer, er durchdringt stärker und er verbindet besser als jede abstrakte Ideologie, als jede politische Doktrin, als jeder humanistische Appell und als jede noch so gut gemeinte EU-Richtlinie. Er lebt auch jenseits der klerikalen Versammlungsorte in Liedern, Festen, Ritualen und Alltagsredewendungen, die jeder kennt. Ohne diesen Glauben und das, was er geprägt hat, kann es kein vereintes Europa geben, sondern nur einen pragmatischen Bund von Staaten, die das darwinistische Prinzip vom Überleben des wirtschaftlich Stärksten immer wieder zu Rivalen der globalen Rennbahn macht und die Solidarität mit einem größeren Ganzen nur kennen, solange es ihnen irgendeinen Nutzen bringt. Vielen EU-Bürgern würde das allerdings auch schon reichen. Sie würden zusehen, wie Notre-Dame wieder aufgebaut wird, und wenn sonntags die Kirchenglocken zur Messe rufen – ja, was dann?