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Von Reynke de Vos
Er war einer der Letzten. Sepp Innerhofers hochaufragende Gestalt und markanter, entschlossener Gesichtsausdruck zeugten bis ins hohe Alter äußerlich von jener Willensstärke, welche die Männer auszeichnete, die sich mit dem Frangarter Greißler und Kleinbauern Sepp Kerschbaumer zusammentaten, um im Herbst 1956 den Befreiungsauschuß Südtirol (BAS) zu gründen. Gleichgesinnte scharten sich um den strenggläubigen Charismatiker Kerschbaumer und wirkten in konspirativen Klein- und Kleinstgruppen daran mit, die Welt(öffentlichkeit) auf die vom „demokratischen“ Nachkriegsitalien in nach wie vor totalitärer Gebärde sowie partiell fortgeltender faschistischer (Un-)Gesetzlichkeit betriebene Unterjochung ihrer Heimat sowie Kujonierung jenes deutschösterreichischen und ladinischen Bevölkerungsteils aufmerksam zu machen, dessen Italianisierung seit dem (Unrechts-)Vertrag von Saint-Germain-en-Laye und der daraus folgenden Annexion des Landes unterm Brenner durch Italien 1919 weder mittels Entnationalisierung noch durch Umsiedlung gelungen war. Und dem die Siegermächte sowohl nach dem unglückseligen Ersten Weltkrieg, in den die damaligen Staatenlenker nach Ansicht des renommierten australischen Historikers Christopher Clark Schlafwandlern gleich zogen, als auch nach dem verhängnisvollen zweiten Weltenbrand, den der gebürtige Österreicher Adolf Hitler unter aktiver Mithilfe seines italienischen Achsenpartners Benito Mussolini entfachte, die Selbstbestimmung verweigerte.
Die Aktivisten des BAS verlangten, worauf kein Geringerer als der unlängst im 92. Lebensjahr verstorbene und unter Beteiligung politischer Prominenz sowie unzähliger Trauergäste aus allen Bevölkerungsschichten in Schenna bei Meran zur letzten Ruhe gebettete Sepp Innerhofer in vielen seiner öffentlichen Mahnrufe stets hinwies, nämlich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch den in einen wesensfremden Staat gezwungenen Tiroler Volksteil zwischen Brenner und Salurner Klause bzw. zwischen Reschen und Dolomiten. Und sie wandten sich in Wort und ersichtlicher wie vernehmbarer Tat – woran es den meisten ihrer Volksvertreter aufgrund realpolitischer, von Rom bestimmter Fakten zwangsläufig, zum Teil aber auch aus einer gewissen Selbstfesselung mangelte – gegen die römische Verfälschung eines 1946 (aufgrund Drucks der Alliierten) zwischen dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide DeGasperi in Paris zustande gekommenen vertraglichen Übereinkommens. Darin war den Südtirolern die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten in Form einer statuarisch festgelegten Landesautonomie zugestanden worden.
Hatten die BAS-Akteure zunächst noch die Hoffnung, dass sich nach der machtvollen Demonstration von 30 000 Südtirolern auf Schloß Sigmundskron und mehrmaligen Vorstößen Wiens – so der Intervention des damaligen Außenministers Bruno Kreisky vor den Vereinten Nationen zugunsten der Südtiroler – die starre Haltung Roms ändern könnte, so sahen sie sich alsbald getäuscht. Die Geduld sei daher zugunsten der Tat gewichen, wie es Innerhofer einmal ausdrückte, weshalb man im BAS beschlossen habe: „Wir müssen lauter werden, sonst hören die uns da unten nicht.“ Sie wurden dann sehr laut, die idealistischen Kämpfer des BAS. So laut, dass ihr „großer Schlag“, das Sprengen von annähernd 40 Strommasten in der sogenannten „Feuernacht“ (11. auf 12. Juni 1961) nicht nur im weiten Rund um Bozen sowie an Eisack und Etsch, sondern weit darüber hinaus gehört wurde. Nicht zuletzt dieses Fanal gab – wider anderslautende Auffassungen, Deutungen und geschichtspolitische Interpretationen – den Anstoß für Verhandlungen der beteiligten Konfliktparteien, woraus schließlich das zwischen 1969 und 1972 staatsrechtlich inkraftgesetzte neue Autonomie-Statut hervorging, auf dessen Grundlage die heutige (gesellschafts)politische Verfasstheit Südtirols ruht.
Bis es soweit war, begleiteten zahlreiche Rückschläge den Verhandlungsprozeß zwischen Wien sowie Bozen und Rom. Und die BAS-Aktivisten durchlitten ein von der italienischen Staatsgewalt legitimiertes Purgatorium, das wider die Menschenrechte verstieß und eines demokratischen Rechtsstaates gänzlich unwürdig war. Südtirol wurde in Belagerungszustand versetzt und von zusätzlich hinbeorderten Sicherheitskräften förmlich überzogen, sodaß mehr als 20.000 Soldaten, Carabinieri und Spezialisten der Geheimdienste den verhängten Ausnahmezustand zu gewährleisten und jede „feindliche Regung“ zu unterdrücken hatten. 150 Freiheitskämpfer des BAS wurden als „bombardieri“ bzw. „terroristi“ inhaftiert, die meisten von Angehörigen einer Spezialeinheit gefoltert, denen Italiens Innenminister Mario Scelba die „Carta bianca“ für ihr barbarisches Tun erteilte.
Sepp Innerhofer, der Obstbauer aus Schenna, der zwei Elektromasten gesprengt hatte, war unter den Gefolterten. In der Carabinieri-Kaserne zu Eppan mußte er über mehrere Tage hin Faustschläge, Schläge mit Gewehrriemen und Gewehrkolben ins Gesicht sowie auf alle Teile seines nackten Körpers bis hin zur Bewußtlosigkeit ertragen. Man schlug ihm einen Zahn aus, riß ihm Haarbüscheln an Kopf und Geschlechtsteil aus, ließ ihn stundenlang auf Fußspitzen stehen und platzierte eine Glühlampe direkt vor seinem Kopf. Man entzog ihm Essen und Trinken und erzwang schließlich seine Unterschrift unter ein „Geständnisprotokoll“, ohne daß er dieses überhaupt lesen konnte bzw. durfte. In einem aus dem Gefängnis in Bozen, in dem er dann einsaß, herausgeschmuggelten und an Landeshauptmann Silvius Magnago gerichteten Brief vom 22. September 1961 schilderte Innerhofer die erlittenen Qualen. Eine Reaktion blieb aus.
Wie andere BAS-Aktivisten wurde auch Innerhofer in Mailand der Prozeß gemacht. Das Urteil lautete drei Jahre Gefängnis und – nach der Haftentlassung – Verlust der Bürgerrechte für 35 Jahre. Jeglicher Besitz war ihm untersagt, er durfte keine öffentlichen Ämter bekleiden und mußte sich regelmäßig bei den Carabinieri melden. Erst im Jahre 2000 konnte er wieder das Wahlrecht ausüben.
Verbittert hat ihn dies nicht. Bis ins hohe Alter hielt der Obstbauer Vorträge über das damalige politische und gesellschaftliche Geschehen aus der Perspektive des eigenen Erlebten und Erlittenen. Als aktiver Streiter für die Südtiroler Sache legte das BAS-Gründungsmitglied aus der Mitte der Bevölkerung Zeugnis ab vom Gebaren Italiens, das seinerzeit die Südtiroler entrechtete und gleich einem Kolonialvolk unterjochte.
Innerhofer trat zwar stets für das Recht auf Selbstbestimmung ein, gab sich aber letztlich doch mit dem auf der Grundlage der schließlich gewährten, rechtlich einigermaßen gesicherten Autonomie erlangten Zustand zufrieden. Regelwerk und Ausgestaltung dieser politisch-kulturellen Territorialautonomie werden trotz ihrer immer wieder zutage tretenden, durch römischen Zentralismus verursachten administrativen Einschränkungen von Politik und Medien gerne als Projektionsfläche für die Bewältigung von Problemen anderer in fremdnationaler Umgebung beheimateten Volksgruppen herangezogen sowie als vorbildgebendes Beispiel für die friedliche Eindämmung von Konflikten in und zwischen Staaten mit ethnischen Konflikten gepriesen.
Indes setzte sich Innerhofer mit seiner immer wieder öffentlich vorgetragenen Zufriedenheitsbekundung zwangsläufig in einen gewissen Widerspruch zur festen Auffassung jenes beträchtlichen Teils der BAS-Aktivisten, deren Haltung und uneigennützigem Einsatz sich beispielsweise die „Kameradschaft ehemaliger Südtiroler Freiheitskämpfer“, der Südtiroler Heimatbund (SHB) und der Südtiroler Schützenbund (SSB) nach wie vor auf das engste verbunden fühlen und für deren eigentliche Ziele vornehmlich die deutschtiroler Oppositionsparteien im Bozner Landhaus (Südtiroler Landtag) politisch einstehen. Im Gegensatz zur (heutigen Führung der) Südtiroler Volkspartei (SVP) und der seit 1945 von ihr dominierten Landesregierung, die die – auch infolge entscheidender Mithilfe des BAS errungene – Autonomie quasi als Wert an sich verabsolutieren, erachten sie diese nämlich nicht als Endzustand, sondern lediglich als Zwischenetappe auf dem nach wie vor zu verfolgenden Weg hin zur Selbstbestimmung.
Sie geben sich daher keinesfalls mit jener im österreichischen Außenministerium ersonnenen und während der Amtszeit des damaligen Ressortchefs Sebastian Kurz wider „die Ewiggestrigen“ propagierten diplomatischen Formel zufrieden, welche sich mit der Daseinszufriedenheit(sbekundung) des verstorbenen Sepp Innerhofer deckt, wonach es sich bei der Südtirol-Autonomie um eine „besondere Form der Selbstbestimmung“ handele. Das Ziel der BAS-Erben entspricht vielmehr dem „Los von Rom“, mithin dem ursprünglichen Verlangen aller Südtiroler und der ihnen zugetanen politischen Kräfte in Österreich und darüber hinaus nach Ausübung des Selbstbestimmungsrechts sowie in letzter Konsequenz nach Wiedervereinigung mit dem Bundesland Tirol und also mit dem Vaterland Österreich.