(www.conservo.wordpress.com)
Von Maria Schneider *)
Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muß.
(Johann Gottfried von Herder)
Auch hier in Irland streckt die Globalisierung ihre Fühler aus und webt ein feines Gespinst aus immer festerem Zwirn, in dem die Iren zappeln werden.
Auf Inis Mór – einer der drei Araninseln – vermisse ich beim Frühstück die Irin, die letztes Jahr jeden Morgen unsere Bestellungen in ihrem typischem Englisch aufnahm, aus dem noch ihre eigentliche Muttersprache, das Irische, hervorklang. Verblaßtes, rötliches Lockenhaar, blaue Augen und knittrige Porzellanhaut, ein baumelndes Doppelkinn und mütterliche Fülle, gepaart mit dem Charme der Authentizität. Jeder Posten wurde in großer, krakeliger Schrift gründlichst auf einem Block mit Kohlepapier notiert. Versuche einer beschleunigten Bestellung waren zwecklos und verursachten nur eine Verlängerung des Vorgangs. Aber wer wollte ein solches Faktotum schon zur Eile drängen?
Nach dem Bestellabschluß erhaschten wir hin und wieder irische Zurufe aus der Küche und lauschten fasziniert ihren Unterhaltungen mit dem großen, behäbigen Chef, der nur im Frühstückraum Anzughosen trug und nachmittags in labberigen Jogginghosen, deren beste Zeiten weit zurück in der irischen Geschichte lagen, schwatzend mit den irischen Kutschern an unterschiedlichen Straßenecken anzutreffen war. Jeden Tag ertönten von einem kleinen CD-Gerät die gleichen irischen Lieder in Endlosschleife.
Nun sind wir wieder da. Das Pier House steht noch. Der Chef mit seinem tiefen Baß und seine Frau führen den Laden immer noch. Der Sohn mit strahlend blauen Augen und schwarzem Haar ist dem Chef wie aus dem Gesicht geschnitten und macht nun die Gästeverwaltung. Auch die CD spielt jeden Morgen die gleichen irischen Lieder. Nur unser irisches Faktotum ist – wie gesagt – weg. Stattdessen wechseln sich nun eine Chilenin und eine Spanierin ab.Die Chilenin ist liebreizend und hat natürlichen Charme. Ihr schwarzes Haar glänzt wie Lack und ist in einem schönen Pferdeschwanz mit einem bunten Tuch zurückgebunden. Stets liegt ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie ist nun schon den zweiten Sommer hier, um Englisch zu lernen. Zuerst war sie in Dublin, wo ein WG-Zimmer 400 Euro im Monat kostete. Das konnte sie sich nicht leisten. Also verschlug es sie auf Inis Mór, wo knarzige, irische Fährmänner sie beim Frühstück anhimmeln und jeden Morgen das Gespräch mit ihr suchen.
Die Spanierin trägt die untere Hälfte ihres dunkelbraunen Haares ausrasiert. Bei der oberen Hälfte hat Pappheldin Carola Rackete Patin gestanden. Auf ihrem Kopf thronen verschlungene Dreadlocks in verschiedenen Farbschattierungen. Bunte Bändchen an ihrem Handgelenk runden das politische Statement ab. Zwar bemüht sie sich um Freundlichkeit, doch ihr hartes, hageres Gesicht ermutigt nicht zum weiteren Gespräch. Die Fährmänner und Touristen ertragen sie mit resignierter Fassung.
Hin und wieder bedient auch eine Irin, die um die 50 Jahre alt ist. Sie hat kurzes, dunkles Haar und dunkelblaue Augen. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, weiß ich wieder, warum ich hier bin. Sie gehört hierher und hat, wie der Chef und seine Familie, ihr ganzes Leben auf der Insel verbracht. Sie interessiert sich für die Gäste und strahlt Herzlichkeit aus, während die beiden Südländerinnen wie Satelliten ihren Dienst verrichten, die zufällig in eine andere Umlaufbahn geraten sind. Ob sie nun in Irland oder anderswo bedienen, scheint keine große Rolle zu spielen.
Dieser Eindruck bestätigt sich immer wieder. Sei es in der In-Kneipe Joe Watties, wo ein Osteuropäer bedient, oder im feineren Restaurant Madigan’s, wo mir ein Franzose mit dünnem Moustache und starkem Akzent erklärt, dass er seit 3 Jahren durch die Welt reist und verschiedene Jobs macht. Nein, er wolle sich nicht niederlassen. Überall und nirgends zu sein, sei seine Lebensentscheidung.
Ich schlucke angesichts der bewußt gewählten Heimatlosigkeit und empfinde es zudem wieder einmal als Zumutung, dass ich meine Bestellung wiederholen muss, weil er die Landesprache im Gegensatz zu mir nur unzureichend beherrscht. Aber so ist nun mal das Leben als Wanderer zwischen den Welten. Überall ein bißchen zu Haus’, aber mit nichts so richtig vertraut.
Beim zweiten Besuch des Restaurants bedient mich sein Landsmann, ein weiterer Weltenbummler. Diesmal könnte ich genausogut in Frankreich sein. Weder versteht er mein perfektes Englisch, noch kann ich seinen extrem starken, französischen Akzent durchdringen.
Wir besuchen reihum die vier Restaurants auf der Insel und landen wieder einmal in „The Bar“. Dort führe ich meine persönliche Statistik an fremdländischen Bedienungen weiter.
Eine junge Frau mit zwei Zöpfen, die recht gut englisch spricht, stammt aus Tschechien. Sie erklärt mir, dass sie den dritten Sommer hier sei und in fast allen Restaurants in der Küche Slowenen und Slowaken kochen würden. Ich höre und staune angesichts der vielen jungen Heuschrecken-Menschen aus der ganzen Welt, die nach dem Prinzip „Überall zu Hause und nirgends daheim“ leben: Bindungslos, heimatlos, auf den eigenen Vorteil bedacht, desinteressiert an der eigenen und neuen Heimat und jederzeit auf dem Sprung, um in attraktivere Gefilde weiterziehen.
Nach dem Mittagessen nehmen wir im kleinen Souvenirladen einen Espresso, der vom italienischen Eigentümer zubereitet wird. Dabei hören wir ein Gespräch zwischen zwei Italienerinnen und zwei Amerikanern mit. Alle vier sind sich einig, dass Trump und Salvini ungebildete Rassisten seien. Interessiert schaue ich sie mir genauer an. Der Amerikaner im Hippie-Look geht auf die 70 zu, seine Latina-Freundin mit cooler Schirmmütze ebenso. Beide umgibt die klassische Woodstock-Aura. Fast meine ich, Patschuli zu riechen. Er erläutert den Italienerinnen, dass seine Verwandten in Texas Trump-Wähler, Rassisten und Kleingeister seien. Deswegen würde er nicht mehr mit ihnen sprechen, da Hopfen und Malz bei ihnen verloren seien. Ja, denke ich, so einfach kann die Welt sein, wenn man gerade auf der Welle der Deutungshoheit segelt.
Die Italienerinnen stimmen vehement zu. Sie sind schön und jung mit obligatorischer Sonnenbrille im langen Haar. Mein Blick sucht vergebens Halt auf ihren glatten Gesichtern, an denen abweichende Meinungen zu ihren Überzeugungen abzuperlen scheinen. Aber was soll man auch zwei neofeudalen, unwissenden Frauen sagen, die wütend auf ältere Männer sind, weil sie ihnen ihr Privileg, nach Bedarf die schönsten Ecken der Welt abzugrasen, wegnehmen wollen? Es ist vergebene Liebesmüh’, ihnen zu erklären, dass so etwas noch nie funktioniert hat. Schon gar nicht für all jene – Bauern, Arbeiter, einfache und heimatverbundene Menschen – die sie mit ihrem Salon-Sozialismus zu beschützen meinen.
Die ganze Welt verändert sich in rasendem Tempo. Mir schwirrt der Kopf. Ich weiß gar nicht mehr, wohin ich mich noch wenden soll, da so vieles Altvertrautes entgleitet. Sogar eine so entlegene Insel wie Inis Mór bleibt nicht verschont. In mir steigt Trauer auf. Trauer über den Verlust meiner alten Welt der Gewissheiten. Trauer über den Verlust des echten, authentischen Irlands, der sich am Horizont abzeichnet. Trauer darüber, dass alles geht und nichts mehr gilt.
Noch geschehen die Änderungen unterschwellig, unmerklich. Denn nicht nur ist das Land herrlich grün und fruchtbar, die Frauen sind es auch. Überall sehe ich junge Familien mit blonden, entzückenden Kindern. Weithin leuchten rote Schöpfe wie Kupfer. Noch kommen die Fremden aus Europa und christlichen Ländern. Und noch ist der keltische Teppich – zumindest auf dem Lande – intakt. In Städten wie Dublin sind schon Webfehler zu sehen, die das ursprüngliche Muster verzerren. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wann wird das Muster so verändert sein, dass es seine Einzigartigkeit verliert?
Nach 11 Tagen auf der mystischen Insel Inis Mór ziehen wir wehmütig weiter. Der Wirt erwartet mich im Gastraum, um sich von mir zu verabschieden. Seit uns der Border Collie „Fred“ – ohne uns zu fragen – adoptiert und auf Schritt und Tritt begleitet hat, haben wir auf der Insel eine gewisse Berühmtheit als seine Hüteobjekte erlangt und sogar den herben Wirt erweicht. Er beugt sich zu mir hinab und gibt mir unerwartet einen Wangenkuß (nur einen, nicht zwei), die Wirtin ermahnt mich, nicht zuviel zu arbeiten und die irische Bedienung tätschelt meinen Arm.
„Fred“ steht schon ungeduldig bei Fuß, um uns auf unserem letzten Wegabschnitt zu hüten. Gewissenhaft erledigt er auch diese Aufgabe bis zur Fähre. Danach dreht er sich um, läuft ein Stück und blickt gelassen zu uns zurück, bevor er sich im Menschengetümmel verliert. Spätestens jetzt weiß ich, dass es nun „Slán agat!“ heißt.
Ich seufze und wende den Blick auf das offene Meer und zumindest eines ist gewiß: Ich kehre nach Inis Mór zurück.