(www.conservo.wordpress.com)
Von DR. PHIL MEHRENS
Lebensrechtsgruppen marschieren jedes Jahr Ende September durch Berlin und hinterfragen die linke »Mein Bauch gehört mir«-Doktrin. In der Gesellschaft stößt ihr Anliegen auf wenig Gegenliebe und auch die großen Nachrichtenformate ignorieren die rund 8000 Demonstrierer. Warum eigentlich?
Welch ein Skandal wäre das: Ein Titel des SPIEGEL oder des STERN, bestehend aus zwanzig kleinen Fotografien toter Föten. Quer darüber ein gelbes Banner mit der Schlagzeile: »Wir wurden abgetrieben!« Im Innenteil des Magazins die Titelgeschichte: Eine Reihe von Müttern kommt darin zu Wort, darunter viele, sehr viele, die den Schritt auch nach Jahren noch bereuen. Sie berichten von Wellen der Trauer, von Depressionen, von Gedichten an die Kinder, die sie nicht haben zu können glaubten. Sie lassen erkennen, dass sie die Wirkung der Tötung auf ihre Psyche unterschätzt haben, wollen gar nicht genau gewusst haben, was eigentlich bei dem verharmlosend Abtreibung genannten Eingriff mit ihrem Baby geschieht.
Die Titelgeschichte beklagt, dass deutsche Massenmedien zwar über Tod, Vernichtung und Gewalt gegen Menschen in allen Formen und Schattierungen berichten, über die Leichenteile, die alljährlich allein in Deutschland mehr als 100.000 Mal aus Abtreibungskliniken entsorgt werden müssen, aber beharrlich schweigen. Leichenteile sind das mit klar erkennbaren Kindergliedmaßen, einem Kopf und Augen darin, einem Herzen, das seit der sechsten Schwangerschaftswoche bereits selbsttätig schlug.
Wir können das Gedankenexperiment an dieser Stelle vorzeitig beenden. Zwar gibt es diese Frauen, scharenweise gibt es sie; aber es gibt sie nicht in deutschen Leitmedien. Wenn es tote Kinder dort in die Schlagzeilen schaffen wollen, gibt es eine Altersgrenze: Sie müssen mindestens sechs Monate älter sein als ihre ungeborenen Leidensgenossen: Überreste von Babys in Blumentöpfen, Babyleichen im Keller oder in der Tiefkühltruhe, Flüchtlingskinder, die tot an einen Mittelmeerstrand gespült werden – all das hat in der Vergangenheit ein breites mediales Echo gefunden. Hungernde Kinder waren sogar schon Gegenstand einer Werbekampagne der Modemarke Benetton.Gegen ihren Willen aus dem Mutterleib gezerrte und dabei getötete Kinder sind dagegen gleichsam unsichtbar.
»Unsere Gesellschaft hat das Lebensrecht von Ungeborenen zum Tabuthema gemacht«, sagt Marie Elisabeth Hohenberg von der Stiftung Ja zum Leben. Über sie zu schreiben, Fotos von ihnen nach dem »Eingriff« zu zeigen: undenkbar. Selbst der Fall des kleinen Tim Guido, der die ganze Absurdität der geltenden Abtreibungsregelung offenbart, wurde lediglich von liberal-konservativen Medien wie FOCUS und WELT aufgegriffen.
Bei Tim war per Ultraschall Trisomie 21 festgestellt worden und damit der Weg frei für eine Spätabtreibung. Tim überlebte den Tötungsversuch und musste, nun nicht mehr im Mutterleib, von denselben Leuten gerettet werden, die ihn wenige Augenblicke zuvor noch hatten umbringen wollen. Es dauerte allerdings, bis ihnen das klar wurde. Trotzdem überlebte der Junge. Er wurde adoptiert, gefördert, geliebt. Im letzten Winter verstarb Tim. Er hatte sein eigenes Sterbedatum um 21 Jahre überlebt.
Wie keine zweite eignet sich die Groteske von Tim Guido für ein typisch öffentlich-rechtliches Rührstück. Ob fehlende Spenderniere, »homophobes« Mobbing oder Vollstreckung einer Abschiebung – Legion sind die TV-Beiträge, die, zum journalistischen Melodram stilisiert, in Heute-Journal oder Tagesthemen über die Mattscheiben flimmern, solange sie thematisch diesseits des selbst gezogenen Sperrzonenzauns liegen.
Am 15. Mai 2019 moderierte Marietta Slomka im ZDF-Heute-Journal einen Bericht über die Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen, die im US-Bundesstaat Alabama die Abtötung Ungeborener regeln, mit folgendem Satz an:
»So wie ihr Körper ihnen [den Frauen] schon während der Vergewaltigung nicht gehörte, so soll er ihnen auch danach nicht mehr gehören.«
Es ist ein Moderationstext der totalen Parteinahme, in dem für die Menschenwürde des Ungeborenen kein Herz schlägt. Dabei betrachtet das geltende deutsche Strafrecht (§ 218 StGB) das Leben des Kindes auch vor der Geburt als uneingeschränkt schützenswert und seine Vernichtung daher als Straftat (die allerdings gemäß § 218a ungesühnt bleibt). 1993 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht generell für rechtmäßig erklärt werden darf.
Ungeborene „zum Abschuß freigegeben“
Abermals könnte sich der europäische Einigungsprozess fatal auswirken. Denn im EU-Parlament kämpfen linke Gruppen seit Jahren für ein Menschenrecht auf »sexuelle und reproduktive Gesundheit«: Die Ungeborenen sollen zum Abschuss freigegeben werden. Selbst in dem Land, das etwa 100.000 geistesschwache und gebrechliche Personen als »unwertes Leben« einem Tötungsprogramm zuwies, scheint das die sonst so wachen Medien nicht zu stören. Man könnte meinen, wie vor achtzig Jahren sind sie nur mehr Steigbügelhalter für politische Propaganda. Nur dass die jetzt keinen faschistischen, sondern einen feministischen Anstrich hat.
- Wie sonst wäre zu erklären, dass die mindestens eine Million Kinder, die der Konjunktur, den gierig die Hände nach Fachkräften ausstreckenden deutschen Unternehmen und nicht zuletzt den deutschen Rentenkassen in den letzten zehn Jahren unwiederbringlich verloren gegangen sind, kein Thema sind?
- Wie sonst ist es zu erklären, dass man die demografische Lücke lieber durch Horden kulturfremder Zuwanderer stopft, für deren Integration Milliarden Steuergelder verballert werden müssen, als ihre Ursache abzustellen?
- Und wieso wundert sich niemand darüber, dass ein bedeutendes Nachrichtenmagazin unter dem Titel »Leiser Tod im Topf« einen ganz und gar ernst gemeinten Bericht zum Schmerzempfinden von Hummern in Kochtöpfen veröffentlicht, sich seine Autoren über das Schmerzempfinden von Kindern bei einer Abtreibung (»Leiser Tod in der Abtreibungspraxis«) offenbar aber noch nie Gedanken gemacht haben?
„Limitierung der Freiheit“?
In seinem tendenziösen, aber scharfsinnigen Essay »Der Teufel trägt Öko« forderte der Journalist Thomas Assheuer in der letzten Woche (DIE ZEIT Nr. 37) mit Blick auf den Klimawandel eine »Limitierung der Freiheit« und zeigte sich erstaunt, dass ausgerechnet Konservative sich damit schwertäten. Schließlich gäben sie diese Freiheiten zugunsten der Tradition ja auch bereitwillig preis. Wenn aber, so Assheuer, die moderne Gesellschaft von der Natur eingeholt und sogar bedroht werde, bedürfe es dann nicht einer »Freiheit, die sich aus freien Stücken selbst bindet«?
Das klingt klug und ist es auch. Doch zugleich treten, indem Donald Trump und Jair Bolsonaro als Feindbilder bemüht werden, auch wieder die leidigen Scheuklappen zutage, die Vertreter der linksliberalen Orthodoxie gewohnheitsmäßig tragen und die für den notorisch verengten Blick sorgen:
Wenn linke Gewissheiten ins Wanken geraten, hilft immer der Gedanke an Donald Trump als Gewährsmann dafür, dass man auch wirklich auf der richtigen Seite steht. Assheuer betrachtet ihn und sein brasilianisches Pendant als »Dekadenzgestalten« des Liberalismus. Dabei – und hier wirken sich nun die Scheuklappen aus – ist jeder westliche Politiker, der der gewerbsmäßigen Abtötung Ungeborener nicht entgegentritt (Trump und Bolsonaro tun das), eine ebensolche Dekadenzgestalt. Die Natur ist schließlich auch am Werk, wenn Mann und Frau einander sinnlich begegnen: Sie hat Sexualität und Zeugungsakt untrennbar zusammengebunden.
Wenn nun Achtundsechziger-Hedonismus die Verantwortung für das so entstandene Leben auf Abtreibungskliniken abwälzt und infolgedessen eine besorgniserregende demografische Lücke verursacht, bedarf es dann nicht auch einer »Freiheit, die sich aus freien Stücken selbst bindet«?
Assheuer greift den Vorschlag des Philosophen Tilo Wesche auf, die Natur mit Eigentumsrechten auszustatten, »mit einem Recht an sich selbst«, um sie vor dem ungezügelten Zugriff der freien Marktwirtschaft zu schützen. Doch wie bigott mutet das an, solange von der Natur gewolltem menschlichem Leben dasselbe »Recht an sich selbst« aberkannt wird?
Linksliberale, die gerade den Schöpfungsgedanken neu entdecken, weil das Problem Klimawandel so akut ist, sollten lieber erst mal vor der eigenen Haustüre kehren, ehe sie Konservativen die Leviten lesen.
Mustergültig skizziert hat der Bestsellerautor Ferdinand von Schirach (»Verbrechen«) die ethische Dimension des Streitthemas. In seinem Theaterstück »Terror« lässt er eine Staatsanwältin für die Unantastbarkeit der Menschenwürde eintreten: »Der Mensch, sagte Kant, könne sich seine eigenen Gesetze geben und nach ihnen handeln, das unterscheide ihn von allen anderen Wesen. […] Deshalb sei er Subjekt und nicht, wie ein Stein, bloßes Objekt. Jeder Mensch besitzt diese Würde. Wenn nun über einen Menschen bestimmt wird, ohne dass er darauf Einfluss nehmen kann […], wird er zum Objekt. Und damit ist klar: Der Staat kann niemals ein Leben gegen ein anderes aufwiegen. Auch nicht gegen 100, nicht gegen 1000 Leben. Jeder einzelne Mensch […] besitzt diese Würde. Menschen sind keine Gegenstände. Das Leben kann nicht in Zahlen gemessen werden, es ist kein Markt.«
Man möchte von Schirach nach diesem einleuchtenden Vortrag applaudieren, ihn fragen, in welcher Anti-Abtreibungsgruppe er organisiert ist und an wie vielen Märschen für das Leben er teilgenommen hat. »Das Leben kann nicht in Zahlen gemessen werden« – es ist also unerheblich, ob ein Kind zwölf Wochen, 48 Wochen oder ein Jahr alt ist und ob sein Herz noch im Mutterleib oder schon auf der Babydecke schlägt. Das Theaterstück, aus dem das Zitat stammt, erschien kurz nach den Terror-Anschlägen von Paris im Herbst 2015 als Buch. Es hat – man ahnt es schon, denn der Text wurde auch im SPIEGEL abgedruckt – überhaupt nichts mit dem Thema Abtreibung zu tun.
Es geht dem Autor um etwas ganz anderes: die Verletzung menschlicher Grundrechte zur Abwehr eines so genannten größeren Übels. Er sagt sinngemäß: Welcher Mensch kann sich anmaßen, Gott zu spielen, indem er entscheidet, wer leben darf und wer nicht? In seinem Stück spielt er das Szenario eines Passagierflugzeugs durch, das auf ein voll besetztes Stadion zurast. Die knifflige Frage: »Flugzeug abschießen oder nicht?« beantwortet von Schirach mit einem entschiedenen Nein. Doch kann, was im Kontext strittiger Anti-Terror-Maßnahmen Anwendung findet, auf einmal ungültig werden, wenn man es auf das Ungeborene im Mutterleib anwendet? Wäre die Belastung durch ein »ungewolltes« Kind das »größere Übel«, das durch ein kleineres Übel, die Abtötung, abgewendet werden darf?
Einer, der diese doppelte Moral schonungslos entlarvt, ist Papst Franziskus, der in vielen sozialethischen Fragen, der Klima- und Migrationsdebatte klassisch linke Positionen besetzt, zum Thema Abtötung Ungeborener jedoch bei seiner Generalaudienz im Vatikan am 10. Oktober 2018 den schockierenden Satz sagte:
»Einen Menschen zu beseitigen, ist wie die Inanspruchnahme eines Auftragsmörders, um ein Problem zu lösen.«
Der Aufschrei des polit-medialen Establishments war wie üblich groß und leider von keiner Spur Selbstkritik begleitet. Geschrei wird es auch am 21. September in Berlin wieder geben, wenn Linke und Autonome, mit Rückendeckung von Rotgrün einschließlich Bürgermeister Müller (SPD) und – indirekt – auch des evangelischen Bischofs von Berlin-Brandenburg, im Zuge einer Gegendemonstration wieder alles dafür tun werden, Meinungen zu unterdrücken, die ihr Weltbild sprengen. Wieder wird zu hören sein:
»Hätte man euch abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben.«
Und wieder wird diese Parole jener besonderen Hassbotschaften-Unterkategorie zuzurechnen sein, die nicht gesellschaftlich geächtet ist. Schließlich wurden beim letzten Marsch für das Leben neben Menschen mit Down-Syndrom auch Repräsentanten der AfD gesichtet. Und dann passt das schon.