Oder wollt ihr Boris Johnson?

(www.conservo.wordpress.com)

VON DR.PHIL.MEHRENS

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall droht Deutschland nun ein neuer, antipopulistischer Schutzwall. Und das soll Demokratie sein?

Eigentlich hätte man es kommen sehen können. Eigentlich hätte man es kommen sehen können in einen Land, dessen Bürger sich dazu erziehen ließen, auch dann an einer roten Ampel zu halten, wenn im Umkreis von einer Meile kein Auto zu sehen ist, oder in einem Land, dessen Bürger sich dazu erziehen ließen, die Hinterlassenschaften ihrer Vierbeiner mittels einer Plastiktüte einzusammeln, obwohl sie gleichzeitig verpflichtet sind, für die Hundehaltung eine Abgabe zu entrichten, oder in einem Land, dessen Bürger das bisschen Geld, das ihnen von ihrem Lohn nach Abzug dessen, was der Staat einkassiert, auf eine Bank bringen, auf der es keine Zinsen einbringt, weil Zinsen wegen höherrangiger Interessen des Staates abgeschafft wurden, und dessen Bürger in dem unwahrscheinlichen Fall, dass es doch nennenswerte Zinserträge gäbe, davon dem Staat nochmals bereitwillig einen stattlichen Anteil abtreten dürften.

Es sind dieselben Bürger, die vor Jahren klaglos ihr Geld für ein neues Empfangsgerät zum Empfang von regimekonformer Propaganda sowie den sie begleitenden Krimis, Sport- und Unterhaltungssendungen auf den Ladentisch gelegt haben und ein paar Jahre später dasselbe (noch voll funktionstüchtige) Gerät wegschmeißen konnten, weil angeblich die Technologie veraltet war. Und es sind dieselben Bürger, die, wenn sie keine Lust zum Zählen der Falten im Gesicht der Vermittler regimekonformer Propaganda hatten, die ihnen das neue Fernsehen nun dank neuer, hoher Auflösung auf die Mattscheiben brachte, und sich also weigerten, ein neues Empfangsgerät mit eingebauter Faltenzählfunktion zu erwerben, trotzdem für den Empfang des regimekonformen Informations- und Unterhaltungsprogramms zahlen müssen. Dafür ist seitens des Staates im Rahmen einer so genannten Gebührenreform rechtzeitig gesorgt worden. Also: Eigentlich hätte man es kommen sehen müssen, dass ein Staat, in dem solche Grotesken zum Alltag gehören, ein Staat, der sich zwar Demokratie, »Herrschaft des Volkes«, nennt, in Wahrheit aber darauf pfeift, was das Volk will, und es nach Belieben dirigiert, reguliert und manipuliert, dass dieser Staat irgendwann auch aufhören würde, so zu tun, als läge ihm etwas an dem Grundrecht des Bürgers auf eine eigene Meinung. Wer sich zu Hundeexkrementetüten überreden lässt, mag die Überlegung der Staats- und Meinungslenker in unserer Republik gewesen sein, der wird sich auch noch ganz andere Sachen einreden lassen. Zum Beispiel, dass man eine Opposition nicht braucht, die auf die wichtigsten gesellschaftlichen Fragen ganz andere Antworten liefert als die Regierung und die gesellschaftliche Orthodoxie, auf deren dogmatischer Grundlage sie Politik macht. Eine solche Opposition stört doch nur, torpediert die nationale Einheit, spaltet, gefährdet die Demokratie.

Ach ja, die Demokratie. Wenn es derzeit noch eine Übereinstimmung zwischen allen politischen Lagern gibt, dann ist es wohl die Sorge um die Demokratie. Die AfD sorgt sich um die Demokratie, weil man sie als Oppositionspartei zu delegitimieren versucht, die anderen Parteien sorgen sich um die Demokratie, weil es die AfD gibt. Die Frage ist nur, ob wirklich alle Demokratie meinen, wenn sie davon sprechen, oder ob der Bürger es nicht eher wie Rotkäppchen mit einem Wolf zu tun hat, der zwar in Großmutters Nachthemd ganz friedlich aussieht, aber schon an seinem großen Maul erkennen lässt: Da hat sich eine Ideologie nur als Demokratie verkleidet. Fakt ist: Legt man das Grundgesetz (Artikel 21) zugrunde, kann an einem neuen politischen Wettbewerber, der dem Souverän andere Lösungsvorschläge zur Abstimmung vorlegt als seine etablierten Konkurrenten, keinerlei Anstoß genommen werden, im Gegenteil.

Also: Geht es den Etablierten wirklich um die Rettung der Demokratie oder nur um die Rettung einer ideologiebasierten Leitkultur? Und ist das der Quell, aus dem ohne Unterlass wölfische Diskussionshemmer wie »Hetze«, »Populismus« oder »Hass« hervorsprudeln, die das naive Rotkäppchen erschrecken sollen? Es lohnt sich auf der Suche nach Antworten, die Meinungsmacher in den Medien und ihre Argumentationsmuster genau unter die Lupe zu nehmen. Typisch und im Hinblick auf die Fragestellung als repräsentativ einzustufen ist etwa die Position der Journalistin Anna Sauerbrey. Sie nimmt in einem Essay für den Berliner »Tagesspiegel« den Streit zwischen dem »populistischen« britischen Premier Boris Johnson und dem britischen Parlament zum Anlass, um daraus elementare Erkenntnisse für den richtigen Umgang mit »populistischen« Bewegungen abzuleiten.

Schon ihre Ausgangsfrage: »Wie gut sind Europas Demokratien gegen Populisten gewappnet und mit welchen Mitteln lassen sie sich stoppen?« ist problematisch. Sie arbeitet mit der Prämisse, dass »Populisten« gestoppt werden müssen. »Populistisch« nennt man Bewegungen, die wegen der Einfachheit ihrer Antworten auf komplexe Themen auf großen Widerhall bei den – das unterstellt der Begriff – eher schlichteren Gemütern im Volk stoßen. In diesem Sinne ist die »Fridays for Future«-Bewegung ganz klar populistisch. Die aber will Anna Sauerbrey natürlich nicht stoppen. Daraus folgt:

Es geht darum, eine – vom eigenen weltanschaulich zementierten Standpunkt aus – ungeliebte politische Bewegung zu stoppen, und zwar auch dann, wenn sie im Volk auf Zustimmung stößt und sich diese in Wahlen ausdrückt. Ein Demokrat kann das nicht wollen, ein Ideologe schon. Dass das britische Parlament Boris Johnson als dem Mächtigen, dem Regierungschef, Paroli bietet, findet Sauerbrey gut, dass im deutschen Parlament »Populisten« sitzen, die der mächtigen Kanzlerin bei ihrem politischen Treiben auf die Finger schauen, offensichtlich nicht. Unlogisch.

Die promovierte Historikerin verleiht der Sorge Ausdruck, »dass Gesetze, Verfassungen und institutionelle Regeln den Wesenskern der liberalen Demokratie nur bedingt schützen können«, und leitet daraus den Anspruch einer, wie sie es nennt, bestimmten »politischen Kultur« ab, diese Schutzfunktion mit zu übernehmen: »Politikerinnen und Politiker, Aktivisten und Bürger« – ihre eigene Zunft, die Journalisten, hat sie, hoppla, ganz vergessen – sollten dafür sorgen, dass der Buchstabe des Gesetzes, der das demokratische Miteinander regelt, mit Leben gefüllt werde. In Demokratien könne zwischen dem »Legalen« und dem »Wesentlichen« eine Lücke klaffen, die Populisten für ihre Zwecke nutzen.

Als Beispiel führt Sauerbrey den Brandenburger AfD-Frontmann Andreas Kalbitz an, der mit der Formulierung, dass »Kopftuchgeschwader« deutsche Innenstädte heimsuchten, Hand angelegt habe »an politische Tabus, die zur politischen Kultur in Deutschland gehören«. Denn die Äußerung sei zwar »menschenverachtend«, aber – man kann ein »leider« heraushören – durch die Meinungsfreiheit geschützt. Generell bewege sich »vieles, was Populisten tun, im Rahmen des Rechts, wenn auch außerhalb des Rahmens der politischen Kultur«, so Sauerbrey. Damit ist klar:

Der Begriff der »politischen Kultur« dient lediglich dazu, den eigenen ideologischen Standpunkt als vermeintlichen Konsens, der »wesentlich« ist, zu verabsolutieren.

Was für sie ein Tabubruch ist, ist für andere – namentlich für die Rechtsprechung – eine Banalität. Wer in der Massenmigration die Ursache für »Kopftuchgeschwader« in deutschen Innenstädten sieht, hat das Recht, sich öffentlich darüber zu beklagen. Mit Menschenverachtung hat das so wenig zu tun wie eine »Birne«-Karikatur von Helmut Kohl, eine provokante Überzeichnung, an der die »politische Kultur« in den Achtzigern keinen Anstoß nahm, weder im »Tagesspiegel« noch in der »Tagesschau«. Sarkastische Zuspitzungen unter Zuhilfenahme einer Auslegungskunst, die den politischen Gegner immer nur der schlimmsten Motive verdächtigt, als Menschenverachtung zu interpretieren, ist das Recht, aber sicher nicht die Pflicht des Journalisten. Anna Sauerbrey setzt ein Tabu, das es so nicht gibt, in einer liberalen Demokratie, die das Primat einer bestimmten Ideologie (hier: der Multikulti-Doktrin) nicht kennt, gar nicht geben darf.

Demokratie dagegen ist, wenn Andreas Kalbitz und Anna Sauerbrey öffentlich für ihre Positionen werben können und das Publikum am Ende entscheidet, wessen Argumente es für wesentlicher hält. Und beide werden sich darin fügen müssen, dass das Urteil darüber, was gesetzlich und was ungesetzlich ist, einer unabhängigen Rechtsprechung überlassen bleibt. Sauerbrey nennt das »eine rein legalistische« Sicht auf Demokratie. Ihr ist das zu wenig. Doch die Forderung einer »politischen Kultur«, die erziehen oder zu der erzogen werden soll, muss jeder überzeugte Demokrat entschieden zurückweisen. Denn ein ideologisch begründetes Pseudo-Konsenskonstrukt der Parteienmehrheit (zu anderen Zeiten waren das NSDAP und DNVP), eine »wesentliche« Doktrin, die als Parallel-Judikative einseitig Tabuzonen errichtet und damit Opposition delegitimiert, ein Robespierre’sches Tugendpostulat, dem sich alle, die digitale Guillotine fest im Blick, unterordnen müssen, zerstört den Pluralismus, ohne den Demokratie nicht existieren kann. Dergleichen hat seinen festen Platz in Diktaturen, in der »politische Kultur« und Herrscherinteresse identisch sind.

Der »Tagesspiegel«, in dem der Essay erschien, schreitet unterdessen im Sinne der selbst verschriebenen Medikation fröhlich voran: Der größten Berliner Zeitung konnte qua Selbstversuch nachgewiesen werden, dass sie auf ihren Webseiten im Anschluss an veröffentlichte Artikel zwar mit der Überschrift »Diskutieren Sie mit«, Meinungsvielfalt propagiert, Kommentare, die im Gegensatz zur erwünschten »politischen Kultur« stehen, jedoch oft in der Freischaltungsquarantäne verhungern lässt, und zwar auch dann, wenn darin sehr sachlich argumentiert wird und der Text frei von Beleidigungswörtern ist. Zu groß scheint die Sorge zu sein, so genannten »rechten« und damit – aus Sicht der Redaktion – »falschen« Ansichten zu viel Raum zu geben und beim Kräftemessen der Meinungen ins Hintertreffen zu geraten. In dem Bemühen, sich durch den Wettstreit gleichberechtigter Ansichten der Wahrheit anzunähern, erkennt man die wahren Demokraten. Dass die hierzulande eine aussterbende Art sind, wie gesagt: Man hätte es kommen sehen können.

www.conservo.wordpress.com     26.09.2019
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