(www.conservo.wordpress.com)
VON DR.PHIL.MEHRENS
Soldaten, die beim öffentlichen Gelöbnis vor denen geschützt werden müssen, zu deren Verteidigung sie bereitstehen, historische Denkmäler im Verfallsstadium: Der diesjährige Volkstrauertag und der Buß- und Bettag schreien nach einer erinnerungspolitischen Wende.
Jeder letzte Montag im Mai ist in den USA ein landesweiter Feiertag, der »Memorial Day«. Er dient dem Gedenken an alle für ihr Vaterland gefallenen Soldaten. In Deutschland gibt es im Frühjahr ebenfalls arbeitsfreie Montage; der Volkstrauertag, das deutsche Pendant zum amerikanischen »Memorial Day«, gehört nicht dazu. Er fällt auf den vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, also auf einen Tag, an dem sowieso jeder frei hat.
Das Gedenken an die Menschen, die ihr Leben in zwei Weltkriegen für Volk und Vaterland geopfert haben, ist den Deutschen keinen gesonderten Feiertag wert.
Mit dem Begriff des Kriegshelden tut sich unser Land schwer. Wer im Krieg auf der falschen Seite kämpfte, für das militaristische Zweite Reich der beiden Wilhelms oder für das antisemitische »Dritte Reich« der Nazis, verdient nach Ansicht vieler kein Gedenken und einen Heldenstatus schon gar nicht. Als es am Dienstag vor dem diesjährigen Volkstrauertag auf Veranlassung der neuen Verteidigungsministerin nach längerer Zeit wieder ein großes öffentliches Gelöbnis vor dem Reichstag gab, platzte vielen im pseudo-pazifistischen linken Lager der Kragen. Die Tagesschau sprach von Kritikern, die eine »Zurschaustellung von Militarismus« moniert hätten. Und natürlich war das Gelöbnis aus Angst vor übergriffigen Störern auch nicht wirklich öffentlich. Die Veranstaltung wurde durch Polizeikräfte abgeriegelt.
Ein Land, das denjenigen, die bereit waren und sind, für dieses Land, ihr Vaterland, und seine Werte das Leben zu geben, den dafür schuldigen Respekt verweigert, ist ein armes und vor allem ein schwaches Land.
Auch wenn ich zu wissen glaube, was er damit sagen wollte, bin ich kein Freund von Alexander Gaulands »Vogelschiss«-Formulierung. Das nationalsozialistische Unrechtsregime ist das jüngste seiner Art in der gesamtdeutschen Geschichte, und es hat großes, sehr großes Unheil über Deutschland gebracht. Die Verletzung, die die Nazis dem deutschen Volk zugefügt haben, ist so groß, dass sie nicht schnell abheilen kann. Sie darf nicht verharmlost, an sie muss immer wieder erinnert werden.
Ein Skandal jedoch ist es, wenn diese Verletzung verzweckt, instrumentalisiert, missbraucht wird, um Begriffe wie Volk, Vaterland oder Nation zu diskreditieren und die (positiven) Gefühle, die sie bei vielen auslösen, zu kriminalisieren. Und es ist auch nicht zulässig, so zu tun, als habe es Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf deutschem Boden nur einmal in der Geschichte gegeben und als seien sie ausnahmslos von einem bestimmten Regime verübt worden.
Welcher Deutsche weiß heute noch, was im Mai 1631 bei der so genannten Magdeburger Bluthochzeit geschah, als kaiserliche Truppen unter dem Befehl des Grafen von Tilly ein Blutbad mit 20.000 Toten unter der Zivilbevölkerung anrichteten, das es an Grausamkeit jederzeit mit SS-Exekutionen an der Ostfront aufnehmen kann? Und wenn von diesen Verbrechen Deutscher an Deutschen (begangen zu allem Überfluss im Namen des Christentums) heute kaum noch ein Deutscher etwas weiß, ist das für dieses Land gut oder schlecht?
Warum wird Helmut Kohl als Architekt der deutschen Einheit gewürdigt und Bismarck mit seinen Verdiensten um die deutsche Einigung von 1871 nicht? Dass das kollektive Gedächtnis weiter zurückreicht als bis 1933 und auch weiter als bis 1914, beweisen die Entschädigungsforderungen der südwestafrikanischen Herero gegenüber der Bundesregierung. Warum fristen dann aber die Kaiserdenkmäler vor allem in westdeutschen Ortschaften ein Schattendasein, bleiben ungepflegt, unbeachtet, dem Zahn der Zeit preisgegeben? Warum muss, wie 2015 am Hamburger Dammtor geschehen, ein traditionsreiches Denkmal für die Gefallenen des Infanterie-Regiments No. 76 mit der Aufschrift »Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen« um ein Korrektiv-Denkmal für Deserteure ergänzt werden, das eine völlig andere Kunstrichtung repräsentiert und damit den Gedenkort ästhetisch ruiniert?
»In Mitteldeutschland liegt im Zentrum eines jeden kleineren Ortes ein gepflegtes und in gutem Zustand sich befindendes Ehrenmal respektive ein Ehrenhain zum Gedenken der in beiden Weltkriegen verstorbenen Männer«, berichtet ein spürbar betroffener Familienvater, der sich mit seinen Kindern regelmäßig vom heimischen Schleswig-Holstein in den Ostteil unseres Landes begibt. »Davon sind wir in den älteren Bundesländern sehr weit entfernt.«
Die Vergangenheit, die eigene Geschichte, ist bei vielen Deutschen nur präsent als riesiges schwarzes Loch, das Humanität und Gerechtigkeit mit der Gier eines mittelalterlichen Drachen verschlang, als dunkles Zeitalter der Rückständigkeit, aus dem nichts zu lernen ist außer dem, wie man es auf schnellstem Wege überwindet. Man muss sich aber darüber klar sein: Das ist eine typisch linke Lesart von Geschichte.
Wer sich eine deutsche Erinnerungskultur wünscht, der darf sie nicht begrenzen oder verengen, nur weil sie sich dann zur propagandistischen Unterfütterung der eigenen politischen Agenda so schön benutzen lässt. Jede Fokusverengung dient einem Zweck. Und wer sich nicht vor den Karren einer bestimmten Ideologie spannen lassen will, muss die ganze Wahrheit im Blick behalten und sich gegen deren Verengung und Verzweckung entschieden zur Wehr setzen.
Der Verweis auf die NS-Verbrechen dient den Anhängern linker Weltdeutungsmodelle schon so lange als anti-reaktionäres Propagandamaschinengewehr, wie es keine SS mehr gibt. Die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten, ist dabei groß. Denn wie sehr geschichtsvergessene Eliten mit visionärer Zukunftsorientierung selbstbewusste Nationen zugrunde richten und vitale Volkswirtschaften ruinieren können, ist ja eine der Hauptlehren aus dem Zeitalter des real existierenden Sozialismus. Davon ab- und die Aufmerksamkeit auf das Unrechtsregime der Nazis umzulenken, ist noch heute ein beliebter linker Volkssport. Schon in seinen ersten Jahren ging der SED-Staat mit dem historischen Erbe aus dem – als falsch erkannten – Zeitalter des Imperialismus und Feudalismus alles andere als zimperlich um. Der 2013 verstorbene Autor Erich Loest schrieb darüber in seinem monumentalen Leipzig-Roman »Löwenstadt«.
Die »DDR« war noch gar nicht geboren, da wollten deutsche Sozialisten in politisch-korrekter, anti-bourgeoiser Pflichterfüllung bereits abreißen, was nicht auf den ersten Blick mit dem Marxismus kompatibel war. Ironie am Rande: Die noch vor Gründung der »DDR« vorgesehene Sprengung des über achtzig Meter hohen Kyffhäuserdenkmals zu Ehren von Kaiser Wilhelm I. im thüringischen Kyffhäuserkreis verhinderten ausgerechnet die Russen. Die sowjetische Kommandantur in der damaligen sowjetisch-besetzten Zone (SBZ) weigerte sich, wie der oben bereits zitierte Schleswig-Holsteiner Grenzgänger berichtet, »den Deutschen den zur Sprengung notwendigen Sprengstoff herauszugeben, und gab den Deutschen stattdessen den leidenschaftlichen Rat mit auf den Weg, sich etwas näher mit der über 1.500-jährigen deutschen Geschichte zu beschäftigen und sich nicht nur auf die letzten zwölf schlimmen Jahre jüngerer deutscher Geschichte zu fokussieren.« So jedenfalls sei es den Hinweisschildern zur Geschichte des Denkmals zu entnehmen.
Für den sowjetischen Kommandanten scheint es eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein, dass eine Nation, die sich einen Rest an Stolz bewahrt hat, respektvoll mit ihren Ahnen und ihrem kulturellen Erbe umgeht. Er hat vielleicht gewusst, dass, wer seine eigene Geschichte und Tradition verleugnet, einer entwurzelten Pflanze gleicht: Sie ist abgeschnitten von dem, was sie nährt und am Leben erhält, sie lässt sich mit leichter Hand entfernen, sie wird verdrängt von anderen Pflanzen, die mit ihr im Wettkampf um die Ressourcen stehen, die der Erdboden, auf dem alle wachsen, hergibt, sie verdorrt.
Knapp dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung muss sich Deutschland der Frage stellen, ob es vor der neosozialistischen Regenbogenfahne, dem Banner der Beliebigkeit, den Grüßaugust spielen und, wenn der Wind ein bisschen heftiger weht, wie dürres Gras hinweggeweht werden will, oder ob es als Nation mit eigenem Gepräge, einer eigenen Kultur und Identität, erhalten bleiben möchte.
Mit spezifischem Blick auf den Volkstrauertag bedeutet das: Gedenken als Feigenblatt für einen gesellschaftspolitischen Konformismus, dem das NS-Unrecht als Legitimation dient – oder Gedenken, das auch wirklich die für das Vaterland Gefallenen ehren will. Fiele die Wahl auf Letzteres, käme das einer erinnerungspolitischen Wende gleich.
Die Antwort auf den grundsätzlich zu verzeichnenden Niedergang der Gedenkkultur könnte in einer Renaissance des in den meisten Bundesländern abgeschafften Buß- und Bettages als bundesweiter »Buß-, Bet- und Volkstrauertag« liegen.
Faktisch sind die Volkstrauertage durch die Verknüpfung des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft mit der Warnung vor deren totalitären Urhebern bereits jetzt auch Tage der Buße, in denen die Repräsentanten von Politik und Gesellschaft öffentlich Reue für die Verirrungen der Vergangenheit bekunden. Und regelmäßig schließen die Gebete in den Volkstrauertagsgottesdiensten die aktuellen Opfer von Krieg, Terror und Gewalt mit ein. Die Botschaft des Volkstrauertages: »Lasst uns nicht aufhören, Abbitte zu leisten für das Unrecht, das Deutsche an Deutschen und Angehörigen anderer Nationen begangen haben«, ist mit dem Anliegen des schon vor seiner weitestgehenden Abschaffung zum klerikalen Rätseltag verblassten Buß- und Bettags zu hundert Prozent kompatibel.
Beide Gedenktage würde die Zusammenlegung aufwerten: Der kirchliche Buß- und Bettag wäre durch die Verbindung mit dem Kriegsgedenken mit Inhalt aufgeladen, der bisher regelmäßig auf einen Sonntag fallende Volkstrauertag würde von dem – bundesweit wiederherzustellenden – Feiertagsstatus profitieren und der Buß-, Bet- und Volkstrauertag zu einer Art deutschem Memorial Day werden, einem zugleich kirchlichen und politischen Feiertag.
Ökumenische Gottesdienste, Kranzniederlegungen im Beisein sämtlicher Vertreter der Kommunalgemeinde und sämtlicher ortsansässiger Staatsbediensteter einschließlich der Lehrkräfte öffentlicher Schulen und eine verpflichtende Teilnahme für alle Schulklassen – Wednesday for Weltkriegsgedenken – würde den sozialen Zusammenhalt fördern, einen wichtigen Beitrag im Rahmen der Erziehung zur Demokratie leisten und identitätsstiftend wirken. Wer einen deutschen Pass in der Tasche hat, der ist damit schließlich automatisch Teil der deutschen Erinnerungskultur. Und wenn er davon, etwa als türkischstämmiger Migrant, bisher gar nichts gemerkt hat, dann wird es höchste Zeit!
Ein deutscher »Memorial Day« würde die Gedenkkultur der Bundesrepublik beleben und der arbeitsfreie Mittwoch dafür sorgen, dass dieses Gedenken auch gesamtgesellschaftlich wahrgenommen und angemessen gewürdigt wird. Wer aus Anlass dieses Tages tief in sich hineinhorcht und trotzdem keinerlei Verbindung zu den Opfern der beiden Weltkriege verspürt, der wird sich von dem Gedanken verabschieden müssen, ein Deutscher zu sein.