(www.conservo.wordpress.com)
Von Peter Helmes
Ein Selbstbetrug hat ein Ende: hie EU-Europa, da Großbritannien und Rest-Europa
„Wir sind mit Europa, aber nicht Teil davon.
Wir sind verbunden, aber nicht inbegriffen.“ (Winston Churchill)
Kein Ende der Selbstbeschäftigung Europas zu erwarten
Die Themen des abgelaufenen Jahres wie z.B. der Brexit, die Zukunft der NATO, die schwer berechenbare Politik von US-Präsident Trump sowie die Bürgerproteste in vielen Teilen der Welt werden auch 2020 prägen. Sollte Trump im November wiedergewählt werden, wird er seine Politik, die USA aus Konflikten im Nahen Osten und anderen Regionen herauszuhalten, fortsetzen. Auf den britischen Premier Johnson wartet die Herausforderung, nach dem EU-Austritt das Vereinigte Königreich zusammenzuhalten. In Afrika wird alles gleichbleiben – die Krisen und Kriege werden nicht enden. Und der französische Präsident wird mit der deutschen Kanzlerin weiterhin um die Führung in Europa streiten. Zeit, uns etwas näher mit den Problemen auseinanderzusetzen.
Rückbesinnung auf die nationale Identität
Die Trumps, Bolsonaros, Orbáns usw. bestimmen das politisch-mediale Klima zu einem gehörigen Anteil mit. Die Linken schäumen vor Wut darüber, daß die „Populisten“ wieder stärker auftreten. Hört man ihren Klagen zu, könnte man meinen, lauter kleine Hitlers stünden vor unseren Türen – oder seien bereits mitten unter uns. Das ist billige Polemik und ersetzt das Nachdenken darüber, warum sich viele Bürger wieder an ihre Nation erinnern. Und es sei daran erinnert, daß die sich als Muster-Volksführer gebenden Macron in Frankreich und Merkel in Deutschland alles andere als „demokratisch reine“ Staatenlenker sind; denn sie setzen hemmungslos Gesetze durch, die den Bruch mit der Verfassung in sich bergen.
Die Nationalbewußten sind alleine deshalb noch keine Bedrohung der liberalen Demokratie. Nein, es handelt sich um in ihren Ländern mit zum Teil großer Mehrheit vom Volk gewählte Politiker. Sie schaffen es – zumindest versuchen sie es –, die inzwischen tiefsitzende Trennlinie zwischen einer z.T. eingebildeten ‚Elite‘ und dem ‚Volk‘ aufzuheben und präsentieren sich als diejenigen, die die Bedürfnisse der Menschen verstehen. Aber unsere internationalisierten, Globalismus-besoffenen vaterlandslosen Gutmenschen sind offenbar nicht einmal mehr in der Lage, darüber nachzudenken, warum die Entwicklung so ist.
Das ist 2019 besonders deutlich geworden: US-Präsident Trump hat die Interessen der US-amerikanischen Nation vor andere gestellt, Premier Johnson will in einem gewiß schwierigen politischen Experiment Großbritannien aus der EU führen, und – ein weiteres Beispiel – Brasiliens Präsident Bolsonaro stellt die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Klimawandels hinter die Interessen seines Landes. Der Beispiele sind viele.
Da man nicht alle Probleme der Welt in einem einzigen Artikel erfassen kann, werde ich in den kommenden Wochen und Monaten versuchen, wichtige Bereiche jeweils gesondert zu beschreiben und zu kommentieren. Heute beginne ich mit den Auswirkungen des Brexit:
Brexit – Risiken und Chancen
Premierminister Churchill, der Großbritannien durch den Zweiten Weltkrieg führte, sah die europäische Idee in erster Linie als Auftrag für die Deutschen und die Franzosen. Die Briten sollten sich nicht daran beteiligen. ‚Wir sind mit Europa, aber nicht Teil davon. Wir sind verbunden, aber nicht inbegriffen‘, schrieb Churchill.
Daß die Briten in den sechziger Jahren dennoch mittun wollten, lag daran, daß die Wirtschaft auf der Insel stagnierte, im europäischen Wirtschaftsraum jedoch florierte. Sie versuchten, daran teilzuhaben. Der französische Präsident Charles de Gaulle verhinderte zunächst einen Beitritt. Er wußte wohl, daß die Briten nicht hinter den Zielen der Europäischen Gemeinschaft standen – der Schaffung einer immer engeren politischen Einheit. Daran hat sich nie wirklich etwas geändert.
Dann kam der Brexit. Er ist Ziel (und Ergebnis) einer politischen Strömung mehrheitlich, wenn auch nicht nur, von rechts in Großbritannien. Es gibt aber auch eine solche Strömung von links, die die britische Politik aufgewühlt hat: der Corbynismus. Beide Strömungen haben vermutlich die gleiche Ursache, das Unbehagen an der Globalisierung und einem entfesselten Kapitalismus.
Der Linkspopulismus in Großbritannien hat allerdings durch das Brexit-Referendum und die Wahl in UK schweren Schiffbruch erlitten. Es war nicht nur der Brexit, der Johnson zum Sieg verholfen hat, sondern auch die Abneigung gegen Corbyn und seine Bewegung, die gerade in Nordengland, Wales und in den Midlands weitverbreitet ist. Corbyn steht für eine großstädtische Linke, die den Kontakt zur „working class“ verloren hat.
Der Brexit war das ganz klar beherrschende Thema in diesem Wahlkampf, und Boris Johnson hat eines geschafft: Er hat nicht nur die ohnehin überzeugten Brexit-Befürworter für die Konservativen gewinnen können, sondern er hat auch die Situation ausgenutzt, daß die Brexit-Müdigkeit im Land groß ist. Boris Johnson versprach, das jahrelange Gezerre zu beenden und das Land endlich aus der Europäischen Union zu führen. Das hat offensichtlich die Stimmung in Teilen der Bevölkerung getroffen. Der Slogan „Get Brexit Done“ hatte einen Nerv getroffen.
Die Menschen im Vereinigten Königreich haben 2016 demokratisch entschieden. Es gab damals eine knappe Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union, auch wenn die Kampagne für britische Verhältnisse ungewöhnlich polarisierend geführt wurde und stellenweise auch wirklich mit falschen Fakten gearbeitet hat. Aber seit 2016 führt dieses Land eine leidenschaftliche Debatte über die Umsetzung des Brexit.
Das britische Unterhaus war über mehrere Monate nicht handlungsfähig. Es gab eine Mehrheit bei der Abstimmung 2016 in der Bevölkerung für den Brexit. Das Parlament hat es nicht umgesetzt. Eine Müdigkeit hat sich breitgemacht, zum Teil auch eine Empörung über verantwortliche Politiker in London, und das hat Boris Johnson mit einer zugegebenermaßen geschickten Kampagne für sich ausnutzen können. Im Übrigen hat er auch die eigentliche Brexit-Party von Farage komplett marginalisiert in dieser Wahl.
Nationalbetonte Strömungen
Die Tories (die Conservatives) sind jetzt die Partei der Arbeiterklasse. Boris Johnson muß seine teuren Wahlkampfversprechen erfüllen, sonst verliert er seinen Heldenstatus. Darüber werden bei den Tories Flügelkämpfe ausbrechen wie auch über Brexit-Phase Nummer Zwei, die Handelsgespräche mit der EU. Welcher Boris Johnson wird dabei zum Vorschein kommen? Der liberale Johnson aus den Tagen als Londoner Bürgermeister oder der „Volkstribun“ der letzten Monate? Das wird eine der zentralen Fragen der nächsten Monate und Jahre werden.
Auffallend – und je nach eigenem politischen Standort alarmierend – ist noch etwas anderes: In allen Landesteilen siegten nationalbetonte Strömungen, auch in Schottland und Nordirland.
Eines muß man ganz klar sehen: Die politische Instabilität im Vereinigten Königreich wird immer bedrohlicher. Die schottischen Nationalisten haben eines der besten Ergebnisse aller Zeiten erzielt und fordern ein neues Referendum über ihre Unabhängigkeit. In Nordirland verlieren die probritischen Loyalisten zum ersten Mal bei einer nationalen Wahl ihre Mehrheit, was die Wiedervereinigung Irlands erneut auf die Tagesordnung setzen könnte.
Johnson könnte noch einen hohen Preis für seine Politik bezahlen müssen.
Das aber rüttelt an den Grundfesten des (noch) Vereinigten Königreichs. Das „Vereinigte“ Königreich wackelt.
Es ist eine Zeitenwende. Die letzten Jahre ging es in der britischen Politik drunter und drüber. Parteiloyalitäten galten nicht mehr, die Grabenkämpfe um den Brexit schoben sich über die bekannten Muster von links und rechts. Der Brexit gleicht einem Erdbeben, das vieles in Politik und Gesellschaft erschüttert hat. Das wilde Durcheinander im Unterhaus und die Chaotisierung der britischen Politik könnte jetzt allerdings ein Ende finden.
Bislang hat Johnson stets gesagt, er werde keinen Aufschub beantragen, sollten die Verhandlungen Ende nächsten Jahres auf einen ‚No Deal‘ hinauslaufen. Aber sein deutlicher Wahlsieg verschafft ihm den Spielraum, die Hardliner unter den Brexiteers zu ignorieren. Er kann nun Kurs auf einen viel weicheren Brexit nehmen, als sie ihn erhoffen. Wie dem auch sei, der Brexit bleibt ein heikles Abenteuer
Geschlossen agierende Tories
Schon vor der Wahl hatten alle Abgeordneten der Tories für den Vertrag mit der EU gestimmt. Wer querschoß, wurde aus der Partei geworfen. Boris Johnson hat aus einem in sich völlig zerstrittenen Haufen eine geschlossene Partei geformt. So konnte er die Wähler davon überzeugen, daß die wilden und anarchistischen Tage der britischen Politik ein Ende finden.
Die populistisch agierende Linke in Großbritannien hat allerdings durch den Brexit schweren Schiffbruch erlitten. Es war nicht nur der Brexit, der Johnson zum Sieg verholfen hat, sondern auch die Abneigung gegen Corbyn und seine Bewegung, die gerade in Nordengland, Wales und in den Midlands weitverbreitet ist. Corbyn steht für eine großstädtische Linke, die den Kontakt zur „working class“ verloren hat – worüber, ganz nebenbei gesagt, die SPD mal dringend nachdenken sollte.
Unangenehme Fragen weiterhin offen
Der Erdrutsch-Sieg der Konservativen ist allerdings nur jener Teil dieses Wahlergebnisses, der sofort ins Auge springt. Man muß etwas genauer hinsehen, um zu erkennen, daß dieser Erdrutsch viele unangenehme Fragen einfach zugeschüttet hat. Denn Boris Johnson hat nicht nur hoch gepokert, er hat auch eine Menge versprochen: Get Brexit done – den Brexit endlich hinter sich bringen, das war die eine, zentrale, Botschaft, die er überall hinterlassen hat. Get Brexit done.
Der Brexit ist aber wesentlich komplizierter als diese drei Wörter. Natürlich, Boris Johnson hat jetzt mit seiner absoluten Mehrheit alle politischen Durchsetzungschancen. Aber dieser Brexit-Deal, den er selber mit der EU ausgehandelt hat, ist erst der Anfang.
Es könnte also wieder grundsätzlich werden in diesem neuen Jahr. Das hat der alte und neue Premierminister bisher gerne verschwiegen. Die Enttäuschung darüber, daß das mit „Get Brexit done“ irgendwann vielleicht doch nicht klappt, würde riesengroß sein. Und das wäre dann eine Situation, in der das Land eine gute Opposition brauchen kann – eine Opposition, die in der Lage ist, die Regierung wirklich zu kontrollieren.
Labour ist aus
Aber auch das ist ein Ergebnis dieser Wahl: Die Gegner der Tories haben sich verkalkuliert, und sie sehen nach diesem Wahltag völlig ratlos aus. Niemand weiß, wer die Labour-Partei im neuen Jahr anführen wird. Jeremy Corbyn hat sie zumindest in eine Sackgasse geführt, aus der muß sie erst ´mal wieder herausfinden. Auch die Liberal-Demokraten haben sich verzockt, ausgerechnet die Partei, die sich immer als die Stimme der Vernunft betrachtet. Sie muß erst noch ankommen in dieser Realität eines Großbritannien, das ganz offenbar den Brexit will.
Wir kommen jedenfalls in UK in ein neues Zeitalter des starken Mannes in England und Wales und einer starken Frau in Schottland, Nicola Sturgeon. Die alte Politik ist vorbei. Die Labour-Partei ist aus. Die Liberaldemokraten sind aus. Die Tories sind eine neue Art Volkspartei. Denn Boris Johnson hat die Fähigkeit gehabt, Wähler, die seit Jahrzehnten Labour-Stammwähler waren, Leute der Arbeiterklasse durch und durch, für seine Art von Populismus zu gewinnen. Ist das Trump? Ist das die englische, walisische Art, Trump zu sein? – Ich glaube schon.
Labour – ein gänzlich ungeeignetes Muster für die SPD
Jeremy Corbyn hat versucht, Labour nach links zu rücken. Das hat nicht geklappt. Klarer ausgedrückt: Corbyn möchte aus Großbritannien eine Art „DDR-light“ machen. Er wollte (und will wohl immer noch) zurück in eine sozialistische Vergangenheit gehen, und das wollten die Wähler nicht. Die waren nicht blöd! Die haben den Zahlen von Jeremy Corbyn nicht geglaubt. 30 Jahre nach dem Mauerfall haben sie verstanden, was das bedeutet, in einem sozialistischen, d. h. kommunistischen Land zu leben. Corbyn ist aus, ist fertig, McDonnell (Labours Schattenkanzler) aus und fertig. Alle diese Leute sind am Ende.
Was können wir daraus lernen?
Die SPD, erst recht unter ihrer neuen linken Führung, sollte genau hingucken; denn die Lehren aus UK gelten auch für Deutschland und die EU. Wenn Boris Johnson Glück hat – kein Mensch weiß, ob diese Riesenmehrheit ihn zu einem sanfteren Brexit zwingt oder zu einem viel härteren Brexit und noch näher zu den Vereinigten Staaten bewegt. Das wissen wir noch nicht. Aber wenn er in England und Wales die Leute wieder in Arbeit bringen kann, dann werden in der EU die Alarmglocken läuten. Denn dann wäre das englische Beispiel ansteckend für viele andere EU-Volkswirtschaften. Und es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß das Vereinigte Königreich nach dem Brexit besser dasteht denn als EU-Mitglied.
Zur ganzen politischen Wahrheit gehört ein Eingeständnis: Dieses große Vertrauen in Boris Johnson ist gesetzt worden in einen Mann, der einen Staatsstreich gegen das britische Parlament geführt und damit gewonnen hat – groß gewonnen. Was ist das für ein Beispiel für andere Länder in der Europäischen Union! Es ist möglich, daß Johnson das schafft. Und wenn er das schafft, dann wird ganz Europa diese Lehre auch lernen müssen. Nicht nur Trump wird glücklich sein, sondern es gibt bestimmt hier bei uns und bei etlichen unserer europäischen Nachbarn Menschen, die das sehr begrüßen würden.
Aber halt, so einfach ist die Geschichte nicht! Die Tory-Wählerschaft reicht nun von Börsenmaklern und exzentrischen Lords bis zu desillusionierten Arbeitern in heruntergekommenen Industriestädten. Die einen träumen von einem deregulierten Steuerparadies, einem Singapur an der Themse, die anderen wollen bessere Sozialleistungen und den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Johnsons Austrittskampagne baute auf Beschwörungen, Halbwahrheiten und Übertreibungen auf, die nun den Realitätstest durchlaufen müssen. Ein weiteres Dilemma ist Schottland: Der Preis für den Austritt aus der einen, der europäischen, Union könnte den Untergang der anderen bedeuten.
Johnson weiß, daß er seine breite Mehrheit Wählern zu verdanken hat, die sonst für andere Parteien gestimmt hätten. Sie haben ihn gewählt, weil die Alternative zu schwer verdaulich für sie war. Es wird ein Balance-Akt für Johnson: Wenn er den euro-skeptischen Tory-Forderungen nach einer vollständigen Deregulierung nachgibt, verprellt er die wesentlich zahlreicheren moderaten Wähler. Vermutlich entscheidet er sich für sie.
Das Aushandeln von bilateralen Handelsverträgen dauert gewöhnlich mehrere Jahre. Im Fall Großbritanniens ist der Prozeß noch anspruchsvoller, sollte das Land nicht nur den Güterhandel, sondern auch die viel bedeutenderen Dienstleistungen sowie Themen wie Forschung, Bildung, Sicherheit, Polizei, Verteidigung aufnehmen wollen. Erschwerend kommt die erklärte Absicht Johnsons hinzu, gezielt von EU-Standards abzuweichen, um Wettbewerbsvorteile zu erringen.
Und es gibt noch weitere offene Fragen, schwierige Aufgaben. Es werden im jetzt angelaufenen Jahr Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit der EU folgen. Und auch dann wird es wieder ans Eingemachte gehen:
Angleichung an die EU-Standards
Wird sich Großbritannien an EU-Standards halten, an Regularien, die Brüssel vorgibt, oder sieht das Brexit-Lager das wieder als einen Verlust von Kontrolle und von Souveränität an? Wie eng wird sich Großbritannien an die EU binden? – Das sind Fragen, die Boris Johnson immer noch nicht beantwortet hat und die ganz schnell altbekannte Debatten wieder beleben können.
Allerdings, die EU-Regierungschefs haben bereits klargemacht, daß ein Deal von der britischen Bereitschaft abhängen werde, eine weitgehende Angleichung der Regeln zu akzeptieren. Das werden die Hardline-Brexiteers bei den Tories nicht mögen, die eine viel lockerere Beziehung zur EU wollen. Und es wird auch US-Präsident Trump nicht gefallen, der per Twitter die Hoffnung geäußert hat, daß Johnson einem Deal mit Amerika den Vorzug gibt.
Und wenn für eine Antwort die Zeit bis Ende 2020 nicht reicht, dann steht auch plötzlich wieder ein Frist-Verlängerung auf der Tagesordnung – oder ein drohender No-Deal-Brexit. Und dann sind da noch die Schotten, die lehnen den Brexit nach wie vor ab – und fordern ein weiteres Referendum.
Wie dem auch sei, die Abwicklung des EU-Austritts wird ein langer und komplizierter Prozeß werden. Die Chance, daß er bis Ende 2020 abgeschlossen sein wird, wie es Johnson verspricht, ist eher gering. Das aber werden ihm seine Wähler verzeihen.
In Zeiten, in denen die transatlantischen Beziehungen angespannt sind und Russland immer aggressiver auftritt, kann Europa es sich nicht leisten, eine der wichtigsten Mächte im Westen des Kontinents zu isolieren. Nicht nur der Erfolg seiner Brexit-Strategie gibt Johnson nun die Aussicht auf eine langjährige Regierungszeit. Auch die spektakuläre Niederlage der Labour-Partei trägt dazu bei.
Problem Schottland
Die Schotten, die von Anfang an gegen den Brexit waren, sind für Johnson ein sehr schwieriges Problem, dessen Lösung sich noch nicht einmal ansatzweise abzeichnet. Tatsächlich entwickeln sich England und Schottland politisch auseinander. Während Johnsons Konservative in England einen Erdrutsch-Sieg verbuchen konnten, verloren sie sieben ihrer 13 schottischen Mandate. Dabei hatten sie große Hoffnungen in ihre Kampagne gegen die Unabhängigkeit Schottlands gesetzt. Ein erzwungener Austritt aus der EU dürfte in Schottland erheblichen Unmut auslösen, vor allem, wenn Johnsons Brexit-Plan, wie von vielen erwartet, wirtschaftliche Nachteile mit sich bringen sollte.
Schottland hat die bereits beim EU-Referendum ausgesandte Botschaft bekräftigt – England hat dasselbe getan. Da es sich um entgegengesetzte Botschaften handelt, ist ein ernster Verfassungskonflikt vorgezeichnet. Die Scottish National Party hat eindeutig das Mandat bekommen, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum zu fordern. Die landesweit überwältigende Mehrheit für die Tories macht es Johnson leichter, diese Forderung zurückzuweisen. Aber es wäre nicht klug zu glauben, diese Position sei auf lange Sicht haltbar.
Und ein weiteres Problem sei erwähnt – nur ´mal so zum Nachdenken: Der Brexit könnte der erste Nagel im Sarg der Europäischen Union sein.
Eine erste Gewißheit bestimmt die Politik der nächsten Jahre: Der Brexit wird kommen. Das Vereinigte Königreich mit 60 Millionen Einwohnern verläßt jetzt die EU. In diesem Sinne „unsichere Kantonisten“ sind die Visegrad-Vier: Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei. Ähnliche Neigungen bestehen in Italien mit 60 Millionen Einwohnern, wo man ebenfalls die Nase voll hat vom Brüsseler Komödiantenstadl. Zusammen ist das ein Markt mit 200 Millionen Menschen – also gewiß keine Größe, die man vernachlässigen könnte.
Die damit immer mehr entstehende Unsicherheit wird eher noch größer. Die Selbstbeschäftigung Europas und der Verlust Großbritanniens als verfaßter Teil EU-Europas schmälern das Gewicht der EU-Gemeinschaft auf der Weltbühne. Eine alte Misere: Die EU tritt noch immer – und weiterhin – nach außen ohne klare Stimme auf; ihr fehlt nach wie vor eine gemeinsame geopolitische Strategie. Schlimmer noch, der europäische Kontinent ist demographisch, technologisch, militärisch und damit auch machtpolitisch auf der Abstiegsspur – aus eigener Schuld.
US-Abwendung von Europa, doch fehlendes Engagement Deutschlands
Gerade weil unter Trump verstärkt Zweifel darüber aufkommen, ob die USA noch ein verläßlicher Bündnispartner Europas im Rahmen der NATO sind, wäre eine gemeinsame Außen- und Sicherheitsstrategie das Gebot der Stunde. Aber wenn sich etliche europäische Staaten – darunter auch Deutschland – um den von ihnen zugesagten finanziellen Beitrag in der NATO herumdrücken, darf man sich nicht wundern, daß nicht nur Frankreichs Macron dem Bündnis „Hirntot“ diagnostiziert.
Deutschland hätte seine retardierende „Verteidigungspolitik“ längst revidieren müssen. Bei vielen unserer Nachbarstaaten ist das Bewußtsein für außenpolitische Erscheinungen tiefer als bei uns. Russlands Vorgehen in der Ukraine 2014 hat bereits eine Trendwende bei den Militärausgaben der Nato-Staaten bewirkt, nicht aber bei uns – sieht man einmal von dem jüngsten begrüßenswerten Vorstoß der deutschen Verteidigungsministerin ab. Seit der Annexion der Krim kehrt die Angst vor einer gewaltsamen Grenzverschiebung auch in Europa ins Denken zurück. Chinas wachsende Stärke wird nicht nur in Südostasien, sondern eben auch im Westen zunehmend als Bedrohung empfunden. Das alles zwingt geradezu zu einer Anpassung der Außen- und Sicherheitspolitik.
Das bedeutet eben keine „Militarisierung der deutschen Außenpolitik“, wie sie Kramp-Karrenbauer nach Vorlage ihrer Pläne gerne von den pazifistisch-radikalen Linken unserer Republik unterstellt wird – etwa die Idee eines Nationalen Sicherheitsrates, die ausdrücklich beinhaltet, daß Diplomatie, Bundeswehr, Entwicklungs- und Wirtschaftshilfe an einem Strang ziehen sollten. Kein Frieden ohne eine politische und wirtschaftliche Stabilisierung eines Landes, ist auch Kramp-Karrenbauers Credo. Aber was in der deutschen Debatte gerne verdrängt wird: Keine Stabilisierung ohne vorangehende Herstellung von Sicherheit – Syrien ist dafür ein Beispiel.
Gerade weil sich die USA zurückziehen, muß Deutschland auch militärisch wesentlich mehr tun! In der EU erntet Deutschland seit Jahren Kopfschütteln, ja Verärgerung dafür, daß die mittelfristige Finanzplanung Jahr für Jahr immer wieder ein Absinken der Militärausgaben in der Zukunft vorsieht – der deutsche Traum von der Rückkehr in eine scheinbar heile Welt kurz nach Ende des Kalten Krieges soll noch etwas länger weitergeträumt werden.
Die deutsche Politik drückt sich traditionell um eine Diskussion über geopolitische Themen, weil damit oft unangenehme Entscheidungen verbunden sind – finanziell wie moralisch. Ein Beispiel ist die von Frankreich und asiatischen Partnern erbetene militärische Präsenz der EU-Staaten in Asien. Dabei zeigt die Heftigkeit der Reaktionen, daß die ansonsten von mir nicht gerade hochverehrte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer einen Nerv getroffen hat:
„Wir Deutsche sind oft besser darin, hohe Ansprüche – auch moralisch hohe Ansprüche – zu formulieren, als selbst konkrete Maßnahmen vorzuschlagen und umzusetzen“,
kritisierte sie etwa. Im Klartext lautet der Vorwurf: Deutschland will sich die Hände nicht schmutzig machen. Man empört sich über den amerikanischen „Verrat“ an den syrischen Kurden. Und gleichzeitig beharrt man auf der eigenen Zuschauerrolle. Daß Kramp-Karrenbauer diesen Widerspruch thematisiert hat, ist ihre größte Provokation, aber eine begrüßenswerte.
Und sie ist begründet: Die Abwendung von Europa und die schwindende Lust auf die Rolle eines Weltpolizisten kann man den USA nicht verdenken. Washington sieht sich seit einigen Jahren schon – und mit zunehmender Intensität – im Wettbewerb mit China um die internationale Vormachtstellung. Der Focus US-amerikanischer Außenpolitik liegt jetzt verstärkt im asiatisch-pazifischen Raum.
—–
Einschub: Nun steht Europa womöglich vor einer besonderen Nagelprobe, vielleicht einer Zerreißprobe: Beim Abfassen dieses Artikels war noch nicht absehbar, wie die betroffenen Akteure auf die Tötung des führenden iranischen Generals Soleimani reagieren werden. Die Mehrheit der Experten glaubt zwar, daß ein offener Krieg zwischen dem Iran und den USA recht unwahrscheinlich ist, aber der Konflikt wird nicht an Europa vorbeigehen und könnte sich zu einer besonderen „Herausforderung für die EU“ entwickeln. Europa versuchte Trump von einer Rettung des Atomabkommens mit dem Iran zu überzeugen. Insbesondere Polen bemühte sich durch die Organisation einer Nahost-Konferenz in Warschau vor einem Jahr, hier die Rolle des Vermittlers zu spielen. Wie wird Brüssel nun auf die amerikanisch-iranische Auseinandersetzung reagieren? Werden die Europäer überhaupt eine einstimmige Position erreichen? Wenn die EU auch diesmal scheitert, dürften Emmanuel Macrons Träume vom Aufbau eines politischen Europas endgültig begraben sein.
Es hilft nichts: Das orientierungslose Europa wird endlich Partei ergreifen müssen! Und es sollte kein Zweifel daran bestehen, daß dann der amerikanische Verbündete gewählt werden wird. Sollte sich der Iran mit einem Angriff auf amerikanische Ziele rächen, dann ist Europa verpflichtet, dem Nato-Bündnispartner Hilfe anzubieten. Ein Angriff auf einen ist, gemäß Artikel 5, ein Angriff auf alle (NATO-Konstitution).
Klar ist jetzt schon, daß Merkel mit ihrem typischen Herumeiern diesmal nicht davonkommen wird. Entscheidungen sind gefragt – und die werden nicht zuletzt von den USA eingefordert werden. Sympathie her oder hin. Die NATO ist kein Streichelzoo.
(Einschub Ende)
—–
Zurück zur Weltbühne:
Der dritte Mitspieler auf der Weltmachtbühne, Russland, macht es den USA auch nicht gerade leichter. Der russische Präsident Putin hat die Schwäche und Uneinigkeit des Westens längst erkannt – und nutzt sie. Putins Triebfeder ist die Rückkehr zu einem starken Russland, zu einer Weltmacht im Range der untergegangenen Sowjetunion, auf Augenhöhe mit den USA und China.
Währenddessen hat sich China als neue Weltmacht längst etabliert. Die Strategie der „neuen Seidenstraße“ („One Belt, One Road“) verschafft China durch gigantische Infrastrukturprojekte und gezielte Förderung von Drittländern, die über große natürliche Ressourcen verfügen, weltweiten Einfluß und Abhängigkeiten.
Militärisch gehört China schon seit längerem zu den Giganten und präsentiert den zweitgrößten Militärhaushalt nach den USA. China wird so zur dominierenden Macht in Südostasien, was die chinesische Führung nicht ohne Häme z. B. durch verstärkte Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer herausstellt.
Fazit: Europa – nicht nur die EU – ist umringt von internationalen und nationalen Konfliktherden. Hinzu kommt die permanente Bedrohung durch den radikalen Islam. Greifen wir ein Bonmot des Briten Churchill auf: „Ein Pessimist sieht in jeder Gelegenheit ein Problem, ein Optimist in jedem Problem eine Chance.“
Eine treffliche Bemerkung! Aber sie setzt voraus, daß die Akteure zumindest sehen, hinsehen, und nicht wegsehen, wo Konflikte ent- oder bestehen. Wegducken ist bequem, bietet aber keine Chance für Problemlösungen. Nötig ist ein selbstbewußtes Handeln – ohne Überforderungsängste. Europa ist gefordert!