Manfred und Marek – Aspekte der schwierigen Nachbarschaft von Deutschen und Polen

(www.conservo.wordpress.com)

Von Helmut Roewer *)

Teil 1: Wo das herkommt

Für den richtig Westdeutschen (zum Beispiel aus dem Rheinland oder den umliegenden Dörfern) mag es unverständlich sein, worüber ich hier schreibe, aber wer von Ostdeutschen abstammt – also richtig aus dem Osten, wo heute Polen und Russland liegen –, dem geht zuweilen durch den Kopf, wie es eigentlich steht mit unserm Verhältnis zu Polen – und zwar bevor man auf Auschwitz zu sprechen kommt. Bei dem Jenenser Satiriker Bernd Zeller las ich hierzu vor wenigen Tagen, am 27. Januar 2020:

Es ist durchaus in Ordnung, wenn jemand wegen Auschwitz in die Politik geht.
Wer sagt, dass er wegen Auschwitz in die Politik gegangen ist, dem soll man auch sonst nichts glauben.

Es geht im Folgenden – das sei vorweggesagt – nicht um Revision des Status quo, sondern um die Einschätzung: Wie halte ich es mit meinem Nachbarn – und dieser mit mir. Ich werde ein paar Bemerkungen zu historischen Fakten und zur Gegenwart machen und zu Zwecklügen diesseits und jenseits der Oder-Neiße-Grenze.

Historisches

Man tut sicher nichts falsches, das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen als eine mehrhundertjährige Geschichte von Streit und Gewalt zu bezeichnen. Ob das mit den Auseinandersetzungen zwischen slawischen und germanischen Stämmen begann, mag dahinstehen. Man sollte diese (fast graue) Vorzeit zumindest im Auge behalten, da aus der Zuordnung als slawisch oder germanisch später die wunderlichsten Ableitungen durch deutsche und polnische Nationalisten zusammenphantasiert worden sind. In etwa so: Es bestehe ein polnischer Anspruch auf slawisches Siedlungsgebiet und vice versa. Es handele sich um germanisches, also urdeutsches Land und ähnliches.

Die Berufung auf solche scheinbar vorhandenen (Rechts)-Titel hat Anlass zu drastischen Auseinandersetzungen gegeben. Die letzten davon endeten in den 1940-er Jahren unter Fremdaufsicht. Die beiden europäischen großen Verlierer des Zweiten Weltkriegs – die Deutschen und die Polen – hatten sich unter das Diktat der Siegermächte zu beugen. Beide Kriegsverlierer verloren auch ihre staatliche Souveränität, die einen expressis verbis, die anderen zumindest faktisch. In beiden Ländern machten sich die Leute ans Werk, mit den aufgezwungenen Verhältnissen zurande zu kommen. Doch jetzt kommt der Unterschied: die einen akzeptierten ihr Schicksal, die anderen nicht.

Der Grund für diese unterschiedliche Eigenwahrnehmung wurzelt in der gezielt unterschiedlich ausgestalteten Kriegsschuldpropaganda der Siegermächte. Diese sah so aus, dass den Deutschen die Alleinschuld am Ausbruch und den Schandtaten des Zweiten Weltkriegs zugewiesen wurde. Bei dieser Konstruktion ging es anfangs vor allem um eines: Die späteren Siegermächte – vor allem Großbritannien und die USA – verspürten bereits in der Auftaktphase des Zweiten Weltkriegs die Notwendigkeit, den eigenen Völkern einen Schurken präsentieren zu können, gegen den die Kriegführung unabweisbar nötig sei.

Die anglo-amerikanische Geschichtsschreibung hat bis zum heutigen Tage an dieser Schurken-Darstellung festgehalten. Sie ist anglo-amerikanischer Staatsmythos geworden: Wir, die Guten, im Kampf gegen das ewig Böse. Dieser Mythos wurde bewusst installiert, um von der eigenen Kriegs-Mitverursachung abzulenken. Hierfür erwies es sich als praktisch, nach Abschluss der Kampfhandlungen den einmal eingeschlagenen Weg der Schurken-Zuweisung beizubehalten. Die einschlägigen Kampagnen wurden durch gewaltige Geldzahlungen – bevorzugt über die Rockefeller Stiftung und den Council on Foreign Relations – finanziell abgesichert.

Für das Modell der deutschen Alleinschuld war es aus Gründen der Logik notwendig, dem deutschen Schurken ein polnisches Erst-Opfer gegenüberzustellen. Auch hierbei ist es bis zum heutigen Tage geblieben. Die Polen zehren noch heute von dieser Opferrolle. Davon wird zu sprechen sein.

Alle ursprünglich Beteiligten an diesen Manövern wussten, dass die einseitige Schurken-Fixierung der Deutschen nur etwa die Hälfte der Wahrheit beschrieb. Ihnen kam bei ihrem Tun entgegen, dass die Deutschen sich wirklich wie Schurken aufführten. Was sie an Untaten begingen, erscheint aus unserer heutigen Warte unentschuldbar und wird hier auch nicht entschuldigt. Was allerdings nach meiner höchst persönlichen Auffassung der Ergänzung bedarf, ist die vorsätzlich verzerrte Geschichte von Ursache und Wirkung der entscheidenden Ereignisse.

Polen betritt die europäische Bühne

Nach unvollkommenen deutschen Versuchen während des laufenden Ersten Weltkriegs (1914-18) betrat der polnische Staat zum Jahreswechsel 1918/19 als Mündel der west-alliierten Siegermächte die europäische politische Arena. Bis dahin war Polen, das Land und seine Bevölkerung, zwischen Deutschland, dem zaristischen Russland und der habsburgischen Donaumonarchie aufgeteilt. Im 19. Jahrhundert bis 1918 war diese Aufteilung komplett. Preußen-Deutschland und Russland sowie Österreich-Ungarn hatten gemeinsame Landesgrenzen.

Die Installierung eines polnischen Nationalstaats 1918/19 war nur möglich, weil die polnischen nationalen Bestrebungen durch die Siegermacht Frankreich forciert unterstützt wurden, um dem besiegten Deutschland einen dauerhaften Krisenherd an seiner Ostflanke einzupflanzen. Diese französische Rechnung ging auf. Die folgenden Jahre bis 1934 waren die Zeit massiver Auseinandersetzungen zwischen Polen und seinen Anrainerstaaten, einer davon war Deutschland.

Die polnische Aggressivität stützte sich auf einen innen- und einen außenpolitischen Pfeiler: eine sich selbst installierende nationalistische Militärdiktatur („das Obristen-Regime“) und die militärische und finanzielle Unterstützung durch Frankreich. Dessen Außenpolitik setzte anderthalb Jahrzehnte lang auf deutsche Nachbarstaaten, nämlich Polen und die Tschechoslowakei, von denen man zu recht annahm, dass sie wegen der auf ihrem Territorium wohnenden, Millionen betragenden deutschen Bevölkerungsminderheiten dem Deutschen Reich ununterbrochen massive Probleme bereiten würden.

Kein Nazi-Kram, sondern seinerzeit allgemeine Meinung: Schul-Landkarte, wie sie im Deutschen Reich seit 1926 Verwendung fand.

Nachdem die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Polen um das Industrierevier in Schlesien 1920 nach französischem Eingreifen ein Ende gefunden hatten, beschränkte sich Polen bei seinen Westausdehnungsambitionen auf Versuche, Großbritannien und Frankreich zu Präventiv-Kriegen gegen das entwaffnete Deutsche Reich anzustiften. Der letzte dieser Versuche fand im März 1933 statt. Der Einmarsch sollte nach den Planungen des polnischen Diktators am Montag, dem 6. März 1933, dem Tag nach den Reichstagswahlen beginnen, wenn es nach seinen Vorstellungen im Reich keine handlungsfähige Regierung gab und folglich keinen organisierten Widerstand.

Der Einmarsch fand nicht statt. Das ist bekannt. Weniger hingegen, dass es die Engländer waren, die abgewinkt hatten. Sie hatten zwei gewichtige Gründe: Innenpolitisch war in Großbritannien der Kampf gegen die Folgen der Weltwirtschaftskrise das Thema Nummer eins, und außenpolitisch widersprach der polnische Wunsch britischen Interessen, keine dominante Großmacht auf dem Kontinent aufkommen zu lassen. Denn genau das stand zu befürchten, wenn man die polnische Propaganda von einem Polen von Meer zu Meer ernst nahm. Mit den beiden polnischen Meeren waren die Ostsee und das Schwarze Meer gemeint. Man sollte das im Hinterkopf behalten, wenn man in heutigen polnischen Verlautbarungen vom Intermarium-Konzept liest.

Großpolen – Leipzig, Berlin und Lübeck inklusive: Polnisches Plakat aus den Dreißiger Jahren. Die Originalbeschriftung lautet: In Polen lebe der Geist Boleslaws Chrobrys. Polen, wir sind hier nicht erst seit gestern. Wir reichen weit bis nach Westen. Der geringste Staub polnischer Muttererde kehrt zum Mutterland zurück.

Hitler betritt die europäische Bühne

Heutige Mainstream Geschichtsinterpreten sind einig – wenn sie denn das Präventivkriegskonzept des Jahres 1933 überhaupt erwähnen –, dass dessen Umsetzung die Welt vor den Untaten des NS-Regimes bewahrt hätte. Mag sein. Doch wenn man schon spekuliert, ist die Frage sicher erlaubt, was das polnische Regime – es war diktatorisch, nationalistisch, militant und strikt antisemitisch – mit seiner Herrschaft in Mitteleuropa angestellt hätte. Gut, man weiß es nicht.

Die eigentliche Überraschung auf den polnischen Nichtangriff verursachte die deutsche Seite. Es waren die ersten außenpolitisch bedeutsamen Schritte des neuen deutschen Reichskanzlers. Er schloss mit Polen einen Nichtangriffspakt. Das war nach dem damaligen Stand der Dinge in der Tat eine Sensation, denn bis dahin waren sich während der gesamten Zeit der Weimarer Republik (1918-33) alle politischen Kräfte einig gewesen, dass es mit Polen solange keinen friedlichen Ausgleich geben werde, wie die Abtrennung von Westpreußen und Oberschlesien (deren Annexion, wie man sagte) nicht revidiert sei.

Mit diesem Grundsatz deutscher Außenpolitik brach Hitler radikal. Er entwickelte die Vorstellung, dass Polen ein willkommener Pufferstaat gegen das bolschewistische, nach Weltherrschaft strebende Regime in der Sowjetunion sei. Auch dies war ein Bruch mit den Aktionen der deutschen Diplomatie, die über ein Jahrzehnt lang, die sowjetische Karte als einen Trumpf im Ärmel beim Spiel gegen Polen betrachtet hatte.

Das war jetzt passé. Zu ihrer Enttäuschung musste die Bevölkerung Danzigs 1933/34 bemerken, dass aus Hitlers Aktionen eines mit Sicherheit nicht resultieren würde, nämlich die baldige Wiedereingliederung dieser deutschen Großstadt ins Reich. Danzig war nämlich 1919 nach dem Siegerwillen aus dem deutschen Staatsverband herausgelöst und unter Mandat des Völkerbunds gestellt worden, um den Polen einen funktionierenden Freihafen an der Ostsee zu verschaffen. Diese blödsinnige Konstruktion sollte schließlich den Zweiten Weltkrieg auslösen.

Mit der deutschen Aufrüstung seit 1935 wurde der deutsche Diktator wagehalsiger. Sein außenpolitisches Ziel Nummer eines, die Folgen des Friedensdiktats von Versailles zu beseitigen, rückte in den Griffbereich der praktischen Politik: Erneut Seestreitkräfte nach einem entsprechenden Flottenabkommen mit Großbritannien, Rückholung der Saar nach einer Volksabstimmung, tatsächlicher Anschluss Österreichs, der dortzulande bereits Ende 1918 vom Parlament beschlossen, aber von den Alliierten Siegern verboten worden war, Angliederung des Sudetenlandes mit britisch-französisch-italienischem Segen, erfolgreiche Rückforderung des Memellandes von Litauen. Doch dann kam Sand ins Getriebe des vermeintlichen Selbstläufers.

Das fatale Jahr 1939

Das Jahr 1939 wurde für das NS-Regime zum außenpolitischen Wendepunkt. Der Stolperstein trug den Namen Polen. Gleich nach der Einverleibung des Sudetenlandes im Herbst 1938 machte Hitler den Polen ein erstes Angebot zur Regelung der Korridorfrage. Hinter dem Stichwort verbarg sich das Problem, dass das Reich durch die Siegermächte in zwei nicht zusammenhängende Teile zerschnitten worden war, um Polen einen Landzugang zur Ostsee zu gewähren. So war Westpreußen polnisch geworden. Es lag als fremdes Territorium zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reichsgebiet. Die Polen taten in den 20 Jahren (1919-39), die dieser Zustand dauerte, alles in ihrer Macht stehende, um den Verkehr zwischen den beiden Reichsteilen zu behindern.

Deutschland bot nun an, den Korridor mit einer exterritorialen Straße und einer ebensolchen Eisenbahntrasse zu queren, die Polen hierfür finanziell zu entschädigen und die Abspaltung von Westpreußen an Polen völkerrechtlich anzuerkennen. Polen zeigte sich spröde. Daraufhin erhöhte Hitler im März 1939 das deutsche Angebot. Es betraf das bis dato auf tschechischem Territorium gelegene Gebiet von Teschen einschließlich der fast ausschließlich von Deutschen bewohnten Stadt Oderberg. Zu diesem Angebot konnte es nur deshalb kommen, weil Anfang März 1939 die Fliehkräfte des tschechoslowakischen Vielvölkerstaats zur Zersprengung des Staatsverbandes geführt hatten. Ermutigt durch das Beispiel der Sudetendeutschen beschlossen auch die Slowaken den Austritt aus der seit 20 Jahren bestehenden Republik und erklärten ihre Selbständigkeit.

An dieser Stelle griff das Deutsche Reich ein. Es anerkannte die slowakische Sezession und nötigte die Resttschechei, wie man das Gebiet damals nannte, sich unter deutsches Protektorat zu stellen. Wer dabei genau was tat, ist äußerst umstritten, jedoch hier nicht das Thema. Vielmehr erlaubte Hitler den Polen, die eigens zu diesem Zweck ihre Streitkräfte mobil gemacht hatten, den gewaltsamen Zugriff auf Teschen.

Hitler sah das Teschen-Geschenk als eine Art Vorauszahlung für das Korridorgeschäft an. Damit sollte er sich gleich zweifach täuschen. (1) Die Polen nahmen Teschen, gaben aber nichts zurück. (2) Mit der Besetzung von Prag verließ Hitler das bis dato von den ehemaligen Siegermächten tolerierte Tableau einer Korrektur der Folgen von Versailles. Damit öffnete er zugleich ein Fenster ungeahnter Größe – und zwar für antideutsche Propaganda. Deutschland auf dem Weg zur Weltherrschaft bevölkerte fortan die Schlagzeilen anglo-amerikanischer Kriegspropaganda.

US-Präsident Roosevelt betritt durch die Tapetentür die europäische Bühne

Man kann die deutschen und die polnischen Ereignisse des Jahres 1939 nicht richtig verstehen, wenn nicht die Aktionen des US-Präsidenten Franklin Roosevelt mit ins Bild einfließen. Mittlerweile gibt es eine überbordende Vielzahl von Mosaiksteinchen, die ein recht genaues Bild entstehen lassen.

Zu diesem Bild gehört, dass der US-Präsident im Jahre 1933 zur Macht kam, fast gleichzeitig mit dem späteren Erzfeind Adolf H. Die Laufbahn beider Politiker weist erstaunliche Parallelen auf. Beide wurden durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise an die Spitze ihrer Länder katapultiert. In beiden Ländern herrschte millionenfache Arbeitslosigkeit. Beide versprachen, damit aufzuräumen. Die Konzepte beider waren ähnlich, eine durch Planwirtschaftsvorgaben gelenkte Privatwirtschaft.

In Deutschland funktionierte dieses Modell erstaunlich gut, nicht so in den USA. Dort stiegen gleich nach der Wiederwahl von Roosevelt im Herbst 1937 die Arbeitslosenzahlen wieder bedrohlich an. Nunmehr schaltete der US-Präsident auf ein Patentrezept um, dessen Funktion er als junger aufstrebender Politiker im Ersten Weltkrieg kennengelernt hatte: Beteilige dich an einem fernen Krieg und die US-Wirtschaft boomt. An diese Erkenntnis hielt er sich. Weltschurken gab es genug: Deutschland, Italien, Japan – in dieser Reihe der Abscheubekundungen. Gegen sie würde man Krieg unterstützen. Roosevelt Kriegsambitionen waren in salbungsvollen Floskeln versteckt: Kranke müsse man in Quarantäne stecken.

Von dem Geschenk, das Hitler mit der Besetzung von Prag dem US-Präsidenten und seiner Propaganda vom Weltbösewicht überreichte, war schon die Rede. Sie füllte die Schlagzeilen. Doch unbemerkt vom Publikum lief eine ganz andere Geschichte ab. Das war eine US-Kriegsanstiftungs-Geheimdiplomatie, die sich auf Roosevelts Lieblingsfeind Deutschland konzentrierte. Die einzelnen Schritte schälten sich nur für die notwendig Einzuweihenden in Großbritannien und Polen heraus. Ihr Zwischenziel auf dem Weg zum Krieg: Es muss jegliche Einigung über den Korridor zwischen Deutschland und Polen unterbunden werden.

Um aus Briten und Polen deutsche Kriegsgegner zu machen, nutzen die US-Diplomaten unterschiedliche Instrumentarien. Das seit Jahren permanent klamme Großbritannien wurde mit dem Schuldenknüppel erpresst. Bei den ohnehin kriegsfrohen Polen genügten vage Versprechungen, vor allem dass sie an der Spitze einer breiten antideutschen Koalition fechten würden. Letzteres glaubten Polens Obristen nur zu gerne, zumal die Briten im März 1939 etwas scheinbar unermesslich Wertvolles schenkten: Eine Bestandsgarantie für den polnischen Staat.

Heute weiß man darüber zwei merkwürdige Dinge: (1) Der Britische Premier Chamberlain hätte diese Bestandsgarantie ohne nötigende Aufforderung aus Washington nicht abgegeben. (2) In einer geheimen Zusatzabrede zwischen Großbritannien und Polen war klargestellt, dass sich die Garantie nur auf einen Krieg mit Deutschland, also nicht auf die Hauptgefahr aus der Sowjetunion bezog.

Die polnischen Obristen machen Druck

Die Folgen der britischen Garantie ließen nicht auf sich warten. Fortan verweigerte sich Polens Außenminister Beck jeglichem Gespräch mit dem Deutschen Reich über die Korridor-Frage. Zeitgleich wurde die anti-deutsche Propaganda hochgefahren, die seit 1934 ein eher bescheidenes Dasein geführt hatte. Darauf folgte die Tat. Sie bestand aus schikanösen Maßnahmen gegen die Angehörigen der deutschen Minderheit, Schulschließungen, Gewerbeverboten, geduldeten körperlichen Übergriffen des Mobs und schließlich einem gezielten provokativen Eingreifen in Danzig.

Der Leser erinnert sich: Die deutsche Großstadt Danzig war von den alliierten Siegermächten aus dem Reichsverband herausgelöst und völkerrechtlich dem Völkerbund unterstellt worden, an der Spitze ein Völkerbundkommissar. Dem Staat Polen waren weitgehende Rechte in Zoll-, Post und Hafenfragen eingeräumt worden. Nunmehr ging Polen dazu über, die Souveränität Danzigs vollends in Frage zu stellen und die Stadt als polnisch zu bezeichnen. Auf den Protest der Stadtorgane reagierten die Polen mit der Einstellung der Zollabfertigung, so dass eines der Danziger Hauptexport-Produkte, nämlich Margarine, in der Sommerhitze des Jahres 1939 für jedermann bemerkbar zu vergammeln begann. Als das Deutsche Reich eine erste Demarche an Polen absetzte, reagierte die Obristen-Clique mit dem Hinweis, dass die Danziger Verhältnisse eine innerpolnische Angelegenheit seien, in die von außen einzugreifen, Krieg mit Polen bedeute.

Diese nachgerade selbstmörderischen Handlungen und Äußerungen speisten sich aus zwei Quellen: (1) Die polnische Führung glaubte, eigentlich wider besseren Spionagewissens, dass die deutsche Wehrmacht nur ein Pappkamerad sei. Sie befeuerte die Kriegslust ihrer Truppen durch den Hinweis, dass die tapfere polnische Kavallerie ihre Pferde drei Tage nach Kriegsbeginn in der Havel würde tränken können. (2) Den aktuellen Anstoß für die polnischen Aktivitäten hatte eine britische Geheimbotschaft ausgelöst. Diese besagte, das Kabinett in London habe unter Ausschluss der Öffentlichkeit beschlossen, die britische Bestands-Garantie auf Danzig auszudehnen. Das war eine Lüge, denn der britische Premier hatte genau das nicht getan. Doch diejenigen, die die Lüge fabrizierten und transportierten, waren Kriegsfreunde aus dem Foreign Office und dem Auslandsdienst MI6. Ihnen lag daran, dass die Polen die Provokationen hin zu einem Casus Belli beschleunigten. Flankiert wurde dieses Tun durch das Auftreten des US-Botschafters in Warschau, der die polnische Führung beschwor, keinen Inch zurückzuweichen.

Die Vorsehung greift ein

Hitler berief sich bei seinen oft wenig rational erscheinenden Entscheidungen auf die Vorsehung. Das war eine Art übernatürliche Macht, von der er behauptete, dass sie ihn lenke. In diesem Fall gab ihm die Vorsehung ein, Polen mit Krieg zu überziehen.

Heutige NS-Bekämpfer sind sich einig, dass der Angriffsbefehl gegen Polen ein Kriegsverbrechen gewesen sei, auf das der Diktator seit Jahren hingearbeitet habe. Man kann das vertreten, aber es stimmt mit den Fakten nicht so richtig überein. (1) Die Kriegsvorbereitungen gegen Polen lassen sich ziemlich genau datieren und zwar anhand der Weisung Fall Weiß. Das war eine Kriegsvorbereitungsweisung für den Fall, dass Polen sich nach dem britisch-polnischen Bündnis feindselig zeigen sollte. Die einschlägige Weisung erging im April 1939. (2) Es kommt bei der Beurteilung der Ereignisse des Jahres 1939 weniger darauf an, wie wir heutzutage einen derartigen Konflikt lösen würden, sondern man sollte zumindest erwähnen, was damals üblich war. Üblich war, dass eine Nation zu den Waffen griff, wenn ihre Landsleute durch einen anderen Staat misshandelt und die geltenden Regeln des staatlichen Miteinanders vorsätzlich und provokativ verletzt wurden.

Mit dieser Feststellung wird nichts entschuldigt. Einen Angriff nur unter der Fragestellung zu bewerten, ob es hierfür nach den geltenden völkerrechtlichen Vorstellungen eine Rechtfertigung gab, hat nichts damit zu tun, ob dieser Angriff angemessen und unter dem Gesichtspunkt des Wohls des eigenen Volkes klug war. Genau das ist – nun gut, wir kennen das Ergebnis – zu bezweifeln. Hitlers Angriffsbefehl löste einen Krieg ins Blaue aus. Einen Krieg, den Hitler in dem dann tatsächlich eintretenden Umfang nicht wollte. Er glaubte nicht daran, dass Frankreich und schon gar nicht Großbritannien Deutschland den Krieg erklären würden. Über diese Ignoranz sind wir durch zahlreiche Zeugen informiert.

Hitlers Entschluss basierte auf einer sträflichen Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. So hatte er keine Ahnung von der Zerrüttung des polnisch-französischen Verhältnisses im Sommer 1939. Er hatte keine Ahnung davon, dass man nicht die Briten, sondern die Franzosen im September 1939 zum Jagen tragen musste, und er wusste nichts darüber, welchen amerikanischen Drucks es bedurft hatte, um den britischen Premier Chamberlain zum Kriegskurs gegen das Deutsche Reich zu veranlassen.

Zählt man diese Faktoren zusammen, kommt für den deutschen Führer ein mindestens so verheerendes Bild heraus, wie das, was Mainstream so gerne von ihm zeichnet. Er, der sich eine Art Unfehlbarkeit zubilligte, beherrschte das nicht, was sein bewunderter Amtsvorgänger Otto von Bismarck aus dem Handgelenk konnte. Hitler beherrschte die Kunst des richtigen Augenblicks nicht. Er ließ sich durch polnische Aktionen zu einem förmlichen Krieg provozieren und tat damit genau das, was seine Feinde von ihm erwarteten, nämlich angreifen. Ein kaltschnäuziges Abwarten unter verbaler Bloßstellung der polnischen Unrechtsakte hätte seine Gegner vor unlösbare Probleme gestellt und die Polen, um das Gesicht nicht zu verlieren, vor die Notwendigkeit des vielfach angedrohten Angriffs gegen das Deutsche Reich – oder die Rückkehr an den Verhandlungstisch. Dazu kam es bekanntlich nicht, weil der angeblich geniale Führer ihnen zuvorkam.

(Teil 2 folgt: Der Zweite Weltkrieg und die Folgen)

©Helmut Roewer, Februar 2020
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*) Dr. Helmut Roewer wurde nach dem Abitur Panzeroffizier, zuletzt Oberleutnant. Sodann Studium der Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen Rechtsanwalt und Promotion zum Dr.iur. über ein rechtsgeschichtliches Thema. Später Beamter im Sicherheitsbereich des Bundesinnenministeriums in Bonn und Berlin, zuletzt Ministerialrat. Frühjahr 1994 bis Herbst 2000 Präsident einer Verfassungsschutzbehörde. Nach der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand freiberuflicher Schriftsteller und Autor bei conservo. Er lebt und arbeitet in Weimar und Italien.
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