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Von Peter Helmes
Der geneigte und langjährige Leser meiner Artikel weiß, daß ich eher zu den Frohsinnsnaturen gehöre denn zu den Paniktreibern. Und auch Trübsinn ist gewiß nicht meine Leidenschaft. Trotzdem, ein Träumer war ich nie, sondern habe immer darauf geachtet, die Bodenhaftung zu behalten. Deshalb hier ein paar kritische Bemerkungen zur Situation in Deutschland und der Welt sowie zu der darob entstandenen ungezügelten Diskussion.
Leider schaut es so aus, als ob uns die Diskussion um die Herausforderungen, vor die uns der Coronavirus stellt, ein großes Stück Optimismus wegnimmt. Hiobsbotschaften, wohin man schaut! Hinzu kommt noch etwas, das offensichtlich zu der Menschen gepflegtesten Eigenschaften gehört: die Erfindung, Entwicklung oder Übernahme z. T. abenteuerlicher Verschwörungstheorien. Der „gesunde Menschenverstand“ liegt in Quarantäne, darf nicht raus und hat Kontaktverbot zu Menschen mit Geist und Hirn.
Was mich sehr bedrückt: Welche Rolle maßt sich der Staat in diesem Falle an?
Wer hätte sich je träumen lassen, daß wir in einem Staat leben, in dem Bürger kriminalisiert werden, nur weil sie sich frei im öffentlichen Raum aufhalten!Im Kampf gegen Corona haben wir Methoden eingeführt, die an einen brutalen Polizeistaat erinnern.
Leider war es das verantwortungslose Verhalten einiger weniger Personen, das zu diesen strengen Verboten geführt hat. Es mag Gründe geben, sie vorübergehend zu akzeptieren, aber wir dürfen uns auch nicht an der Diskussion darüber hindern lassen, ob sich die Staatsmacht während der Krise unnötige Befugnisse angeeignet hat. Wird aus unserem Staat mit einer zuverlässigen Polizei ein Polizeistaat? Und wie ist es mit dieser App, die die Bewegungen der Leute registriert, um im Fall eines Kontakts mit einem Infizierten zu warnen? All dies muß sofort wieder verschwinden, wenn das Land die akute und chaotische Phase hinter sich gelassen hat.
Ich gestehe, daß ich die Vorgänge für höchst besorgniserregend halte. Aber muß man sie schwärzer malen als schwarz? Ist, wer Hoffnung äußert, unrealistisch – und nur der, der an den Untergang der Welt glaubt, ein Realist? Wenn das so sein sollte, sitze ich im falschen Film.
Aber eines gehört gewiß zur Wahrheit: Widersprüche, Zickzackkurs, Anordnungen und Gegenbefehle bestimmten lange die Reaktionen der Regierungen. Man konnte und muß den Diskurs auch unserer Regierung kritisieren; denn sie vermittelte nicht selten den Eindruck einer permanenten Überforderung. Mal sind Masken unnötig, dann unerläßlich. Erst soll die Lockerung der Einschränkungen regional geschehen, dann national, dann wieder nur auf Gemeindeebene. Die Liste all dieser Ankündigungen löste zuweilen Schwindel aus. Die Gesundheit muß die Oberhand über die Wirtschaft gewinnen, sagt man. Aber eine zerstörte Wirtschaft bedroht auch die Gesundheit. Die Regierung muß zwischen zwei Risiken entscheiden, die Wissenschaftler und Ökonomen nicht mit Gewißheit einschätzen können.
Die Pandemie befindet sich noch immer in einer frühen Phase, und deshalb ist es zu früh zu sagen, welches Land das Virus am erfolgreichsten bekämpft. Die Abwägungen fallen weiterhin schwer, und die wissenschaftliche Grundlage bleibt dünn. Das Fazit wird also wohl erst in ein paar Jahren erfolgen können.
Im Folgenden habe ich – unsystematisch und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – notiert, was mir an globalen und nationalen Problemen auffällt. So viel Realismus muß sein, daß man die Augen nicht verschließt – eine Übung, zu der uns die Herrschenden nur allzu gerne verführen wollen. Doch die Probleme sind da, z. B.:
* Erst allmählich anlaufende europäische Zusammenarbeit – nicht zu verwechseln mit der Aufgabe oder Leugnung der nationalen Identität Je länger der Shutdown andauert, desto weniger Unternehmen werden die künstliche Beatmung durch den Staat überleben. Es wird jetzt sehr darauf ankommen, einen Mittelweg zwischen notwendigen Gesundheitsmaßnahmen und notwendiger Wiederbelebung der Wirtschaft zu finden. Es wird auch darauf ankommen, Geld nicht mehr ungeprüft ins Gelände zu schütten. Und dazu gehört ein Weiteres:
* Schuldenvergemeinschaften ist keine Lösung
Der Ankauf von Anleihen verschuldeter Staaten durch die Europäische Zentralbank macht süchtiger als harte Drogen. Niemand glaubt mehr, daß von der EZB aufgekaufte Titel – wie ursprünglich einmal geplant – wieder in den Markt zurückgeführt werden. Schließlich kaufte die EZB bereits Anleihen für 20 Milliarden Euro im Monat, als die Wirtschaft noch boomte und selbst in China noch niemand von Corona gehört hatte. Die EZB handelt, weil die EU-Politiker keine Lösung finden. Sie streiten über Notfall- oder Wiederaufbaufonds, Coronafonds oder Eurobonds. Die nördlichen Länder sind der Meinung, daß der Süden nicht sparsam genug war. Und die südlichen Länder haben das Gefühl, daß der Norden zu wenig Einfühlungsvermögen zeigt. „Coronabonds“ klingt verlockend, führt aber noch mehr in die Krise.
Denn unterdessen haben Lobbygruppen die Chance erkannt, den Staat unter dem Deckmantel der Krise ungebührlich anzuzapfen. Wir werden Steuersenkung und Deregulierung brauchen, um die Unternehmen wieder in Schwung zu bringen. Aber wir werden sehr darauf achten müssen, daß es dann überhaupt noch genügend von ihnen gibt, die die Kraft haben, diesen Wiederaufbau in Angriff zu nehmen. Zu Tode gefürchtet ist nämlich auch gestorben.
* Kultur als Seelenwärmer
Ein (vermeintlicher) Nebeneffekt wird leider viel zu wenig wahrgenommen, obwohl er die Seele einer jeden Nation berührt: Schauspieler, Musiker und viele andere Künstler stehen vor einem Sommer der erzwungenen Untätigkeit. Das ist schrecklich für sie, aber auch für uns alle. Denn Kultur heißt Gemeinschaft. Sie wärmt unsere Seelen. Ohne Kultur verlieren wir einen Teil von uns selbst. Wer die Kultur aufgibt, gibt seine Natur auf.
* Süd gegen Nord?
Zum Beispiel Frankreich: Das Coronavirus holt Macron auf den Boden der Tatsachen zurück. Während des EU-Videogipfels trat der französische Präsident im Grunde als Vertreter des südeuropäischen Lagers auf. Seit langem fordert er die Schaffung von Eurobonds. Er zieht an einem Strang mit Italien und Spanien. Das markiert eine ungewöhnliche Änderung in der Haltung Frankreichs.
Seit der Gründung der EU galt das Land eigentlich immer als Partner Deutschlands – zu Beginn in einer stärkeren, später in einer gleichberechtigen, zuletzt in einer etwas schwächeren Position. Angesichts der größten Rezession seit den 1930er Jahren befindet sich der französische Präsident nun aber in der Defensive. Bis vor kurzem wollte er noch die Welt retten. Jetzt versucht er nur noch zu verhindern, nicht dauerhaft zum ‚Süden Europas‘ gezählt zu werden, auf den Frankreich bislang stets herabgeschaut hatte. (siehe auch: https://www.conservo.blog/2020/05/04/brexit-corona-und-die-normalitaet-in-europa/)
* Eine schrittweise Lockerung der Beschränkungen in Europa
In Europa zeichnet sich nach der dramatischen Anfangszeit vor allem in Italien, Spanien und Frankreich nun doch so etwas wie ein gemeinsamer Weg ab. Die erste Phase des nur nationalen Handelns ist vorbei. In den Hauptstädten und in der EU-Kommission stellt man sich bereits auf Phase zwei ein: Das Coronavirus wird uns noch lange begleiten. Wir müssen daher damit beginnen, den Neustart des Wirtschaftslebens anzugehen und gleichzeitig die Schutzmaßnahmen EU-weit zu koordinieren und abzustimmen.
Wir sollten allmählich sorgfältig über eine Exit-Strategie nachdenken. Studien zeigen, daß Isolationsmaßnahmen – wenn sie zu lange dauern – viel negativere Folgen für die Gesundheit der Bürger haben können als die zu bekämpfende Epidemie selbst. Außerdem verhindern zu strenge Ausgangssperren, daß in der Bevölkerung die notwendige Immunität geschaffen wird. Solange es noch keinen Impfstoff gibt, kann im Grunde nur eine Herdenimmunität die Pandemie stoppen.
Viele Menschen sind bereits in einer wirtschaftlichen Notlage, nicht jeder kann schließlich von zu Hause arbeiten oder seine Dienste online anbieten. Niemand bestreitet, daß es gilt, im Kampf gegen den unsichtbaren Feind Menschenleben zu retten. Man muß aber auch daran denken, wie wir nach der Pandemie wieder arbeiten können. Dazu reicht es nicht, einfach abzuwarten und sich darauf zu verlassen, daß „Brüssel“ schon irgendwie helfen wird. Nach der Virus-Krise kommt unvermeidlich die wirtschaftliche. Und wir entscheiden jetzt darüber, wie schlimm sie wird.
* Die steigenden Corona-Infektionszahlen in ärmeren, bevölkerungsreichen Ländern
Während man in den Industrieländern bereits über eine Lockerung der Beschränkungen diskutiert, steht für einen Großteil der Welt der Albtraum noch bevor:
Die Warnung der Vereinten Nationen, daß die Preise für Grundnahrungsmittel steigen werden, ist sehr ernst zu nehmen. Denn in der Coronakrise liegt die Produktion weltweit weitgehend still, die Lieferketten sind unterbrochen. Viele Länder haben bereits Exportverbote für knappe Güter wie Reis, Eier, Getreide und Kartoffeln verhängt. Insofern ist die Warnung der UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft durchaus realistisch.
Das Corona-Virus trifft die Entwicklungsländer sehr hart und die Situation ist ernst. Viele ärmere Länder verfügen nicht über die Mittel, etwas dagegen zu tun. Und auf noch mehr Hilfe aus den reichen Nationen können sie kaum noch zählen. Eine Ausbreitung des Corona-Virus in Ländern mit Bürgerkriegen und überfüllten Flüchtlingslagern, in Mega-Cities wie Mumbai oder Rio de Janeiro wäre nicht nur für die Betroffenen verheerend, sondern auch für den Rest der Welt. Die Versorgung mit Rohstoffen würde unterbrochen, schwache Wirtschaften würden zusammenbrechen, Autokraten gestärkt. Außerdem könnte das Virus auf diesem Weg in den Norden zurückkehren.
Indien z.B. fehlt es vielleicht nicht am Willen, die Krise in den Griff zu bekommen, aber ganz sicher an den Ressourcen. Die Reaktion der Regierung, eine Kombination aus maximalen Einschränkungen für die Bevölkerung und minimalem Handeln – zu wenige Tests, Mangel an medizinischer Ausrüstung und ein viel zu kleines Hilfspaket – belegt dies. Da große Teile der Wirtschaft stillstehen, einschließlich der Landwirtschaft und grundlegender Dienstleistungen, muß die Regierung jetzt vor allem dafür sorgen, daß aus der Gesundheitskrise keine Wirtschaftskrise wird. In den Städten droht den Armen und den Tagelöhnern bereits der Hungertod.
Oder z.B. Mexiko: Auch in diesem Land ist man sich wohl durchaus bewußt, daß das Schlimmste noch bevorsteht. Die Zahl der Infizierten wird in die Höhe schnellen, die Krankenhäuser werden sich füllen, und dann wird es an Beatmungsgeräten und Intensivbetten fehlen. Zu den guten Nachrichten gehört immerhin, daß Privatkliniken Betten zur Verfügung stellen werden, außerdem kann Medizinbedarf aus China importiert werden. Aber die Einschränkungen werden sicher nicht im Mai oder Juni aufgehoben werden können.
Zusätzlich 130 Millionen Menschen sind weltweit als Folge der Corona-Krise vom Hungertod bedroht. Die Nahrungsmittelhilfe in Bürgerkriegsländern wie dem Jemen, Syrien und Afghanistan kommt zum Stillstand, wenn Geberländer Hilfen kürzen und Handelsbarrieren errichtet werden. Aber auch anderswo ist die Versorgung mit Lebensmitteln durch protektionistische Maßnahmen und die rapide sinkende Kaufkraft als Folge der Abriegelungen bedroht. Die für Ernährung zuständigen Organisationen der UNO warnen davor, daß eine Hungerpandemie mehr Todesopfer fordern könnte als Covid-19.
Besorgniserregend ist, daß es Staaten, die zur Zeit einen Kurssturz der eigenen Währung erleben, immer schwerer fällt, Staatsanleihen zurückzuzahlen. Der Internationale Währungsfonds hat bereits entschieden, seinen Katastrophenhilfsfonds zu erweitern. Aber das reicht nicht aus.
* Fast ins Nichts fallende Ölpreise
Als ob es der Probleme nicht genug gäbe, kommen die seit Wochen dramatisch fallenden Ölpreise hinzu. Selbst Wirtschaftswissenschaftler geben sich verwundert und fragen sich, was da eigentlich vor sich geht.
Wie es aussieht, wird der Ölpreis sogar noch weiter fallen. Das dürfte zur Pleite vieler Ölkonzerne führen, aber auch zu einer Wirtschaftskrise in den Förderländern. Als der Ölpreis in der Vergangenheit jahrelang stieg, führte das zu Problemen in den Abnehmerländern. Jetzt durchleben die Ölförderländer diesen Stress.
Dabei ist die Erklärung ganz einfach. Die weltweite Corona-Pandemie hat die Wirtschaft zum Stillstand gebracht und zu einem derartigen Nachfragerückgang bei Erdöl geführt, daß ihm selbst mit einer drastischen Senkung der Fördermenge nicht beizukommen ist. Erfahrungen aus der Vergangenheit haben gezeigt, daß ein Preisverfall beim Rohöl stets mit einem Konjunktureinbruch einherging. Der negative Ölpreis ist ein nicht zu übersehendes Menetekel für die gesamte Weltwirtschaft, und es bedarf radikaler konzertierter Gegenmaßnahmen der Staatengemeinschaft. Wir brauchen nun einen globalen Schulterschluß.
Zum Schluß eine zur Zeit noch hypothetische Frage:
Wer könnte die Welt aus der Corona-Pandemie führen? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihre Prüfung nicht bestanden, EU-Kommissionschefin von der Leyen auch nicht, sie war dazu gezwungen, sich für Brüssels späte Reaktion in der Corona-Krise zu entschuldigen. In Deutschland wartet man darauf, wie es nach Angela Merkel mit dem politischen System weitergeht. Im reichen Paris rufen Demonstranten dem Präsidenten zu, daß sie hungern. usw., usw.
Woher sollen also die Impulse kommen, um unsere westliche Zivilisation aus der Pandemie und der Rezession zu führen? Die Persönlichkeiten und Lösungen müssen aus dem transatlantischen Raum kommen. Er ist ein Markt für gemeinsame Ideen, Normen und Werte. Im 20. Jahrhundert kamen die USA uns viele Male zu Hilfe. Heute ist Europa wohlhabend und nicht zerstört. Es braucht trotzdem einen Partner. Washington bleibt der Hauptkandidat für eine gemeinsame Führung.
Aber – dieses „Nachsetzen“ sei erlaubt: Ist das noch das Amerika, das man als die stärkste und reichste Nation kennt? Zweifellos verfügen die USA über erstklassige Virologen und Epidemiologen. Ihre Krankenhäuser und medizinischen Ausrüstungen sind die modernsten. Aber Präsident Trump ist weitgehend beratungsresistent, und seine Entscheidungen kommen häufig unreflektiert. Wenn er keinen Erfolg hat, ist´s für Korrekturen zu spät.