(www.conservo.wordpress.com)
von altmod *)
Anscheinend unbeachtet von den Mainstreammedien und der Politik, wahrscheinlich eher bewusst außen vor gelassen, hat sich binnen weniger Tage eine neue „Partei“ etabliert: Bodo Schiffmanns „Widerstand 2020“.
Ich setze den Begriff Partei absichtlich in Anführungszeichen.
„Widerstand 2020“ erfüllt zwar die abgeleitete Definition von einer politischen Partei, ist aber eine bis jetzt ausschließlich im Internet präsente Vereinigung von inzwischen angeblich über 80.000**) Mitgliedern.
Das Ganze erinnert eher an eine „Graswurzelbewegung“, worunter man eine Basisbewegung versteht – eine politische oder gesellschaftliche Initiative, die aus der Basis der Bevölkerung entsteht und den Begriff der Basisdemokratie abdeckt.
Mit angeblich über 80.000 Mitgliedern vereinigt diese Bewegung mehr Anhänger hinter sich, als die Grünen (75.300), die FDP (63.900), die LInke (62.000) und die AfD (33.500). Und das innerhalb von etwa zwei Wochen seit Veröffentlichung der Parteisatzung am 21. April 2020.
Wie geht das?
Bei „Widerstand 2020“ kann man sich online anmelden, und man ist zunächst auch nicht zu einem Mitgliedsbeitrag verpflichtet. Es wäre durchaus von Interesse, wie viele zahlende Mitglieder sich hinter den 80.000**) verbergen.
Programm von Widerstand 2020?
Ein Programm gibt es noch nicht. Es heißt auf der Webseite:
„Unsere Partei funktioniert interaktiv. Das bedeutet, du kannst von überall aus mitarbeiten. Wenn es an die Ausarbeitung unseres Parteiprogramms geht, werden wir hier die jeweils aktuell zu bearbeitende Position mit dir zusammen ausarbeiten. Unser erster Programmpunkt ist: Arbeit & Soziales.“
Der Bundesparteitag oder die Mitgliederversammlung findet zunächst denn auch im „Virtuellen Raum“ statt.
Diese Partei verfügt natürlich über einen „Gründungsmythos“: „Widerstand 2020 entstand als eine Idee und Vision. Aus dem Willen heraus, sich nicht mehr machtlos zu fühlen.“ heißt es auf der Homepage. Sie entstand als Initiative gegen die Einschränkungen unserer Grund- und Freiheitsrechte durch die Regierungen unter der Corona-Krise.
Sie ist bisher eine Ein-Thema-Partei, wenngleich sich ihr „Anchorman“ schon auch zu anderen Themen äußert, auf die wir noch kommen müssen.
Erinnern wir uns, die Piratenpartei – heute völlig bedeutungslos – war ursprünglich auch eine Ein-Thema-Partei und Ihr „Gründungsmythos“ war die Debatte um das Urheberrecht im Internet.
„Widerstand 2020“ tritt mit den Gesichtern der drei Gründungsmitglieder auf: Viktoria Hamm, eine Psychologin, Vorsitzende und Schatzmeisterin, Dr. Bodo Schiffmann als stellvertender Vorsitzender und offensichtlicher „Sprecher“ der Partei und Ralf Ludwig, Rechtsanwalt und „Politischer Geschäftsführer“.
Über Programmatisches erfährt man kaum etwas. Ein Schlagwort lautet „Freiheit steht über allem“ und „Moral vor Politik“. Man verspricht: „Wir leben Werte wie Einfühlungsvermögen, Ehrlichkeit und Respekt. Und diese möchten wir auch beim Widerstand 2020 erleben. Wir werden bei jeder Entscheidung die praktischen, sachdienlichen, die moralischen und psychologischen Aspekte berücksichtigen.“
Und man will sich für „Die Bedürfnisse der Bevölkerung“ einsetzen, denn „Am GELD streiten sich die Menschen. Politik ist der Kampf der Lobbyisten um die Fleischtöpfe in Berlin. Egal, an wen man denkt, man ist immer Lobbyist, einmal für die Krankenpflegerin, ein anderes Mal für die Pharmabranche. Die Verteilung des Geldes wird so lange von Lobbyisten gelenkt, welche die Parteien provisionieren, bis wir Bürger direkt und unmittelbar über die Budgetierung entscheiden.“
Moral vor Politik
Peter Sloterdijk drückt es in etwa so aus: Moral im eigentlichen Sinne ist kompromisslos und deshalb Zündstoff im politischen Kampf. Sie hat eine Affinität zum absoluten Denken, fühlt sich der (absoluten) Wahrheit verpflichtet, ist aber selbst auf dieser Ebene partikular, einseitige Parteinahme und subjektiv (Meinung, Vorurteil). Sie ist als Partikulares mit Entgegensetzungen konfrontiert und verträgt deshalb nichts Partikulares oder Ambivalentes. Moral ist ungeduldig.
Aber Politik und Demokratie bedeutet das Bohren dicker Bretter (Max Weber) und erfordert Geduld.
Arnold Gehlen warnt: „Moralische Überforderung durch Fernstenliebe schafft eine Kaste von privilegierten Moralpriestern mit gesellschaftlicher Macht, aber ohne praktische Verantwortung.“
Wie komme ich in diesem Zusammenhang auf „Fernstenliebe“ zu sprechen?
Bodo Schiffmann hat bereits mehrere (politische) Statements abgegeben, die man sich genau anhören sollte.
In diesem Beitrag äußert er sich (ab Minute 36:05) auf eine Zuschauerfrage hin zur Migrationsproblematik. Schiffmann, bekennender Christ, spricht von „Menschen, die hilfesuchend nach Europa kommen, und bittet die Zuschauer, sich vorzustellen, Jesus Christus wäre zu uns geflohen und hätte einen Asylantrag gestellt, weil ihn die Römer verfolgt haben. Er malt das Bild von Jesus und seinen Jüngern in einem Flüchtlingslager auf Lesbos und stellt die rhetorische Frage, was die Zuschauer mit Jesus gemacht hätten: „Ertrinken lassen, auf einer „Pappschale“?
Nahezu grotesk dann sein Statement (ab Minute 37,39):
„Wenn wir alle Einwohner von Afrika in ein Bundesland von uns setzen würden, hätten wir anschließend noch Platz.“
Soll man das ernst nehmen? Es ist aber gesagt und fügt sich ein in die von Schiffmann vorgetragene (pseudo)christliche Selbstvergewisserung.
Reicht uns nicht der Wetteifer quantitativer Moralisierung, wie wir ihn seit Jahren erleben? Deutschland ist ein moralisch aufgeplustertes Land. Mit gewaltigen moralischen Ansprüchen und gegenseitigen Vorwürfen werden öffentliche Debatten bestritten.
Ist es nicht so, dass die den Mainstream beherrschenden Linken und Links-Liberalen sich von der klassischen Politik weitgehend verabschiedet haben und fast ausschließlich noch Identitätspolitik betreiben, um von einem pseudowissenschaftlich, ethnisch oder geschlechtlich gesicherten, per definitionem durch keinerlei Urteil von außen angreifbaren Standpunkt aus, den Rest der Gesellschaft moralisch unter Druck zu setzen?
Moral vor Politik! Eine These der neuen Partei. Und dazu wird noch ein utopistisches, linkes Versprechen geliefert, dass die „Bürger direkt und unmittelbar über die Budgetierung entscheiden“ sollen.
Online, übers Internet, per Knopfdruck.
Eintagsfliege?
Was sich bisher abspielt, hat die Merkmale eher einer Graswurzelbewegung, die ja auch nicht ohne moralischen Anspruch und basisdemokratische Schlagworte auskommen.
Es ist durchaus sympathisch, dass sich in diesen Zeiten eine breite Bewegung zum Widerstand formiert und sich von den eingefahrenen und verkrusteten Verhaltens- und Organisationsweisen der etablierten Parteien abgrenzen will, und verspricht, es besser zu machen. Das ist doch etwas, was viele von uns sich erhoffen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich diese neue Art einer Parteigründung und -organisation überhaupt unter den rechtlichen Gegebenheiten (Parteiengesetz) einrichten kann, wie die Resonanz der übermächtigen Öffentlich-Rechtlichen und der Mainstreampresse sein wird.
Die bisher in Deutschland erfolgreichen Neugründungen von Parteien – eigentlich nur Grüne und AfD – erfolgten unter der Regie von Persönlichkeiten und Leuten, die vorher schon das „Geschäft“ in etablierten Parteien wenn nicht erlernt, so doch kennengelernt hatten (wie bei der AfD) oder wie bei den Grünen mit linker (aus der SPD) bzw. kommunistischer Kaderschulung und Erfahrung.
Die Piratenpartei ist mit ihren basisdemokratischen und „cyber-politischen“ Ansätzen und dadurch bedingter programmatischer und ideologischer Verzettelung gescheitert.
Es wäre für mich ein Wunder, wenn es dem „Widerstand 2020“ anders ergehen sollte.
Den Anspruch, in die Parlamente und gleich auch in den Bundestag einzuziehen, hat man jetzt schon, man will mit Ab- bzw. Anwerbung von unzufriedenen Mandatsträgern aus den etablierten Parteien augenblicklich schon den Fuß in die Parlamente bekommen. So hat es Herr Schiffmann in seinen politischen Blogbeiträgen und Interviews unverhohlen aufgetischt. Der Anspruch ist frech aber gleichwohl naiv.
Ich halte die Sache für eine Eintagsfliege, wird gewiss etwas länger als eine solche überleben, aber mit dem Ende des „Shutdowns“ hierzulande wird der Widerstand 2020 wohl seinen „Lockdown“ erleben.
„Mene mene tekel u-parsin“ – “Gewogen und zu leicht befunden“ wird es dann wohl heißen, trotz des jetzigen Spektakels im Cyberspace oder auf der virtuellen politischen Bühne. Oder vielleicht gerade deswegen.
Ich kann mich aber auch irren.
—–
**) NACHTRAG (6.5.20, 11:37 Uhr):
Ich musste auf meinem Blog einen Nachtrag zu diesem Beitrag einfügen, nachdem ich „falsche“ Zahlen über die Mitgliedschaft bei den Grünen angegeben hatte. Ich verließ mich da auf „Statista“, einem eigentlich renommierten Institut für statistische Evaluation. Und jetzt muss ich mit tiefstem Bedauern die Zahlen nach oben korrigieren. Nach einer neuesten Meldung von deren Bundesgeschäftsführung haben die Grünen – Stand 27.4.2020 – 101.561 Mitglieder. Was den Mitgliederstand der Bewegung „Widerstand 2020“ anbetrifft, habe man laut eigenen Angaben ebenfalls die 100.000 überschritten.
Wieder einmal zeigt es sich: Trau nur einer Statistik, die du selbst gefälscht hast!
Meine Zahlenangaben haben einen Kommentator – offensichtlich einen aus den grünen Reihen – so gekränkt, dass er mit Beleidigungen auf meine Replik reagierte und ich von meinem „Hausrecht“ Gebrauch machte.
Andere Kommentatoren schelten mich wegen der Zitate zu Jesus und „Afrika“ zusammen damit, dass ich Anliegen und Person der neuen Lichtgestalt nicht ausreichend würdige.
Semenchkare hat recht: „Ein quietschbunter Oneworld-Haufen, ohne richtiges Parteiprogramm, genau richtig für Generation Smartfon“. Der Eindruck verstärkt sich, wenn man sich die Kommentare und „Tweets“ auf der Homepage dieser „Partei“ ansieht.