Vertriebenen-Schicksale: Von Hopgarten nach Sibirien verschleppt

(www.conservo.wordpress.com)

Von Anna Zavacká (geborene Pleštinská, Jahrgang 1926) *)

Es ist Frühjahr 1945: Der Name der 1926 geborenen Anna Pleštinská steht auf der „Deportationsliste“ der Bewohner von Chmeľnica/Hopgarten. Sie erzählt hier, wie sie sich an den Zweiten Weltkrieg, die Verschleppung nach Sibirien und die Rückkehr in ihren Heimatort erinnert.

Zuerst fand der Krieg weit weg statt und berührte uns in Hopgarten nur insofern, dass einige Hopgärter Männer zur Wehrmacht beziehungsweise zur SS eingezogen wurden. Einige Burschen, die noch nicht zu den Pflichtjahrgängen gehörten, gingen freiwillig oder weil ihnen gutes Geld geboten wurde. Als 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion losging, kam  der Krieg näher. In den folgenden Monaten zogen viele Soldaten an Hopgarten vorbei nach Osten. Immer wieder kamen welche ins Dorf und feierten. Damit hatte es ein Ende, als die Wehrmachtsstelle Hopgärter Männer zwang, in die Armee einzutreten. Sie hatten ein Büro in der Parallelstraße zur Hauptstraße um die Nummer 120. Wir versteckten uns im Nachbarort Podsadok; denn die Wehrmacht zwang nicht nur Männer in ihre Reihen, sondern evakuierte auch die Hopgärter, um uns vor den Gefahren der heranrückenden Front zu schützen.

Das Problem war das Vieh, das wir im Haus zu versorgen hatten. Wir waren gezwungen, regelmäßig nach ihm zu schauen. Bei einer solchen Gelegenheit schnappten die Wehrmachtssoldaten meinen Vater. Er wurde mit anderen in der Schule interniert und dann über Poprad/Deutschendorf nach Wien gebracht. Als wir merkten, dass sie ihn gefasst hatten, versteckten wir uns nicht mehr und gingen wieder in unser Haus zurück. Den für Hopgarten zuständigen Hauptfeldwebel der Wehrmacht kannte ich. Wir hatten für die Wehrmacht im Büro sogar gearbeitet und bei der Verteilung des Proviants geholfen. Er hatte sein Pferd, eine Kleinschecke, bei unserem Nachbarn Kaňa untergestellt.

Wir versuchten alles, um ihn zu überreden, Vater zurückzuholen und zu entlassen. Er sagte sogar zu, allerdings mit dem Hinweis, dass er helfen könne, falls die in die Wehrmacht gezwungene Gruppe der Männer Poprad noch nicht verlassen habe. Das war aber schon geschehen. Vater konnte vor der Eingliederung in die Wehrmacht nicht bewahrt werden. Er kam noch in Österreich zum Einsatz. Zum Kriegsende geriet er in amerikanische Gefangenschaft. Insgesamt hatte er großes Glück; denn die Amerikaner lieferten ihn nicht an die Russen aus. Außerdem hatte er es einigermaßen gut, weil er in der Gefangenschaft eine ihm zuträgliche Arbeit hatte. Er wurde häufig als Maurer eingesetzt. Sehr erfreulich war auch, dass die Gefangenschaft bald zu Ende ging. Er kehrte zu Silvester 1945 heim nach Hopgarten. Bis dahin hatte sich bei uns wirklich Dramatisches abgespielt, und wir Hopgärter Jugendlichen waren inzwischen sogar aus Sibirien zurückgekehrt.

Die Verschleppung nach Sibirien

Nach der Verschleppung Vaters durch die Wehrmacht war die Stimmung an Weihnachten 1944 entsprechend schlecht. Sie war auch deshalb gedrückt, weil die Nachrichten, die jenseits der Propaganda vom östlichen Kriegsschauplatz durchsickerten, alles andere als vielversprechend waren. Im Dorf ging die Angst um.

Am 21. Januar 1945 kamen die ersten Russen ins Dorf. Sie suchten deutsche Soldaten. Die hatten das Dorf längst verlassen. Schlimm waren diejenigen der Sowjetrussen, die circa eine Woche später im Tross nachrückten. Es kam zu verschiedenen Ausschreitungen gegen die Dorfbewohner. Sie raubten Kühe aus den Ställen und trieben sie fort oder schlachteten sie gleich bei Fressorgien. Wir Mädchen mussten uns hüten, ihnen in die Hände zu fallen. Die Soldaten erhielten eine „Liste der Schuldigen“, die in die Sowjetunion deportiert werden sollten.

Dass das einem Todesurteil gleichkommen konnte, war schon damals jenseits jeder Propaganda geläufig. Ob dabei die Initiative von Mikulak ausging, um sich an uns Dörflern zu rächen oder die Sowjetrussen ihn einfach gezwungen haben, eine Liste brauchbarer Zwangsarbeiter unter den Deutschen zusammenzustellen, ist nie herausgekommen. Das muss jedenfalls Mitte Februar 1945 geschehen sein und ich, Anna Pleštinsky, stand mit meinen Brüdern Andreas und Stefan, die noch halbe Kinder waren, mit auf der Liste. Von Schuldigkeit konnte da bei keinem die Rede sein. Unsere Schuld war nur, dass wir Deutsche waren.

In die Verschleppung gezwungen

Konfrontiert wurden wir mit dieser „Verurteilung zur Zwangsarbeit“ als drei Sowjetsoldaten ins Haus kamen und die Namen von uns drei Kindern vorlasen, nämlich die meiner Brüder Andreas und Stefan und eben meinen. Meine Mutter fing gleich an zu weinen und rief: „Die Deutschen haben mir den Mann genommen und ihr nehmt mir die Kinder!“ Wir schluchzten und beteten zur Mutter Gottes. Dann wandten wir ein, dass meine Brüder noch Kinder seien. Der Pfarrer könne das bezeugen. Sie gingen tatsächlich hinauf zu Pfarrer Štefan Putanko, der das Taufregister führte. Das glückliche Ergebnis war, dass die Russen auf die Mitnahme meiner Brüder verzichteten. Aber ich solle mich fertig machen, gebot mir einer von ihnen. Ich begann wieder laut zu weinen und rannte in meiner Verzweiflung weg, durch die Tür zum Tor. Der Russe setzte mir nach, holte mich ein, fasste und drückte mich mit dem Rücken zur Wand. Er richtete seine MP auf mich und bedeutete mir, dass er mich erschieße, falls ich nicht folge. Ich schluchzte zwar noch, war aber schon ruhiger. Mir war jetzt alles egal und ich bedeutete ihm, er solle ruhig schießen. Aber er schoss nicht.

Zwei der drei Russen gingen jetzt weg, einer blieb und sah zu, wie ich meinen Leinwandsack packte. Der hatte ohnehin bereit gelegen, musste nur noch mit einigem Essbaren bestückt werden; denn nach Russland war es weit, in Russland dann noch weiter. Zunächst brachten sie mich in die Schule, wo sie bis dahin nur zehn Männer interniert hatten. Sie führten aber noch Ottilie Faltičko herbei. Wir sagten: „Was sollen wir hier, wenn nur Männer da sind?“ Wir brachten die Russen so weit, dass sie uns versprachen, uns auch zu entlassen, wenn nicht mehr Frauen kämen. Da hatten wir aber Pech. Sie internierten noch drei Mädchen unseres Alters: Anna Krafčik (1926), Marie Neupauer (1927) und Maria Sedlak (1924).

Unser Auszug aus Hopgarten

Zwei Tage blieben wir in der Schule eingesperrt. Von dem, was uns bevorstand, wussten wir überhaupt nichts. Am dritten Tag stellten sie uns, etwa 40 Personen, in Zweierreihen in Marschformation auf. Soldaten mit Hunden bildeten unser Spalier aus dem Ort hinaus. Dahinter standen unsere Verwandten und Freunde, eben die Hopgärter, die noch im Dorf waren, stumm bzw. schluchzend. In Richtung Podsadok zogen wir aus dem Dorf zur polnischen Grenze. Die erreichten wir bei Mnišek. Im Lauf des Marsches hatte Tauwetter eingesetzt. Eis und Schnee verwandelten sich in Matsch und Morast.

Eine „Reise“ nach Sibirien

Jenseits der Grenze im polnischen Pinjitschua (Piwniczna Zdrój) wiesen uns die russischen Bewacher in eine teilweise zertrümmerte Schulturnhalle. Nass wie wir waren, lagen wir dort auf dem Fußboden. Hierhin hatten sie unsere Säcke bringen lassen, die wir also nicht hatten schleppen müssen. Von dem Proviant, den wir uns in die Säcke gepackt hatten, ernährten wir uns in den etwa zwei Tagen, die wir hier zubrachten. Danach transportierten sie uns auf Lastwägen nach Sanuk an der polnisch-russischen Grenze, wo ein Güterzug mit Viehwaggons bereitstand, in den wir verladen wurden. Am 6. März kamen wir mit polnischen jungen Frauen in einen Waggon. Es war ein riesig langer Zug. Wir Hopgärter waren nur ein ganz kleiner Teil der Fracht und füllten nicht einmal zwei Waggons. In unserem steckten sie Männer und Frauen zusammen. Heizung gab es natürlich keine. Wer Mantel und Decke vergessen hatte, fror jämmerlich. Die Notdurft verrichteten wir durch ein Loch im Boden. Zu sehen gab es bei ständiger Dunkelheit im Waggon ohnehin nichts. Im Dämmerlicht des Tages stellte sich eine Frau vor uns, damit wir nicht ganz eventuellen Blicken ausgeliefert waren. Unsere mitgeführten Nahrungsreserven gingen zu Ende, wir erhielten nun aber ab und zu Knäckebrot und Bohnen.

Im letzten Teil der Reise hielten wir einmal zur Entlausung. Ich meine mich zu erinnern, dass das in Pensa war. Das ist schon in Sibirien. Von dort fuhren wir nach Norden in Richtung Swerdlowsk (Jekaterinburg). Der Zug hielt beim Lager Artimowsk. Vom Haltepunkt der Bahn waren es noch zwei Kilometer bis zum Lager. Hier befanden sich ständig 1700 Personen. Es war aber ein Durchgangslager, von dem täglich welche woandershin verlegt wurden oder starben. Jeden Tag kamen aber auch neue nach. Wir Hopgärter blieben aber in dem Lager.

Unsere Zeit im Lager Artimowsk

Als wir ankamen, erhielten wir 20 Deka Brot und ein Stück Fisch. Beides haben wir hinuntergeschlungen. In der folgenden Zeit erhielten wir 20 Deka Brot früh, mittags und abends, mittags dazu einen Schöpfer Fischsuppe. Das war aber immer nur eine Wassersuppe, in der kein Stückchen Fisch schwamm. Hatten wir am Tag die Norm erfüllt, erhielten wir um 10 Uhr abends nochmals 20 Deka Brot. Das Wort Brot sagt sich so einfach daher. Es war oft nur eine braune, gebackene, nasse Substanz. Genügend von der zu bekommen, war aber eine Vorbedingung des Überlebens.

Wir Hopgärter Frauen mussten zunächst im Wald arbeiten. Riesige Mengen Reisig mussten wir in Haufen zusammenziehen und anzünden. Das nach Norm den ganzen Tag zu machen, ist schwere Arbeit. Wir merkten bald, dass es verschieden schwere Arbeiten gab. Einen der Aufseher konnten wir dazu bewegen, uns in die Arbeitskategorie drei zu schreiben. Dazu gehörte das Wäschewaschen. Ich musste mit dem Waschbrett den ganzen Tag waschen, die Wäsche der Männer, in der Regel der Toten. 15 Unterhosen oder Hemden waren das Soll für einen Tag. Bei dieser Arbeit konnte ich wenigstens im Lager bleiben und brauchte nicht so weit zu laufen. Wir hatten auch warmes Wasser zur Verfügung.

Schwerer hatten es die Männer. Unsere Hopgärter arbeiteten in einer anderen Abteilung in den Kohlegruben. Wenn sie abends heimkehrten, konnten wir sie durchs Fenster ins Lager schleichen sehen. Wir sahen ihnen an, wie abgeschafft sie waren. Es war schrecklich.

Nicht nur die Arbeit und die Verpflegung machten uns zu schaffen, sondern auch unsere Behandlung im Lager. Jeden Morgen mussten wir zum Appell antreten. Wichtig war das Durchzählen. Stimmte die Zahl nicht, musste erneut durchgezählt werden. Dann wurde geprüft, wo der oder die Fehlenden waren. Das konnte über eine Stunde dauern. Auch abends musste nach der Rückkehr die Zahl stimmen oder stimmig gemacht werden. Nachts hatten wir nach langen Arbeits- und Appelltagen oft keine Ruhe.

Einer von der Lagerbehörde kam dann in die Unterkunft und rief unseren Namen. Wir taumelten aus dem Schlaf und mussten ihm folgen. Die Politoffiziere verhörten uns und stellten immer wieder die gleichen Fragen und wir konnten immer nur die gleichen Antworten geben. Sie warteten vergeblich auf Widersprüche in unseren Aussagen. Sie wollten uns offenbar lange nicht glauben, dass wir ganz unschuldige Hopgärter waren.

Bei diesen Prozeduren kam uns die Tatsache zu Hilfe, dass wir Hopgärter etwas Slowakisch konnten. Unsere Muttersprache war zwar die hopgärtische Mundart und in der Schule Deutsch. Wir hatten aber in der Schule zwei Wochenstunden Slowakisch gehabt und das Wenige, was wir sonst noch in unserer slowakischen Umgebung aufgeschnappt hatten, erleichterte uns die Verständigung mit den Russen.

Unsere Rückkehr von Sibirien nach Hopgarten

Eines Tages überraschte uns ein Offizier mit der Nachricht, dass wir frei kommen könnten. Er werde nach Hopgarten fahren und nachprüfen, ob stimme, was wir ausgesagt hätten. Das konnten wir zunächst überhaupt nicht glauben. Auch für einen Sowjetoffizier war eine Reise von Swerdlowsk nach Hopgarten kein Spaziergang. Aber der Sowjetoffizier machte seine Ankündigung wahr. Er reiste in unser Hopgarten und hielt sich mehrere Tage im Dorf auf. Unsere Eltern und Verwandten wollten es zunächst auch nicht glauben. Sie holten ihn in ihre Häuser und überschütteten ihn mit Fragen nach uns. Natürlich versorgten sie ihn so gut es ging in dieser schweren Zeit.

Als er aus Hopgarten ins Lager nach Artimowsk in Sibirien zurückgekehrt war, machte er sein Versprechen wahr und bewirkte unsere Rückkehr nach Hopgarten.

Leider konnten wir nicht alle den Rückweg antreten. Andreas Šimsky und Johann Lompart waren schon der Belastung durch die schwere Arbeit erlegen. Maria Sedlak war so schwer an Typhus erkrankt, dass sie keinesfalls reisefähig war. Emilie Weiß ging es ebenso. Sie war an Diphtherie erkrankt. Beide mögen damals zwar ihre Chancen als sehr gering eingeschätzt haben, auch nach Hopgarten zurückzukehren, aber sie wurden gesund und kehrten 1946 zurück.

Die Lagerverwaltung zeigte sich durchaus besorgt um unsere sichere Rückreise und gab uns Verhaltensinstruktionen. Wir sollten unterwegs vermeiden Fettes zu essen. Daran müsse sich der Körper erst nach und nach wieder gewöhnen. Außerdem sollten wir nirgendwo aussteigen und uns nicht vom Waggon entfernen. 15 Rubel erhielten wir noch als Lohn. Die hatten wir nötig; denn wir mussten uns auf dem langen Rückweg auch verpflegen. Wenn der Güterzug mit unserer Menschenfracht hielt, kamen oft Händler an den Zug, die Nahrungsmittel anboten. Die konnten wir auch für das, was wir noch in unserem Gepäck übrig hatten, eintauschen. Peter Gurka setzte dafür seine Schuhe ein und er erhielt Speck. Den aß er, wurde krank und starb. Er war der dritte, der aus Hopgarten nach Russland Deportierten, die nicht ins Dorf zurückkehrten.

Die Reise dauerte wieder etwa sechs Wochen. Sie führte weit in den Süden bis Bessarabien durch Rumänien nach Wien. Von dort ging es mit der Eisenbahn noch über Poprad bis Pudlein. Weiter ging sie damals nicht. Bis Lublau transportierten sie uns noch mit dem Bus. Von dort mussten wir zu Fuß nach Hopgarten heimlaufen. Das taten wir gern. Als wir vom Lublauer Stadtplatz herunterkamen, begegneten uns zwei Hopgärter Frauen, Maria Krafčik und Katherina Gurka. Als sie unser ansichtig wurden, müssen sie uns zunächst für eine Erscheinung gehalten haben. Sie fielen auf die Knie, weinten und dankten Gott. Das Verhängnis wollte es, dass der Mann von Katherina Gurka gerade zu denen gehörte, die nicht aus Sibirien zurückkehrten. Er war, wie bereits bemerkt, noch unterwegs gestorben. Das dämpfte den Jubel im Dorf etwas, tat aber der allgemeinen Freude keinen Abbruch. Die Reise hatte vom 12. Oktober bis 8. Dezember gedauert. In vielen Hopgärter Familien fiel es zum Jahresende wieder leichter, ein frohes Weihnachtsfest zu feiern.

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*)Auszug aus: Hans Mirtes/Gerolf Fritsche: Flucht, Vertreibung, Ansiedlung, Integration – Vertriebene erzählen ihre Schicksale, Frontenhausen, 2012; Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers; (Original: https://karpatenblatt.sk/der-zweite-weltkrieg-und-das-kriegsende-bei-uns-in-hopgarten/ )

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Information: Chmeľnica, deutsch Hopgarten ist eine Gemeinde im Norden der Slowakei unweit der Grenze zu Polen, die im Jahr 1248 unter dem Namen Petersburg von deutschen Einwanderern gegründet wurde. Die Ortschaft hat gegenwärtig etwa 900 Einwohner, die mehrheitlich untereinander eine schlesische deutsche Mundart sprechen.
www.conservo.wordpress.com       22.06.2020
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