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Von Peter Helmes
„Ich kenne die Antwort, aber ich kann sie nicht aussprechen”
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sei der „einzige Oppositionelle, der dem Putin-Regime die Stirn bietet“, so die Meinung von Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift „Osteuropa“. Nawalny nehme den Menschen die Angst vor dem Regime. Mit seinen Enthüllungsberichten über Korruption und Machtmissbrauch habe sich Kreml-Kritiker Alexej Nawalny in Russland ungemeine Anerkennung in der Gesellschaft erworben. (Quelle: Dlf 24.8.20)
Nawalny wird derzeit in der Berliner „Charité“ behandelt. Nach Auskunft der Ärzte bestehe zwar keine akute Lebensgefahr mehr, und er werde medizinisch bestmöglich versorgt wird. Aber der Ausgang seiner Erkrankung bleibe unsicher, Spätfolgen können nicht ausgeschlossen werden.
In diplomatisch höchst ungewöhnlicher Offenheit hatte bereits Regierungssprecher Steffen Seibert schon vor dem Charité-Befund von der „Wahrscheinlichkeit einer Vergiftung“ gesprochen und an vergleichbare Fälle in der jüngeren russischen Geschichte hingewiesen.
Das Gift gehörte zur selben Gruppe wie Nowitschok
Die konkrete Substanz, mit der Alexej Nawalny vergiftet und mindestens vorübergehend mundtot gemacht wurde, ist nicht bekannt. Doch das Nervengift gehört zu einer Substanzgruppe, zu der auch Nowitschok gehört, das seit dem Anschlag auf Sergei Skripal und seiner Tochter vor zwei Jahren Gift bekannt ist.
Nawalny ist der führende Kopf der liberalen Opposition und einer der schärfsten Kritiker von Russlands Präsident Wladimir Putin. Er wirft der Regierung und Oligarchen regelmäßig Korruption und Machtmißbrauch vor. Dazu veröffentlicht er Recherchen in den sozialen Netzwerken. In den vergangenen Jahren organisierte er landesweit Proteste – besonders junge Menschen nahmen daran teil.
Seine Sprecherin Jarmysch bringt den Vorfall mit anstehenden Kommunalwahlen in Russland im September in Zusammenhang. „Es besteht kein Zweifel, daß Nawalny wegen seiner politischen Position und seiner Tätigkeit vergiftet wurde“, sagte Wjatscheslaw Gimadi, der Anwalt von Nawalnys Fonds zur Bekämpfung von Korruption.
Der „Giftangriff von Salisbury“
Alexej Nawalny ist nicht der erste russische Oppositionelle, der unter mysteriösen Bedingungen mundtot gemacht wurde. Nehmen wir z.B. den „Vorfall“ um Sergej Skripal, der als „Giftangriff von Salisbury“ weltweit bekannt wurde: Am 4. März 2018 wurden der russische Doppelagent und seine Tochter Julia bewußtlos auf einer Parkbank im britischen Salisbury gefunden. Kurz zuvor sollen sie mit zwei Russen in einem Hotel Tee getrunken haben. Ermittler stellten fest, daß sie mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden waren. Vater und Tochter überlebten das Attentat.
(Nebenbei bemerkt: Bei dem Angriff auf Skripal kamen auch Unbeteiligte zu Schaden: Ein britisches Paar aus dem Umland hatte in Salisbury eine Flasche gefunden, mit der das Gift offenbar transportiert worden war. Beide kamen mit Rückständen des Gifts in Kontakt. Die Frau starb an ihrer Vergiftung, der Mann erblindete.)
„Ins Gras beißen“
Putin weist zwar jede russische Verantwortung zurück. Im Raum steht aber nach wie vor sein inhaltsschweres Wort von 2010, das er nach der damaligen Begnadigung über Skripal und andere damals Begnadigte äußerte:
„Die Verräter werden ins Gras beißen. Vertrauen Sie mir. Diese Leute haben ihre Freunde betrogen, ihre Waffenbrüder.“
Oder ein anderer Fall:
Alexander Litwinenko, der für den sowjetischen Geheimdienst KGB und nach dem Zusammenbruch der UdSSR für den Nachfolgedienst FSB arbeitete. Nachdem er den Kreml schon öfter beschuldigt hatte, über den Geheimdienst Gegner ausschalten zu wollen, setzt er sich wie Skripal in Großbritannien ab. „Die Bastarde haben mich gekriegt“, sagt er in einem letzten Interview mit der „Times”. Der Kreml habe ihn zum Schweigen gebracht. „Ich will überleben, nur um es ihnen zu zeigen.“ Ärzte fanden in seinem Urin erhebliche Mengen radioaktiven Poloniums.
Oder der bis heute ungeklärte Fall des russische Ex-Premierminister Jegor Gaidar, der einen Tag nach dem Tode Litwinenkos erkrankte. Auf einer Konferenz in Dublin erlitt er einen Schwächeanfall, Blut floß aus Mund und Nase. Bis heute ist die Ursache unklar. Er selbst hatte keinen Zweifel: Er sei aus politischen Gründen vergiftet worden. Im Gegensatz zu Litwinenko überlebte er.
Dann das Pussy Riot-Mitglied (russ. Punkband) Piotr Wersilow,
der plötzlich (nach einem Gerichtstermin im September 2018) aus ungeklärten Gründen nicht mehr sehen, sprechen und sich bewegen konnte.
Nach Medienberichten fanden Ärzte in seinem Blut starke Psychopharmaka. Lebenspartnerin Nadeschda Tolokonnikowa sagte der „Bild“-Zeitung auf dem Flughafen Schönefeld, sie gehe davon aus, daß ihr Partner mit Absicht vergiftet worden sei und daß es entweder um Einschüchterung oder sogar einen Mordanschlag gehe. Aufgeklärt wurde Wersilows Fall bis heute nicht. (Pussy Riot war mit Aktionen gegen Justizwillkür und Korruption weltweit bekannt geworden.)
In die Aufzählung gehört wohl auch Viktor Juschtschenko,
der Favorit in den ukrainischen Präsidentenwahlen 2004. Sein damaliger Gegner: Ministerpräsident Viktor Janukowitsch, der offen von Russlands Präsident Wladmir Putin unterstützt wurde. Juschtschenko war mit Dioxin vergiftet und dadurch lebensgefährlich verletzt worden.
Seinen eigenen Angaben zufolge wurde ihm das Gift bei einem Abendessen mit ukrainischen Geheimdienstlern verabreicht. „Gemäß den Ermittlungen war das Gift beim Essen dem Reis beigemischt worden”, erzählte Juschtschenko der „BBC”.
Im März 2018 antwortete Juschtschenko in einem Interview mit der BBC auf die Frage, ob Präsident Putin involviert gewesen sei mit der Aussage, er habe dazu eine Antwort, aber er könne sie nicht aussprechen.
Dieser und viele andere Fälle stehen in einer Reihe mit einer großen Zahl von Regierungskritikern, die entführt, erschossen oder vergiftet wurden.
Die Kernfrage wird uns aber wohl niemals beantwortet werden, zumal es auch bei den früheren Attentaten nie eine Klärung gab:
Was wußte und weiß Putin?
Dazu sollten sich die sonst so vorlauten Putin-Bewunderer äußern! Und dabei sollten sie eines bedenken:
Wer immer wieder reflexartig fordert, endlich die Sanktionen gegen Russland zu lockern und Wladimir Putin als konstruktiven Partner zu akzeptieren, solle erst einmal eine unabhängige Justiz und eine Kooperation bei der Aufklärung der Gewaltverbrechen gegen Oppositionelle einfordern. Erst wenn Russland dazu bereit ist, wären die Voraussetzungen für eine Normalisierung der Beziehungen zu Moskau geschaffen. Solange das nicht der Fall ist, sollten sie besser schweigen.