Ein Provokateur wird Mainstream – zum 80. Geburtstag des Regisseurs Hans Neuenfels

(www.conservo.wordpress.com)

Von Hubertus Thoma

Hans Neuenfels portraitiert von Oliver Mark, Berlin 2006

„Trau’ keinem über 30!“ war ein Axiom der 68-er. Ein vor 1938 Geborener konnte schließlich noch HJ-Pimpf gewesen sein. Kunstschaffende in Deutschland mit einem Geburtsjahr um 1938 haben ihre Karrieren daher häufig als Rebellen begonnen, als Dekonstrukteure des Vorgefundenen. Die Brecht’sche Vorgabe „Glotzt nicht so romantisch!“ galt als Direktive nicht nur für die „Oberhausener Gruppe“, die Papas Kino für tot erklärte, sondern auch für viele Bühnenregisseure, die einen neuen intellektuellen Anspruch bevorzugt aus dem Geist einer neomarxistischen, von der „Frankfurter Schule“ inspirierten Sozialromantik zu destillieren versuchten. Claus Peymann, Jahrgang 1937, mag als besonders exemplarisch für diese Haltung genannt werden, der von sich selbst einmal behauptet hat „Geboren bin ich 1968“. Insbesondere am Wiener Burgtheater hat Peymann liebgewordene alte Kulturzöpfe in sozialkritischer Säure aufgelöst. Anfangs stark angefeindet ist ihm 2012 die Ehrenmitgliedschaft des Burgtheaters verliehen worden.

Ähnlich, wenngleich etwas weniger polternd, verlief die Karriere seines Kollegen Hans Neuenfels im Bereich der Oper. Gegen dieses vielbewunderte Genre alteuropäischer Kulturherrlichkeit hatte ein Franzose, Pierre Boulez, mit seiner Forderung „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ in den 60-er Jahren zum Sturmangriff geblasen, galten diese Musentempel doch als „Nistplätze reaktionärer Machenschaften“ mit einem Programm für „bürgerlichen Durchschnittsgeschmack“. Es war allerdings wesentlich einfacher, die Klassiker des Sprechtheaters den „zeitgemäßen Aneignungen“ und “sensationellen Neudeutungen” des Regietheaters zu überantworten als das diffizile Gesamtkunstwerk Oper, dessen Entzauberung durch moderne Regisseure bis heute zumindest bei Teilen des Publikums auf erbitterten Widerstand stößt. Der am 31. Mai 1941 in Krefeld geborene Neuenfels nimmt sich seit über 40 Jahren dieser undankbaren Aufgabe an.

Nach Studium von Schauspiel und Regie am Wiener Max Reinhardt-Seminar sowie an der Folkwang Hochschule in Essen durfte er eine Zeitlang Max Ernst in Paris assistieren – „dadamax“, einer der Väter des Surrealismus, hat damals sogar einen Gedichtband des jungen Mannes illustriert, der sich später auch als Librettist für zeitgenössische Opern versuchte. Seine Prominenz verdankt Neuenfels jedoch seinen provokativen Inszenierungen, die dem Opernbesucher ganz im Brecht’schen Sinne nach dem romantischen Glotzen auch das romantische Lauschen aberziehen sollten.

Begonnen hat das 1980 mit einer „Aida“ in Frankfurt, in welcher der Tenorheld Radames zu einem Archäologen, die Titelheldin zur Putzfrau und die Pyramiden zu einem staubigen Archiv umfunktioniert wurden – vergleichsweise harmlos im Vergleich zu späteren Auswüchsen des Regietheaters, auch zu späteren Produktionen des Meisters selbst wie beispielsweise seiner „Fledermaus“ bei den Salzburger Festspielen 2001, Gérard Mortiers vergiftetem Abschiedsgeschenk nach 10 Jahren umstrittener Intendanz: da konsumierte eine dekadent-faschistoide Faschingsgesellschaft nicht nur Koks anstatt Champagner und kopulierte anstatt zu flirten, da wurde nicht nur die Handlung zur besseren Präsentation antifaschistischer Versatzstücke verändert, sondern sogar die Musik von Johann Strauß teilweise durch Zwölftöniges von Arnold Schönberg ersetzt!

„Statt sein Publikum auszulachen schlägt ihm Neuenfels in die Magengrube. Plump und dreist und gähnend langweilig“ schrieb damals der Kritiker der „Welt“. Als der Regisseur neun Jahre später Wagners „Lohengrin“ auf dem Grünen Hügel von Bayreuth als Versuchslabor mit (dem Chor als Ratten) präsentiert, hat sich die Springer-Zeitung mit ihm bereits arrangiert:

„69 und kein bisschen leise. Noch immer gilt Hans Neuenfels als Revoluzzer und Anarchist. Dabei ist er längst brav – nennen wir es altersweise – und… erwartbar geworden.“ – „Die Ratten betreten das Bayreuther Schiff“ titelte damals die dpa hintersinnig, Neuenfels „warf Kußhändchen ins widerstreitende Publikum, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die dem Regisseur demonstrativ Beifall zollte.“

Mit Merkel begann sich die Vorstellung vom Konservativen bzw. von dem, was für konservative Menschen (noch) akzeptabel ist, in die bis heute andauernde Richtung zu drehen. Als Neuenfels’ Ratten-Lohengrin im Sommer 2015 zum letzten Mal gegeben wurde, hatte sich die Inszenierung vom Skandal zum Kult entwickelt, dem kein Besucher mehr ungestraft sein Missfallen kundtun durfte. In diesem Jahr der Flüchtlingskrise war Neuenfels bereits zum dritten Mal zum Opernregisseur des Jahres gewählt worden, nachdem er bereits 2005 in die Bayerische Akademie der Schönen Künste und bald darauf in die entsprechende Akademie Berlins berufen worden war. In der Hauptstadt hatte er sich kurz vorher Mozarts „Idomeneo“ vorgenommen und den Titelhelden die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Jesus, Buddha und Mohammed präsentieren lassen, was zu einer Warnung des LKA vor islamistisch motivierten Anschlägen und einer vorübergehenden Suspendierung der Inszenierung geführt hatte. Die Islamisten zeigten sich indes toleranter als befürchtet und auch diese Inszenierung wurde zum Kult.

Die Verleihung des „Cicero-Rednerpreises“ an Neuenfels im Jahr 2003 ist für den Verfasser dieser Zeilen in Erinnerung an eine Matinee in Wien besonders schwer nachvollziehbar. Neuenfels hatte an der Staatsoper Meyerbeers „Der Prophet“ im Mai 1998 mit allerlei schrägem Beiwerk versehen und sollte dem populären „Opernführer“ Marcel Prawy erklären, warum er im Gegensatz zu diesem des Komponisten Schicksal als angeblich diskriminierter Jude für inszenierungsrelevant halte. Dem offenbar schwer verkaterten Regisseur gelang es nur mit Mühe, sich verständlich zu machen, „Lauter!“-Rufe aus dem Publikum blieben vergeblich.

Auch diese Inszenierung geriet zu einem mittleren Skandal, obwohl Startenor Placido Domingo einige besonders bizarre Einfälle verhindern konnte und Neuenfels mit seiner Arbeit nicht fertig wurde: die letzten beiden Aufzüge der fünfaktigen Oper blieben auffällig uninszeniert. Er selbst hat zugegeben, lange Zeit Suchtprobleme mit Alkohol und Nikotin gehabt zu haben: „Die Zigarette war das Utensil der europäischen Künstlerschaft“ verriet der Kettenraucher in einem Interview, in dem er auch darüber klagte, daß „die energetische Ausstrahlung des Theaters“ rapide abgenommen habe. Das Opernpublikum sei schließlich „ein Wahnsinnsproblem:

„Die schauen gar nicht auf die Bühne, sondern demonstrieren gesunde Gleichgültigkeit.“

Die Idee, das könnte vielleicht am verkopften, verqueren Regietheater, an Leuten wie ihm selbst liegen, ist dem längst zum Establishment zählenden Ex-Provokateur wahrscheinlich nicht gekommen. Zu sehr hat sich die Kultur-Schickeria ähnlich der politischen schon seit langem in eine publikumsferne, vom Feuilleton der Mainstreammedien gehätschelten Blase zurückgezogen.

Neuenfels’ bislang letzte Inszenierung war Tschaikowskis Oper „Pique Dame“ bei den Salzburger Festspielen 2018, dem Ort seiner Skandal-Fledermaus. Ob noch weitere dazukommen wird wesentlich von der Corona-Pandemie und ihren politischen Unwägbarkeiten, aber auch von der Gesundheit des Jubilars abhängen. Am 31. Mai 2021 begeht Hans Neuenfels jedenfalls seinen 80. Geburtstag – wir wünschen ihm dazu einen klaren Kopf!

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