Billiger Zielgruppen-Populismus

Der STERN wiederholte im ersten Juni-Heft seinen »Wir haben abgetrieben!«-Titel von 1971. Die Verzweiflung über die sinkenden Verkaufszahlen muss groß sein.

(www.conservo.wordpress.com)

Von DR.PHIL.MEHRENS

Bild: Pixabay, von Nina BothaBild: Pixabay, von Nina Botha

Was macht ein Autor, wenn ihm nichts mehr einfällt, er aber dringend einen Erfolg braucht? Er schreibt bei sich selbst ab. Denn bei sich selbst abzuschreiben ist kein Plagiat. Das dürfte so in etwa die Logik sein, nach der derzeit in der Redaktion des einstigen Flaggschiffs der »linken Kampfpresse« (Gerhard Stoltenberg) agiert wird. Denn um die linke Kampfpresse – heute auch gern Haltungspresse genannt – steht es nicht zum Besten: Mehr als die Hälfte seiner verkauften Auflage büßte der STERN in nur fünf Jahren ein, allein im vierten Quartal 2020 verzeichnete das Magazin noch einmal einen Rückgang um ganze 16 Prozent – ein dramatischer Aderlass, der in diesem Frühjahr zu drastischen Gegenmaßnahmen führte: Das Ressort Politik und Wirtschaft des Hamburger Hochglanzmagazins wurde degradiert zum Untermieter der Redaktion des im gleichen Verlag erscheinenden Magazins CAPITAL in Berlin.

Das klang für viele Redakteure des Traditionsblattes, als solle das einstige Rotfront-Magazin, das auch gerne mal mit schmuddeligen Sex-Themen aufmachte, zu so etwas Bürgerlich-Seriösem wie dem FOCUS werden.

Nun also die Flucht nach vorn. Er hat es wieder getan, müsste man fast anerkennend sagen, wenn der Versuch, das Blatt ausgerechnet auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft an frühere Auflagenerfolge heranzuführen, nicht so abgeschmackt und erbärmlich wäre. Er hat es wieder getan, der STERN, und einen Titel gemacht mit Frauen die öffentlich bekennen: »Wir haben abgetrieben!«

Man könnte auch vom letzten Aufgebot sprechen, einer Art linksintellektuellem Volkssturm, wenn nun in Heft 23/21 vom 2. Juni die letzten Aufrechten des Feminismus mobilisiert werden, um wohl weniger die Sache des Feminismus (die ist bei den Grünen in besten Händen) als vielmehr die Auflage des STERN zu retten: Feministinnen aller Länder vereinigt euch, unser STERN sinkt!

Alice Schwarzer ist bei der Mobilmachung natürlich an vorderster Front wieder mit dabei. Auf ihre Initiative kam das Skandalheft zustande damals, 1971, in den Jahren der beginnenden Stadtguerilla, als nicht nur der Bourgeoisie, sondern auch den Kindern im Uterus zu Leibe gerückt wurde. Schwarzer rühmt sich, eine Zeitenwende mit herbeigeführt zu haben.

Nicht fehlen darf ferner die Abtreibungsärztin Kristina Hänel, bekannt geworden als die Frau, die – ob primär aus Robespierre’schem Idealismus oder doch eher aus rein wirtschaftlichem Interesse, ist schwer zu sagen – für Tötungen ungehindert werben möchte.

Ein paar linke Lifestyle-Tussis aus der feministischen Filterblase runden das Bild ab und dürfen pathosdurchseuchte Parolen wiederkäuen wie: »Es ist unsere Entscheidung!« Der Versuch, ihnen das Zugeständnis abzuringen, dass auch Menschen, die sich noch im Mutterleib befinden, jene Menschenwürde zuzuerkennen ist, die das Grundgesetz für unantastbar erklärt, ist nicht aussichtsreicher als der Versuch, in einer selbst gebastelten Rakete zum Mond zu fliegen. Und erst recht stößt auf taube Ohren wer mit Blick auf 2015 einen Paradigmenwechsel fordert:

Ein Staat, der Milliarden auszugeben bereit ist für schwer Integrierbare, die als künftige Fachkräfte und Rentenkasseneinzahler ins Land gelassen werden, sollte das bei wesentlich leichter Integrierbaren (gesunden Babys) nicht hinbekommen können? Er lässt lieber innerhalb von zehn Jahren 1,2 Mio. Deutsche (eine Großstadt wie Köln) gar nicht erst auf die Welt kommen? Weiß er nicht, wie viele ungewollt kinderlose Eltern hierzulande auf Kinder kommen, die zur Adoption freigegeben wurden?

In billigem Zielgruppen-Populismus widmet sich das Magazin stattdessen den »ungewollt Schwangeren«, als ob es 2021 noch Jugendliche gäbe, die nicht wissen, wie Babys gemacht werden, und empört sich: »Noch immer kriminalisiert das Gesetz ungewollt Schwangere und Ärztinnen. Höchste Zeit, dass sich das ändert.«

Ein bisschen dankbar darf man dem STERN für die Neuinszenierung des alten linken Klassikers durchaus sein. Das Heft ruft in Erinnerung, was vielen dank der linken Hegemonie in Kultur- und Medienbetrieb gar nicht mehr bewusst sein dürfte, nämlich dass das Thema der Abtötung ungeborener Kinder in Deutschland – zum Glück – immer noch nicht erledigt, sondern diese weiterhin rechtswidrig ist, und zwar aus gutem Grund:

Die Reform des § 218 StGB nach der Wiedervereinigung war ein mühsam ausgehandelter Kompromiss, der einerseits den Geboten der Menschenwürde gerecht werden musste und andererseits dem Begehren der vielen Betroffenen, für eine Verzweiflungstat nicht kriminalisiert zu werden. Eine Verzweiflungstat, die oft einer Notlage geschuldet ist, durch die die Frauen sich bereits genug gestraft fühlen.

Dass der Verzicht auf Strafverfolgung keinesfalls als Legalisierung der Tötungshandlung missinterpretiert werden sollte, war Wesenskern des Kompromisses. Er hatte dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1993 Rechnung zu tragen, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht generell für rechtmäßig erklärt werden darf, weil Justitia das Leben des Kindes auch vor der Geburt als uneingeschränkt schützenswert ansieht. Seine mutwillige Vernichtung kann also gar nichts anderes sein als eine Straftat. Diesen Kompromiss nun plakativ aufzukündigen reißt alte Gräben wieder auf, dürfte sie sogar noch vertiefen.

In den USA ist das anlässlich der Nominierung von Amy Coney Barrett für den Supreme Court bereits geschehen. Dort allerdings gibt es auch so bizarre Auswüchse des »Rechts auf den eigenen Körper«, dass es sowieso nur zu einem faulen Frieden reichte. In vielen Staaten sind nämlich die besonders umstrittenen Spätabtreibungen möglich. Deren grausame Absurdität exemplifiziert der Fall Tim Guido, des Jungen, der seine eigene Abtreibung um 21 Jahre überlebte, weil er nach dem misslungenen »Eingriff« mit lebenserhaltenden Maßnahmen von denselben Leuten gerettet werden musste, die ihn Minuten zuvor noch töten wollten. Eine ebenso filmreife wie erschütternde Groteske, die die meisten deutschen Leitmedien kleinmütig übersahen.

Bei Tim war Trisomie 21 festgestellt worden. Doch wer jemals einer jungen Frau mit Down-Syndrom zugehört hat, die erläutert, warum sie gern lebt und dankbar ist, dass ihre Eltern sie nicht abgetrieben haben, dem könnte klar werden, wie wenig bestimmte Argumentationsmuster, wie sie auch im aktuellen STERN zu erkennen sind, sich von der entarteten Unwertes-Leben-Doktrin der Nazis unterscheiden. Eine tolle Gesellschaft, die Frau im STERN sich da gesucht hat!

Frauenbewegte sind nicht müde geworden, die ganze Hand zu verlangen, nachdem ihnen bei der Reform des § 218 der kleine Finger gereicht wurde. Am 15. Mai 2019 moderierte Marietta Slomka im ZDF-Heute-Journal einen Bericht über die Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen, die im US-Bundesstaat Alabama die Abtötung Ungeborener regeln, mit folgendem Satz an: »So wie ihr Körper ihnen [den Frauen] schon während der Vergewaltigung nicht gehörte, so soll er ihnen auch danach nicht mehr gehören.« Es war ein Moderationstext der totalen Parteinahme, in dem für die Menschenwürde des Ungeborenen kein Herz schlug. Und in genau diese Kerbe schlagen nun auch die STERN-Autorinnen. Die, die damals auf der anderen Seite standen, können auf diesen Frontalangriff eigentlich nur damit reagieren, dass sie den nur unter Schmerzen angenommenen Kompromiss aus den Neunzigern nun ihrerseits aufkündigen und wie in den USA eine Verschärfung des Gesetzes zum Schutz Ungeborener verlangen.

Die nächste Chance dazu bietet sich am 18. September. An diesem Tag werden auch dieses Jahr in der deutschen Hauptstadt wieder Menschen auf die Straße gehen: Menschen mit Down-Syndrom, die gern leben, Frauen, die abgetrieben haben und bereuen, und Christen, die unverdrossen an dem Gebot »Du sollst nicht töten!« festhalten. Auf einen STERN-Titel werden sie es garantiert nie schaffen.

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