Kindheitserinnerungen aus Danzig

  • – Flucht und Vertreibung
  • – Untergang der Gustloff

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Von Artushof *)

Danzig 24

Liebe Heimatfreunde

Gegen das Vergessen und zur Mahnung für unsere Nachfahren möchte ich ihnen Ereignisse von meinen Vorfahren aus Danzig näher bringen. Die Namen habe ich gekürzt und geändert, um die Familie in der Öffentlich  zu schützen.

Hiermit erhalten sie von Zeit zu Zeit kleine Beiträge über eine Menschenart, die man heute nicht mehr kennt. Es sind die Danziger, die ihre eigenen Wurzeln genau kannten und Danzig zu dem machten, was es bis zum Kriegsende war. Eine stolze deutsche Stadt, die als das Venedig Deutschlands bekannt war. Leider hatten sie um sich nach den Versailler Verträgen gegenüber den Polnischen Einflüssen  zu schützen, als freie Stadt dem Naziregime unterworfen. Dies war der schwerste Fehler  der freiheitsliebenden Danziger in der Geschichte ihrer deutschen Stadt. Sie sollte verloren gehen.

Erlebnisse aus meiner Kindheit.

Wir lebten in Danzig Ohra. Mein Vater war Beamter der Danziger Bahn. Er war kein Mitglied der NSDAP und nahm in der Öffentlichkeit  oft kein Blatt vor den Mund.

Meine Mutter hatte deshalb Angst, daß „die“ (gemeint war die Gestapo) also die Schlapphüte eines Tages vor der Türe stehen würden. Ich kann mich noch gut  erinnern, als mein Vater nach einer Einkehr in seiner  Wirtsstube abends nach Hause kam. Er hatte, wie sich später herausstellte, laut über die Nazis geurteilt und nicht darüber nachgedacht, daß die Wände Ohren haben.

Spät am Abend waren 2 Männer gekommen und klingelten bei den Nachbarn, ob hier wohl ein B.R. leben würde. Sie erkannten schnell, wer diese Männer waren und sie taten so, als wüßten sie nicht wer das ist.

Als meine Mutter das mit bekam, hatte sie fürchterliche Angst, daß die Männer wieder kommen könnten und B.R. verhaften würden.

Danzig 33

Er war zu dieser Zeit eher ein Sozialdemokrat und Danzig war seine Welt. Die Fahnenstange mit dem Hakenkreuz zu bestücken war ihm zu wider. Er tat es nicht. Eingezogen wurde er nicht und arbeitete weiter für die Bahn.

Sein Hobby war die Züchtung von Angora Kaninchen. Sein Lächeln, Charakterstärke und seine klare Vorstellung von der Welt in der wir lebten, gab uns das Gefühl von Sicherheit.

Meine Mutter E. W. entstammte aus einer großen Familie. Ihr Vater hatte eine große Ziegelei. Über weitere Einzelheiten möchte ich später berichten.

Vor unserem Haus standen viele Rosensträucher und es war sehr schön, sie im Sonnenlicht zu betrachten. Oft lag ich im Fenster und spielte dabei mit meinen Puppen. Es war eine sorglose Zeit und ich verbrachte sehr viel Zeit damit, meine Geschwister zu erforschen. Besonders meine große Schwester Chr. war mein Vorbild.

Meine Geschwister W., H., W. und Chr. waren für mich Menschen, die mir wichtig waren. W. war ein liebenswerter Mensch, der sehr früh als Soldat in der Wehrmacht im Jungenalter in Rußland fiel. H. überlebte als Soldat in der Wehrmacht den Krieg und starb später.

Ohra war eher ländlich und Spaziergänge im Wald oder zur Kirche waren erholsam und friedlich.

In Ohra verlief die Durchgangsstraße von Thorn in Richtung Danzig Stadt.

Danzig Grünes Tor

Im Winter spielten wir mit dem Schlitten. Wenn sehr viel Schnee lag und ein Schlittengespann mit großen Pferden unterwegs war, versuchten wir unsere Schlitten daran zu befestigen, was nicht immer gelang. Der Klang der Peitsche, die der Kutscher in den Händen hielt, sorgte für Respekt und genügenden Abstand.

Wir pflückten leckere Blaubeeren im Sommer. Einen Elch im Wald zu entdecken, war ein großes Erlebnis.

Als ich etwas älter war, badeten wir am Strand in Danzig. Ich konnte nicht gut schwimmen.

An einem heißen Sommertag ging ich ins Meer, um zu baden. Ein Strudel oder eine Strömung erfasste mich, zog mich unter Wasser. Ich hatte fürchterliche, panische Angst. Ein junger Mann hatte mich wohl beobachtet, und irgendwann zogen mich seine Hände aus dem Meer. Ich war gerettet und ihm sehr dankbar.

An der Küste lag der Bernstein in Hülle und Fülle. Oft sammelte ich ihn. Zu Hause hatte ich eine große Tüte davon.

Oft gingen wir zum Milch holen oder zum Bäcker Richtung Krantor. Es war einfach sehr aufregend, diese wunderschöne Stadt zu betrachten. Die vielen Menschen und der Markt, aber auch die Schaufenster mit unbekannten Sachen. Ich wußte nicht viel von der Welt, ich war noch zu klein. Als wir später 1945 flüchteten, war ich gerade mal 13 Jahre alt.

Von den Veränderungen der politischen Situation bekam ich nichts mit. Aber ein Tag bleibt in meinen Gedanken fest verankert.

Es war ein Tag wie jeder andere als plötzlich ein Donnerschlag nach dem anderen zu hören war.

Es war der Beschuß der Westerplatte durch die Schleswig Holstein, die widerrechtlich als Militärstützpunkt durch die Polen ausgebaut wurde und die Danziger sahen sie als eine polnische Bedrohung an.

Meine Mutter und ich liefen auf die Straße wie viele andere Menschen auch.

Viele schrien irgendetwas, und meine Mutter sagte still mit Tränen in den Augen „Es ist wieder Krieg“.

Nichts war mehr so, wie es einmal war.

Ich kann mich noch gut erinnern als der Russe in der Stadt ankam.

Wir Kinder spielten in der Stadt Verstecken und ich lief eine lange Straße hinunter. Deutsche, unsere Soldaten, kamen mir entgegen. Einer hielt mich an und schrie, „du läufst direkt in die Front, der Russe kommt“. Flugzeuge flogen über uns. Ich lief davon und versteckte mich unter einem großen Wagen. Als es ruhiger wurde kam ich aus meinem Versteck und sah, daß ich unter einem Tankwagen Sicherheit gesucht hatte.

Kurz, bevor auch wir unsere Flucht vorbereiteten, sah ich viele Menschen aus Richtung Thorn kommend in Richtung Danzig strömen. Es war kalt und die Menschen taten mit leid.

Da kam eine Frau mit ihrem kleinen Kind vorbei und meine Mutter machte heiße Milch und sagte mir, daß ich die Milch verteilen sollte, was ich auch tat. Die Dankbarkeit in den Augen dieser Menschen, aber auch die Angst, die ich so zum ersten Mal  sah, war für mich schwer zu bewältigen.

Der Tag des Abschieds

Als wir unsere wichtigsten Sachen gepackt hatten, ging es los in Richtung Hafen. Die Gustloff wäre der sichere Ort und sie würde uns schnell weg bringen.

Danzig 1936

Die Straßen sahen schrecklich aus. Deutsche Panzer fuhren und wir gingen direkt neben ihnen. Ich sah, genau wie meine Schwester W., Knochen von Menschen zwischen den Ketten der Panzer. Es war schlagartig eine grausame Welt um mich herum. Ich hatte Angst und konnte vor lauter Tränen kaum den Weg finden.

Wir sollten nach Hela, hieß es, von dort ginge es weiter.

Der Treck, der wie eine endlose riesige Schlange bis zum Horizont reichte, war unglaublich für mich.

Ich sah das Vieh auf den Weiden, Milchkühe schrien ununterbrochen, weil sie nicht gemolken wurden. Links und rechts in den Straßengräben lag alles was man sich vorstellen konnte. Tote Menschen, alte und junge und auch eingewickelte Babys. Buntes Geschirr und sehr viel Bettzeug, Besteck und andere wertvolle Sachen. Da der Russe keinen Unterschied machte ob Zivilisten oder Soldaten unterwegs waren, feuerten sie aus ihren Flugzeugen auf uns. Die Tiefflieger waren schrecklich. Wir sprangen schnell in die Gräben bis sie weg waren.

Es war kalt und ich hatte so viel Angst.

Meine große Schwester Chr. sprach Soldaten auf einem Lastkraftwagen an und wir hatten Glück, Hela lag vor uns.

Als wir auf Hela ankamen, war ich froh und ich hatte Hunger. Meine Mutter hatte erfahren, daß es in einer Baracke etwas zu Essen geben sollte.

Chr. und ich sollten schnell hinlaufen und etwas mitbringen.

Das taten wir, denn der Hunger kennt keinen Zeitaufschub. Als wir kurz vor der Baracke ankamen, stürzten sich  die russischen Tiefflieger auf uns und eine Bombe oder ähnliches  schlug in die Baracke ein.

Als wir aus der Deckung kamen, sahen wir nichts. Die Luft war ganz weiß und ob es Backpulver oder Puddingpulver oder vielleicht auch Mehl war, kann ich nicht mehr sagen. Es sah irgendwie lustig aus.

Wir liefen schnell zurück, aber nicht schnell genug.

Das Hohe Tor in Danzig – Lithografie von Julius Greth, 1855. Bauwerk von Willem van den Blocke, 1587-88.

Ein weiterer Angriff kam und wir liefen in Richtung eines Leuchtturms. Ein deutscher Soldat packte mich, um mich zu schützen, dann gab es einen lauten Knall. Als ich wieder zu mir kam, lag ich unter dem Soldaten im Eingang des Leuchtturms. Er hatte mich gerettet, aber um welchen Preis. Er hatte einen Arm verloren und lag tot auf mir.

Die Gustloff war ein großes Schiff und mein Vater B. war schon mit den Koffern voraus gegangen, um einen Platz zu bekommen. Jeder wollte nur auf das Schiff.

Als wir Kinder und meine Mutter an der Reling angekommen waren, es waren sehr viele Menschen um uns herum, stand ein Matrose davor und sah meine Mutter an. Er sagte, daß das Schiff nichts taugen würde und wir sollten lieber ein anderes Schiff nehmen. Aber das war leicht gesagt, alle hatten Angst um ihr Leben und jeder wollte schnell weg und in Sicherheit gelangen.

Meine Mutter hatte aber ein ungutes Gefühl und auch die Gabe zu spüren, was andere nicht spüren.

Zu Hause hatte sie oft mit anderen Karten gelegt und Dinge gesehen, von denen ich kaum etwas mitbekam. Meine Mutter konnte sehr gut Träume deuten und ich hatte den Eindruck, daß sie meist das Richtige kommen sah.

Danzig 1939

Sie stand nun mit uns unten an der Reling und es war nur noch ein Schritt, um auf das Schiff zu gelangen. Sie ging nicht hinauf und schickte Chr. vor, um Vater wieder runter zu holen. Es war unverständlich für mich und die Angst war mein ständiger Begleiter.

Vater kam runter und wir suchten ein neues Schiff. Es hieß Cremon oder Kremon, ich weiß es nicht mehr genau. Auf dem Deck konnten wir noch einen Platz finden und ich mußte neben einem alten Mann liegen. Später, als es dunkel war, sahen wir auf einmal ein helles Licht und Leuchtfeuer.

Es war die Gustloff

Sie wurde von Torpedos getroffen und man hörte aus der Ferne laute Geräusche und das Schreien der ertrinkenden Menschen. Meine Mutter hatte das richtige Gespür. Unser Schiff hatte die Order weiter zu fahren. Wir durften nicht helfen und unser Schiff wäre total überladen.

An schlafen war nicht mehr zu denken und lange Zeit später gab es einen ruckartigen Schlag gegen unser Schiff. Wir wurden auch von einem Torpedo getroffen, und es ging langsam aber ruckartig unter.

Als ich mich aufrichtete, sah ich, daß der alte Mann neben mir gestorben war.

Wir hörten, das eigene Taucher bemüht waren, das Loch  abzudichten. Wir sanken und ich sah das Schicksal der Gustloff auch für uns kommen. Plötzlich wurde das Schiff ruhig. Und wir wussten, daß es weiter geht mit uns allen. Meine Mutter bekam Lungentyphus  und sie wurde schwach.

Wir sollten in Kiel vor Anker gehen, um das Schiff zu reparieren. Die Engländer schickten uns aber direkt weiter. Wir sollten nach Dänemark.

So kamen wir nach Dänemark in ein Auffanglager und Chr., W. meine Mutter und ich waren den Russen entkommen.

Als wir im Treck zum Lager gingen, wurden wir vom dänischen Wachpersonal begleitet und viele Dänen standen am Straßenrand. Sie spuckten uns an und schrien laut „Tyske Svin“ (Deutsches Schwein). Ich war unendlich traurig und was mit uns wohl noch alles passieren wird.

Das Deutsche Reich hatte den Dänen Geld bereitgestellt um die Flüchtlinge soweit es ging zu versorgen. Die sprichwörtliche deutsche Danziger  Disziplin im Lager war vorhanden und es kam zu keinen Übergriffen. Wir hielten zusammen. In dieser Zeit wurde auch viel von diesen Danzigern niedergeschrieben. Einige Kulturgüter wurden auch gerettet. Aber wie man heute weiß, wurden sie teilweise, Dank der neuen Politik der deutschen Regierung sogar in Nacht und Nebelaktionen den Danziger Verwaltern in Westdeutschland weggenommen und zuerst  heimlich den Polen übergeben. Ein schrecklicher Vorgang, der jedem Danziger das Herz zerreißt.

Das Essen war für uns Kinder immer zu wenig. Wir hörten, daß die Dänen auch Ratten in die Suppen mit verarbeiteten. Das waren die Hiebe, die wir einstecken mußten.

Aber es kam ein anderer, ein neuer Anfang auf uns zu.

Chr. freundete sich mit X.F. an, der später ihr Ehemann werden sollte.

Danzig Brösen – ca. 1900

W.  fand auch ihr Glück mit O.P. in Dänemark und ich zog mit meinem Eltern alleine nach Westdeutschland. Ich habe bis heute immer die prachtvollen Bilder dieser wunderschönen Stadt Danzig vor mir und weiß, daß dieser alte Glanz meiner Heimatstadt nie mehr so aufgebaut wird. Das Gesicht der Stadt sollte polnisch werden, sie sollte eine Maske tragen, die das wahre Gesicht zudecken würde.

Herzliche Grüße

Artushof

NEC TEMERE – NEC TIMIDE

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*) Artushof kommt aus der Industrie und war bis zum Arbeitsaustritt/Ruhealter als Vertriebsleiter Europaweit tätig. Die gesellschaftlichen negativen Veränderungen in der BRD und in Europa finden sich in vielen seiner Essays wieder. Das die Geschichte der deutschsprachigen Länder heute mehr und mehr aus dem öffentlichen Interesse verschwindet nutzt er um mit seinen Beiträgen gegen das Vergessen klare Zeichen zu setzen. Nec Temere – Nec Timide. http://danzig.mozello.de/

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