Von Notan Dickerle, Anwärter auf den Leuchtturmpreis für mutigen Journalismus gegen „Bunt“
Es gibt Menschen, deren Leben sich in einer eher kurzen, aber konzentrierten Zeitspanne verwirklicht, Menschen wie Gerd Müller, der wie kaum ein anderer für die Goldene Zeit des Deutschen Fußballs steht. Zwischen 1964 und 1979 war er der Mittelstürmer des FC Bayern München, zwischen 1966 und 1974 auch derjenige der Deutschen Nationalmannschaft, die damals auch wie selbstverständlich so hieß. 365 Tore, so viele wie das Jahr Tage hat, erzielte er in 427 Spielen für seine „Bayern“ – bis zur letzten Spielzeit, als er von Robert Lewandowski, einem seiner Nachfolger, abgelöst wurde, hielt er mit 40 Toren den Saisonrekord.
In seinen 62 Länderspielen gelangen ihm 68 Treffer, sein Schnitt liegt damit deutlich über eins. Das letzte und wichtigste war dabei der Siegtreffer zum 2:1 im WM-Endspiel gegen die Niederlande 1974. Mit 28 Jahren gab Müller anschließend seinen Rücktritt aus der Nationalelf bekannt. Aus 1204 Spielen sind 1455 Tore von Müller dokumentiert, auch solche aus seiner amerikanischen Zeit, als er – ohne Kenntnisse der damals noch nicht ganz so dominanten „language of the world“! – bis zum Sommer 1981 noch für die „Fort Lauderdale Strikers“ in Miami auflief.
Mit 35 Jahren war der erfolgreiche Teil von Gerd Müllers Leben dann allerdings auch abgeschlossen. Er blieb zunächst in den USA, betrieb ein Steakhaus namens „Gerd Mueller’s Ambry“ und sprach zunehmend dem Alkohol zu. Seine Freunde vom FC Bayern, besonders Uli Hoeneß und Franz Beckenbauer, holten ihn nach München zurück und verschafften ihm einen Job im Trainerstab der zweiten Mannschaft des Vereins – eher eine soziale Maßnahme denn sportliche Notwendigkeit.
Vor etwa zehn Jahren erkrankte Müller an Alzheimer, seit 2015 lebte er in einem Pflegeheim. „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“ gab Müllers Ehefrau bereits anlässlich seines 75. Geburtstages im November letzten Jahres zu Protokoll. Er hat es immerhin noch bis zum 15. August 2021 geschafft.
Gerd Müller war eine Art deutsche Version der amerikanischen Legende „vom Tellerwäscher zum Millionär“: Er entstammte ärmlichen, bildungsfernen Verhältnissen und hatte gerade mal einen Grundschulabschluss. Eine erfolgreiche Schallplatte, die er in moralisch anspruchsloseren Zeiten mit dem Titel „Dann macht es bumm“ („… ich schieß ein Tor, und alle rufen ‚Müller vor!‘“) aufgenommen hat, ist für ihn durchaus bezeichnend, auch wenn seine Tore selten stramme Schüsse waren, sondern meist Ergebnis trickreicher Drehungen, verbunden mit einem legendären Torinstinkt.
Gerd Müller war eine extreme Inselbegabung, aber im Gegensatz zum Sportskameraden „Bumm-Bumm-Boris“ hat er immerhin einen erfolgreichen Schlager zum gleichen Thema selbst gesungen. Selbst die deutsche Sprache hat er bereichert, mit dem Verb „müllern“, das allerdings von Journalisten stammt und in etwa „auf sportliche Art abschiessen“ bedeutet.
Die eher bildungsobsessive „Zeit“ hat den Nachruf auf den Stürmer prompt mit „Es müllert nicht mehr“ überschrieben. Nun, es müllerte schon lange nicht mehr, aber es blieb und bleibt die Erinnerung an einen Mann und eine Epoche, in dem der deutsche Fußball ohne taktische Extravaganzen und ohne ideologischen Überbau einfach Freude bereitete und erfolgreich war. Als die Kicker noch aus der hauseigenen Provinz kamen und der Sport eine reale Möglichkeit zum sozialen Aufstieg bot.
„Keiner kam von so weit unten“ schrieb Müllers Biograf Hans Woller, der im Titel seines Buches „Gerd Müller, oder wie das Geld in den Fußball kam“ allerdings auch bereits die grundsätzliche Problematik solcher Entwicklungen betont.
Wie dem auch sei: Der immer etwas ungelenkig erscheinende „Bomber der Nation“ hat seinem Land Ruhm und Ehre eingebracht wie in Nachkriegsdeutschland kaum ein zweiter; nicht zufällig wurde er 1970 nach der WM in Mexiko als erster Deutscher zu Europas Fußballer des Jahres gewählt. Vielleicht müllert es ab jetzt im Himmel – zumindest im Schatz der deutschen Sprache sollte unbedingt weiter gemüllert werden!