Von Peter Helmes
Deutschlands Regierung ohne Konzept
Die internationale Aufmerksamkeit konzentriert sich seit der Machtübernahme durch die Taliban auf die Lage der Frauen, der Minderheiten und der Millionen gemäßigter Afghanen, aber die Situation ist komplexer. Die Taliban haben es geschafft, jahrelang nicht nur zu überleben, sondern auch Angriffe zu organisieren. Daß sie jetzt die Kontrolle über das Land übernommen haben, haben sie auch der Unterstützung eines wesentlichen Teils der Bevölkerung zu verdanken.
Historiker werden herausfinden müssen, warum ein so kostspieliger und langer Militäreinsatz nicht gereicht hat, um das Land aus der Armut zu befreien. Ein Grund ist sicher, daß es an einem konkreten Plan und einer langfristigen Perspektive gefehlt hat. Auch hat der Westen andere Vorstellungen von einer funktionierenden Gesellschaft als viele Afghanen. Und, noch wichtiger: Unsere Grundwerte-Vorstellungen werden beileibe nicht überall geteilt.
In seiner Rede an die Nation am letzten Montag gestand US-Präsident Biden, die US-Intervention in Afghanistan sei nicht wirklich Teil eines großen Kampfes zwischen Autokratie und Demokratie gewesen:
„Es ging nie darum, eine einheitliche, zentralisierte Demokratie zu schaffen“, sagte er. „Unser einzig wesentliches nationales Interesse in Afghanistan ist heute noch das, was es immer war: die Verhinderung eines terroristischen Angriffs auf das amerikanische Heimatland.“
Biden, ein Politiker, der 30 Jahre im Washingtoner Establishment verbracht hat, galt als Verfechter einer multinationalen Weltordnung, die Trump zugunsten einer ‚America First‘-Doktrin ablehnte. Die politische Linke in Europa war von der neuen Perspektive besonders angetan. Doch innerhalb weniger Tage hat das Debakel in Afghanistan diese Sichtweise verändert.
Bidens Rede ist ein peinlicher Versuch, einen Einsatz zu rechtfertigen, der sich in diesen Tagen als vergeblich erweist. Die Taliban sind stärker denn je, und die Afghanen sind ärmer und desillusionierter als vor Beginn der US-geführten NATO-Operation im Jahr 2001. Es ist nicht verwunderlich, daß der US-Präsident den Einsatz mit dem Hinweis auf die Sicherheit des Landes zu rechtfertigen versucht. Dieser Rückzug der alliierten Streitkräfte ist ein erheblicher Prestigeverlust für die USA, für die NATO und für Biden selbst
Wenn es um Afghanistan geht, wird Biden plötzlich vom Idealisten zum Realisten.
Das Problem mit seiner kalten, auf nationale Interessen ausgerichteten Politik ist, daß Afghanistan nicht in einem Vakuum existiert. Der Rückfall Afghanistans zu einem Staat, der von brutalen Fanatikern regiert wird, ist nicht nur ein Problem für das Land selbst. Die traurige Wendung der Ereignisse dort wird auf der ganzen Welt zu spüren sein.
Nach der Machtergreifung der Taliban wollen viele Afghanen ihr Land verlassen – also eine neue Flüchtlingskrise. Diese Perspektive läßt in Europa die Emotionen hochkochen. Schon jetzt versuchen tausende Menschen auf jedem nur erdenklichen Weg, Afghanistan zu verlassen. Viele von ihnen haben mit den internationalen Kräften zusammengearbeitet oder waren in der Verwaltung tätig. Die Zahl der Flüchtlinge wird in naher Zukunft stark ansteigen. Sie werden versuchen, nach Europa zu gelangen. Ja, vor allem nach Europa; denn die USA sind weit weg, und anderswo erwarten die Flüchtlinge weitaus schlimmere Bedingungen.
Die von US-Präsident Biden ausgelöste Tragödie hat nun ihr Bild: die von einem amerikanischen Flugzeug stürzenden Menschen. In ihrer Häßlichkeit und ihrem Schrecken übersteigen die Szenen vom Kabuler Flughafen viele Bilder, die zu Ikonen des Krieges geworden sind, etwa die des berühmten Napalm-Mädchens aus dem Vietnamkrieg. Zu den Toten von Kabul gehört auch der 17 Jahre alte afghanische Fußballspieler Zaki Anwari, der Agenturberichten zufolge von einer Maschine abstürzte. ‚Du bist der Autor deines eigenen Lebens‘, lautete sein letzter Eintrag auf Facebook. Das Gedächtnis der Welt wird die Szenen des Elends, der Verzweiflung, Feigheit und Niedertracht am Flughafen von Kabul nicht vergessen.
Dieser Einsatz war sinnlos, so sinnlos wie unsere Toten
Unser Engagement der letzten zwanzig Jahre war damit sinnlos. Umsonst in dem Sinne, daß die von uns gesetzten Ziele – Stabilität und Sicherheit reinzubringen – erreicht wurden. Die Islamisten haben die Macht in dem Land. Es ist erschreckend und dramatisch zu sehen, wie schnell die Aufbauarbeit, die mit viel Blutvergießen und Kraftaufwand hergestellt wurde, jetzt zusammenbricht. Eine nüchterne, eine ernüchternde Feststellung! Die Sinnfrage bleibt unbeantwortet, auch von Merkel.
„Kanzlerin der freien Welt“ – ein Klischee
Noch Ende 2015 sang das „Time Magazine“ das hohe Lied auf Merkel. Der „Kanzlerin einer freien Welt“ gelinge es, mit „Menschlichkeit, Güte, Toleranz“ die „große Stärke Deutschlands“ zum Retten statt zum Zerstören zu nutzen.Das war schon damals nichts als ein Klischee; denn während ihrer Amtszeit richtete Angela Merkel ihr Augenmerk lange auf den Handel mit China, aber ihr geostrategisches Erbe bestand vor allem aus dem schwierigen Balanceakt in der Beziehung zu Russland. Doch auch hier bleiben die Erfolge aus.
Merkel hinterläßt ihren Nachfolgern eine explosive Situation an der Ostflanke der EU: Russland hat die Halbinsel Krim annektiert, einen Separatistenkrieg in der Ostukraine angeheizt und droht mit einer De-facto-Übernahme von Belarus. Die EU hat auf die russischen Aggressionen mit Sanktionen reagiert. Diese haben zwar die russische Wirtschaft geschwächt, nicht jedoch Präsident Putin.
Berlin hat die Maßnahmen zwar unterstützt, gleichzeitig aber auch immer seine eigene Ostpolitik betrieben, um Russland nicht vor den Kopf zu stoßen. Das historische Urteil über Merkel steht noch nicht fest, aber ihre Politik gegenüber Moskau wirft einen gefährlichen Schatten auf ihr Erbe und hat eher wenig zur Stabilität der EU beigetragen.
Im Spätherbst ihrer Kanzlerschaft und im Licht des Afghanistan-Debakels zeigt sich: Stark ist Deutschland in seinen moralischen Ansprüchen an andere, Menschlichkeit wird beschworen, aber selten praktiziert, die Toleranz gilt dem eigenen Versagen. Mit dieser Bilanz wird Merkel aus dem Amt scheiden – und ihre emotionale Eiseskälte hinterlassen:
Am Abend, als die Tragödie in Afghanistan eskalierte und Menschen auf dem Flughafen von Kabul um ihr Leben rannten, saß sie in einem Berliner Kino und genoß einen Dokumentarfilm über Politikerinnen in der alten Bundesrepublik.
Die Flucht in den Kinosessel war ebenso stillos wie symptomatisch.
Wenige Stunden zuvor hatte die Kanzlerin erklärt, die Machtübernahme der Taliban sei „bitter, dramatisch und furchtbar, ganz besonders für die Menschen in Afghanistan“, bitter aber auch für Deutschland. Für die strategische Fehleinschätzung übernehme sie die Verantwortung. Sagte sie, guckte Film – und das war´s.
Fazit:
Zwanzig Jahre haben der Westen, vor allem auch die Bundesregierung, erfolglos an einem „neuen Afghanistan“ gebaut. Die Kräfte der Nato waren mit den komplizierten Rivalitäten und Ethnien überfordert, der Einfluß der Taliban wurde systematisch unterschätzt. Der Satz, man werde die „Kanzlerin einer freien Welt“ noch vermissen, vor allen Dingen kurz vor ihrem Abschied, ist jetzt noch fragwürdig er geworden. Mit dem Desinteresse Merkels an der afghanischen Katastrophe hat er jede Gültigkeit verloren. Eine „Merkel-Saga“ wird es nicht geben!
Der Afghanistan-Einsatz zeigt – wie andere auch –, daß durch solche Einsätze die Situation in den Ländern nicht gelöst werden kann. Es gibt keine militärische Lösung. Diese Erkenntnis – wenn man denn daraus lernen will – wird man sehr bald umsetzen müssen, z. B. in Bezug auf das Engagement der Bundeswehr in Mali.
www.conservo.wordpress.com 24.08.2021