“LA VARIANTE TORINESE“ – die Gianduia, eine turinesische Delikatesse aus Schokolade und Haselnuss

Turin und seine „Varianten“ bei den Protesten gegen die Corona-Verordnungen

Eine Frage an “Papa Francesco“

(www.conservo.wordpress.com)

Von Dr. Juliana Bauer                                                                       Bericht vom 24.September

Peter und Paul

Turin, in meinen Lehrwerken für den Italienischunterricht meist als weltbekannte Stadt der Schokolade gerühmt, zeigt sich seit Wochen kaum in der Tradition der „süßen Verführung.“

Die Metropolitanstadt und Hauptstadt des Piemont wurde mit Beginn der Proteste gegen die bitteren, von der italienischen Regierung beschlossenen Corona-Maßnahmen neben Mailand zu einem der massiven Widerstands-Zentren Italiens. Samstag für Samstag finden sich Tausende zusammen, um in Manifestazioni, in Groß-Demonstrationen ihrem wachsenden Unmut und Zorn gegen die ebenso wachsende Unterdrückung der Menschen und deren Diskriminierung Ausdruck zu verleihen.    

“Mario Draghi, prima-o-poi c’è la paghi …“

Den eigentlichen Auftakt gaben die am 6.August in Kraft getretenen Parlamentsbestimmungen zum Gesundheitspass, dem so genannten Green Pass, der allein den Zugang zu Schnellzügen und Gastronomie, zu Kultur- und Bildungsrichtungen wie Kinos, Theater, Universitäten und, seit Schulbeginn, auch zu Schulen „gewährt.“ Seit den Verordnungen, die kurz vor der Septembermitte auf Draghis unerbittliches Drängen – zunächst – beschlossen wurden und ab Mitte Oktober den Nicht-Geimpften den Arbeitsplatz ohne Lohnausgleich entziehen sollten* (s.u., Zusatz-Infos) – Verordnungen, die nur noch an Irrsinn und diktatorische Brutalität grenzen – versammeln sich viele Turiner auch an Wochentagen in der Innenstadt, um gemeinsam und laut, manchmal nahezu ohrbetäubend ihre Stimme zu erheben.

Alt und Jung sind auf den Beinen, aus allen Schichten des Volkes strömen die Turiner zusammen. Und aus Tausenden Kehlen hallt es, akustisch untermalt von Trommeln, Pfeifen, „Trompeten, Hörnern“: “No Green Pass, libertà, basta, basta dittatura (die Diktatur reicht)“; variiert durch die Rufe: “Noi siamo il popolo“ (wir sind das Volk), “giù le mani dal lavoro“ (Hände weg von unserer Arbeit), “giù le mani dai bambini“ (Hände weg von unseren Kindern) oder, derb „aufgelockert“, den allseits üblichen, italienischen Götz von Berlichingen im Rhythmus wiederholend: “Draghi, Draghi vaffan. . . .“

Rhythmisch im Reim, ja fast beschwörend skandieret dann die Masse:

Mario Draghi, prima-o-poi c’è la paghi … …

(„Mario Draghi, früher oder später wirst du dafür bezahlen“ – was ich für möglich halte, auf welche Weise auch immer). Auch viele ältere Teilnehmer lassen sich nicht „lumpen“, den Draghi-Reim x-mal laut und deutlich mitzurufen. Selbst an den Fenstern bekunden Anwohner ihre “Solidarietà.“

Fahnen- und Transparentträger führen die Demo an: die Bandiera Italiana, die Nationalflagge Grün-Weiß-Rot fällt jedes Mal ins Auge wie auch das Riesen-Transparent mit dem Schriftzug “Uniti per la libertà della Scelta“ (Vereint für die Freiheit der – persönlichen – Wahl).

Turiner Klänge

Bei dem langen Zug fällt seit September ein älterer weißhaariger Teilnehmer auf, der unentwegt und aus Leibeskräften ein so genanntes Grüselhorn bläst, dessen durchdringender, fast schnarrender, langgezogener Ton immer wieder mit seinem fremd anmutenden Klang den gesamten Demonstrationszug überlagert (s.u., Link: Torino corteo no green pass 18 Settembre 2021, Manifestazione completa, Min. 55:45-49).

Das Grüselhorn bezeichnet ein mittelalterliches Signalhorn aus Messing, das von Turm- und Nachtwächtern geblasen wurde. Die Bezeichnung, die der Region des Oberrheins entstammt, ist seit dem Spätmittelalter in Straßburg belegt; wurde dort abends das Horn vom Münsterturm herabgeblasen, war das eine Aufforderung an die Juden, die Stadt zu verlassen. Nach der Ermordung und Vertreibung der Straßburger Juden im Zug der Pestpogrome Mitte des 14.Jahrhunderts war jüdischen Händlern der Aufenthalt in der Stadt nur noch tagsüber gestattet. In der späteren Traditionspflege stellte das Blasen des Horns auch lange Zeit ein Zeichen zur Diskriminierung der Juden dar.

Dem Turiner dürfte das Blasen dieses Signalhorns in seiner Bedeutung bekannt sein; möglicherweise brachte er sein Exemplar – wohl eine Nachbildung –  von einer Reise mit. Sein tönendes Aufmerksam-Machen auf die neue, unheilvolle Art der Diskriminierung von Menschen, mit der er verschlüsselt, ohne Worte, doch unüberhörbar gleichermaßen eine innere Verbindung zu der jahrhundertelang ausgeschlossenen, massiv benachteiligten und verfolgten Bevölkerungsgruppe herstellt, zeugt von Kreativität und Inspiration dieses Mannes – ein Aufmerksam-Machen, das jedoch auch das Wissen um den kulturhistorischen Zusammenhang voraussetzt und unter Umständen durchaus für Sprengkraft sorgen könnte.

„Sankt Franziskus liebte die Aussätzigen“ und umarmte sie als seine BRÜDER –

das ZENTRUM der KATHOLISCHEN CHRISTENHEIT schließt die NiCHT-GEiMPFTEN aus

Auch der Titel eines Turiner Videos sprang mir ins Auge.

Es ist jenes, welches einen Ausschnitt von der Demo des 13.September zeigt – eine andere Art der „Variante Torinese“, die den kirchlichen Aspekt in die Manifestazioni mit hineinnimmt. Gegen den diktatorischen Kurs des neuen “Duce” Draghi gerichtet, verknüpft mit einem Appell an die katholische Kirche, sie an ihre Barmherzigkeit für ausnahmslos alle Menschen erinnernd, überschrieb der Blogger Domenico Bencivenga das Video mit dem dreiteiligen Titel:

“LA NOSTRA RICHIESTA D’AMORE:

SAN FRANCESCO AMAVA i LEBBROSI!

PAPA FRANCESCO AMERÀ i NON VACCINATI ???”

“Unsere Frage nach der (Nächsten-)Liebe:

Der heilige Franziskus liebte die Aussätzigen!

Wird Papst Franziskus die Nicht-Geimpften lieben???”

So die Frage aus dem Blog „Die Variante aus Turin.“ Sie trifft den Nerv!

Doch ist sie mit drei Fragezeichen versehen…, die große Zweifel des Bloggers an einer positiven Antwort ausdrücken. Entsprechend fallen die zahlreichen Kommentare aus, die kein gutes Haar am argentinischen Papst lassen. Einer der Kommentatoren spricht von einer “Schein-Demut” Papa Francescos, die nicht “einmal einen Schatten” jener von “San Francesco“, des Heiligen aus Assisi, erkennen lasse.  

Die Bekanntgabe der neuen Corona-Regeln für den Vatikan dürfte die Frage Domenico Bencivengas überflüssig machen und seine Zweifel bestätigen. Am 20.September meldete Vatican News, dass der Vatikan „den strengen Corona-Regeln in Italien nachzieht“, d.h. die 3G-Regel einführe, mit der ja auch die hinterhältigen, deutschen Politiker ihre Bürger drangsalieren. Die Regeln in Rom gelten ab dem 1.Oktober.

Vier Tage vor dem Festtag des Heiligen Franziskus von Assisi!

Die Regeln gelten unabhängig davon, ob es sich bei den Vatikanbesuchern um Touristen, Pilger oder einheimische Gläubige handelt. Demnach haben „nur noch Geimpfte, Genesene oder negativ Getestete Zutritt in den Vatikanstaat. Eine Ausnahme gilt für Gläubige, die die Messe etwa im Petersdom besuchen. Sie dürfen aber nur für die Dauer der Liturgie bleiben“ (vatican news.va, 20.September 2021). Nur für die Dauer der Liturgie! Ach, welch großzügige Geste! Auch der Besuch des Petrusgrabes, welches das sakrale Herzstück für zahlreiche Pilger verkörpert, bleibt nicht-geimpften Gläubigen versagt.

In Persona der vatikanischen Gendarmerie wird der „mehrköpfige Kerberos“ die Eingänge „bewachen“ und die 3G-Nachweise kontrollieren. Bleibt zu hoffen, dass auch dieser Kerberos durch „betörenden Gesang“ mancher Besucher oder durch „honig-süße“ Bestechung von Besucherinnen besänftigt werden kann… … Ansonsten bleibt allen Katholiken sowie allen anderen Christen nur eines: dem gesamten Vatikanstaat inclusive den dort stattfindenden Gottesdiensten fernzubleiben.

Also, liebe Christen, GEIMPFTE und NICHT- GEIMPFTE!

Bleibt dem Petersplatz, dem Petersdom, den Vatikanischen Museen FERN!

Bildet, dem Beispiel der frühen Christen folgend, eine Solidargemeinschaft!

Verkündete Simon Petrus aus Galiläa, den Jesus als seinen ersten Nachfolger berief, ihn, den Gekreuzigten und Auferstandenen nicht auch ohne PETERSDOM? Und das voller Leidenschaft!

Noch einmal ein Blick auf San Francesco: es wäre ein Akt der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, würden die geistlichen Amtsträger den “Poverelloaus Assisi ab sofort nicht mehr in Ihrem Munde führen!

ECCLESIA, QUO VADIS?

Die Nicht-Geimpften, von denen die große Mehrheit gesunde Menschen sind (wie z.B. in Baden-Württemberg, wo 0,0002/0,0003% der Bevölkerung, eine allerkleinste Minderheit, erkrankt sind/waren), scheinen wohl auch für die Kirchenleute „gefährliche Sozialschädlinge“ zu sein, wie sich der FDP-Politiker Stinner in besonders menschlich-nobler Weise auszudrücken pflegt.

Die Nicht-Geimpften gelten also fortan als Ausgestoßene im Zentrum der Christenheit!

Doch – gesund oder nicht:

die Kirche Jesu und der Apostel besteht sowohl aus gesunden, als auch aus schwachen, kranken, angeschlagenen, behinderten Menschen, die alle die gleiche Würde besitzen.

Die ersten Christen wussten darum. Und bildeten oft einen starken Gegenpol zu staatlicher Gewalt.

Die frühen Christen und die Epidemien

Andrea Riccardi, der Gründer von Sant‘Egidio in Rom, einer Gemeinschaft, die sich vor allem der Bedürftigen und Kranken annimmt, kritisierte bereits im März 2020 massiv das viele Aussetzen der Hl. Messe im Zuge der Corona-Maßnahmen (kath net, 1.März 2020). Dabei wies er unmissverständlich darauf hin, dass eine der Hauptaufgaben der Christen der Urkirche die Sorge für die Armen und die Kranken sowie das Gebet mit ihnen darstellte, gerade auch in Zeiten von Seuchen. Dass die Christen aus der Kraft des Evangeliums heraus im Dienst am Menschen lebten.

Riccardi verwies im Weiteren auf die Studien des amerikanischen Soziologen Rodney Stark, der sich dem Verhalten der frühen Christen bei Epidemien widmete und zusammenfassend feststellte, dass diese nicht wie die Heiden aus der Stadt und vor den anderen Menschen geflüchtet seien, sondern dass sie einander besuchten und sich gegenseitig unterstützten, gemeinsam beteten und die Toten begruben.

Aufgrund dieser gegenseitigen Unterstützung, dieser gemeinschaftlichen und menschlich-sozialen Verbundenheit sowie durch die geistige Kraft des Evangeliums, die sie vermittelten, sei auch die Überlebensrate der (infizierten) Kranken bei den Christen höher als die der Ungetauften gewesen. Dieses Verhalten war, so folgert Stark,

mitentscheidend für den Aufstieg des Christentums in den ersten Jahrhunderten.

Den Ausschluss von Nicht-Geimpften, ob gesund oder krank, hätten die frühen Christen, in denen die Kraft Jesu, das Vorbild der Apostel und das Wirken des Heiligen Geistes noch lebendig war, zweifelsfrei zurückgewiesen. Hier gäbe es einen gewichtigen Grund für die „Katholiken aus aller Welt“, den Papst als Nachfolger des Hl. Petrus, den Christus beauftragte, seine „Schafe zu weiden“, mit Bittbriefen zu bombardieren, anstatt der Liturgie-Re-Form wegen Aufstände zu inszenieren! Wegen einer Liturgie, die den Gläubigen weder Christus, noch die Eucharistie raubt.

Zwei Zusatz-Infos:

*Am Abend des 23.September veröffentlichte der italienische Blog FanPage eine aufschlussreiche Neu-Info der italienischen Politik: die Draghi-Regierung nahm den Entscheid zurück, Ungeimpfte von ihrem Arbeitsplatz zu suspendieren, sie sollen demnach weiterhin arbeiten dürfen – aber – so der neue Beschluss: als nicht-geimpfte Arbeitnehmer werden sie für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten.

Man darf gespannt sein, wie die Demonstranten am anstehenden Wochenende (25.September) auf diesen Entscheid reagieren werden, einen Entscheid, der an diabolischem Sarkasmus, an Menschenverachtung, aber auch an geistiger Unterbelichtung nicht mehr zu überbieten ist.

Noch eine Extra-Ankündigung:

Am letzten Samstag verkündeten die Demonstranten in Rom, die in einem großen Zug von der Piazza del Popolo zum Pantheon marschierten, für den 9.Oktober eine Großkundgebung aller Städte Italiens vor der Abgeordnetenkammer in Rom!

Liebe Italiener und Italienerinnen! Wie wäre es, wenn ihr anschließend gleich weiter zum Vatikan zieht?

(Anm. am Rande:

Kerberos war der mehrköpfige, wütende (Höllen-)Hund der griechischen Antike, der den Eingang zum Hades, der Unterwelt bewachte.

Orpheus besänftigte ihn mit seinem wunderbaren Gesang und dem Lyraspiel, um Eurydike, seine geliebte Gemahlin aus der Unterwelt herauszuführen, wohingegen die Königstochter Psyche ihn mit Honigkuchen bestach, um Zutritt zum Hades zu gelangen und ihn ebenso wieder ungehindert verlassen zu können.)

Links:

No Green Pass, il corteo di Torino: protesta davanti alla sede …

 4.9.21, youtube

LA NOSTRA RICHIESTA D‘AMORE

la variante torinese, 13.9.21, youtube

 

Torino- corteo no green pass 18 Settembre 2021 – YouTube

corteo completo

Film über San Francesco d’Assisi, italienisch

Über conservo 7863 Artikel
Conservo-Redaktion