Ampel-Koalitionsvertrag: Gewagt, aber wenig realistisch

Von Peter Helmes (siehe auch Kommentar am Schluß)

Pakt mit dem Teufel (Compendium Maleficarum, 1608)

„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“

Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP steht. Der Kohleausstieg soll auf 2030 vorgezogen werden, dafür ist ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien geplant. Steuererhöhungen soll es nicht geben. Auch auf die Verteilung der Ministerien haben sich die künftigen Koalitionspartner geeinigt (Text siehe:  Koalitionsvertrag 2021 – 2025 (spd.de))

Unter der Überschrift „Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP“ haben die Vertragsparteien auf 177 Seiten jede Menge Forderungen und Versprechungen formuliert, die in der rauen Wirklichkeit des Koalitionsalltags wohl nur in  Teilen in Erfüllung gehen werden – Sprüchblasen inklusive, wie z.B. gleich zu Anfang „Gemeinsam fühlen wir uns dem Fortschritt verpflichtet“. Ja was denn sonst! Und der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz setzt zur (eigenen?) Krönung noch einen Spruch solcher Qualität drauf:

„ES GEHT UNS NICHT UM EINE POLITIK DES KLEINSTEN GEMEINSAMEN NENNERS, SONDERN UM EINE POLITIK DER GROSSEN WIRKUNG. WIR WOLLEN MEHR FORTSCHRITT WAGEN.“

Das klingt wie die vorweggenommene Weihnachtsbescherung: „Heute Kinder wird´s was geben, heute werden wir uns freu´n. Welch ein Jubel, welch ein Leben wird in unsrem Lande sein!…“ Das Erwachen wird allerdings gewiß weniger fröhlich sein.

Was steht im Koalitionsvertrag?

Hier einige Auszüge aus dem Bericht des Deutschlandfunks *):


Klimapolitik

Der Kohleausstieg ist „idealerweise“ für das Jahr 2030 vorgesehen – acht Jahre früher als bisher geplant. Die Formulierung aus dem Sondierungspapier ist geblieben. Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, wird ein massiver Ausbau erneuerbarer Energien festgeschrieben. Es soll deutlich mehr Solarenergiequellen auf Dächern geben und die Windkraft soll ausgebaut werden. Zwei Prozent der Landflächen sollen für Windkraft ausgewiesen werden. Bis zum Jahr 2030 sollen Wind und Sonne 80 Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland decken. Gas wird als Energiequelle des Übergangs definiert – mit Strom aus Gaskraftwerken soll 2040 Schluss sein. Der nationale CO2-Preis soll nicht steigen.

Hauptstadtkorrespondentin Ann-Kathrin Büüsker: Was plant die Ampel-Koalition zum Klima?

Klimaschutz wird künftig als Querschnittsaufgabe definiert. Alle Gesetzesvorhaben sollen in den jeweiligen Ministerien auf ihre Klimaschutztauglichkeit hin überprüft werden.

Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke  hält die Zusammenlegung der Bereiche Wirtschaft und Klima zu einer Art „Transformationsministerium“ für einen radikalen Schritt. Alle klimarelevanten Ministerien, zu denen Grünen Co-Chefin Annalena Baerbock explizit auch das Außenministerium zähle, seien in grüner Hand. Mit einer Ausnahme, betont Lucke. Die FDP erhalte das Verkehrsministerium. Es sei aber die Frage, ob die Umstellung auf E-Mobilität ausreiche – oder ob die Mobilitätswende nicht umfassender gedacht werden müsse. Es brauche mehr als die Addition technokratischer Projekte und Programme.

Steuern

Anders als das Sondierungspapier aus dem Oktober enthält der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien nicht mehr die explizite Festlegung, dass es keine Steuererhöhungen geben wird. SPD und Grüne hatten im Wahlkampf gefordert, hohe Einkommen und Vermögen stärker zu belasten. Die FDP argumentiert, weniger Steuerbelastung fördere die Wirtschaft und erhöhe damit wiederum die Steuereinnahmen.

FDP und Grüne – was sie eint und was sie trennt

Finanzen und Schuldenbremse

Eine mögliche Regierung aus FDP, Grünen und SPD wird an der Schuldenbremse festhalten. Damit darf sie nicht mehr Geld ausgeben, als sie durch Steuern einnimmt. Die Haushalte von Bund und Ländern müssen ohne Kredite ausgeglichen werden. Diese Regelung soll die Staatsverschuldung begrenzen und ist im Grundgesetz verankert.

Wegen der Corona-Pandemie wurde sie vorübergehend ausgesetzt, auch für das Jahr 2022. Das ist bereits von der alten Regierung so geplant worden. Ab 2023 soll sie wieder eingehalten werden.

Dlf-Hauptstadtkorrespondent Theo Geers: „Großes Versprechen von Olaf Scholz“

Die Grünen plädierten im Wahlkampf für eine Aufweichung der Schuldenbremse, um massive Investitionen in Klimaschutz und Infrastruktur zu ermöglichen. Die FDP lehnte eine Aufweichung ab und auch SPD-Kanzlerkandidat Scholz hat sich im Wahlkampf dagegen ausgesprochen.

Dadurch stellt sich nun allerdings die Frage, wie die geplanten Investitionen – in Klimaschutz, Verkehr und Digitalisierung – bei bestehender Schuldenbremse und ohne Steuererhöhungen finanziert werden sollen. 100 Mrd. Euro neue Schulden sind veranschlagt, ob es dabei bleibe, wird die neue Regierung durchrechnen müssen, sagte Hauptstadtkorrespondent Theo Geers. Robert Habeck (Grüne) sagte anlässlich der Pressekonferenz am 24.11.2021 kurz und bündig: „Wir wissen, wie wir es bezahlen.“

Wie die Ampel-Investitionen finanziert werden können

Die Frage nach der Finanzierung sei nicht beantwortet, sagte der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte am 15. Oktober im Dlf. Dennoch sehe er Andeutungen, wie Geld einzuspielen sei. Beispielsweise bei Steuersündern und Steuermissbrauch. Dazu gehöre auch die von Olaf Scholz mitausgehandelte globale Mindeststeuer für Unternehmen. Auch die Überlegung, Subventionen zu streichen, könnte finanzielle Entlastungen bieten.

Eckpunktepapier zur Ampelkoalition – Interview mit Politologe Karl-Rudolf Korte

Norbert Walter-Borjans verwies im Dlf darauf, dass die Schuldenbremse für sich genommen deutliche Spielräume für Investitionsmittel biete. Zudem gebe es eine Reihe von Institutionen wie etwa die Förderbanken von Bund und Ländern, deren Mittel teilweise in Investitionen fließen könnten.

Die Schuldenfrage im Wahlkampf

Mindestlohn

Hier zeigt sich im Sondierungspapier ganz klar die Position von SPD und Grünen. Vor allem Kanzler in spe Olaf Scholz hatte eine Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro versprochen und als Bedingung für eine Koalition erklärt. So soll es nun auch kommen. FDP-Chef Christian Lindner hatte dagegen im Wahlkampf darauf verwiesen, dass der Mindestlohn Sache einer unabhängigen Kommission aus Arbeitgebern und Gewerkschaften sei. In diesem Punkt konnte die SPD sich durchsetzen.

Bauen und Wohnen

Das Thema Wohnen ist ein zentrales Anliegen der Ampel-Parteien. Die wahrscheinlichen Koalitionspartner haben den Bau von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr in Deutschland vereinbart. Es wird auch wieder ein Ministerium für Bauen und Wohnen geben.

Bürgergeld und Kindergrundsicherung

Anstelle von Hartz IV soll ein Bürgergeld eingeführt werden. In den ersten beiden Jahren wird es gewährt, ohne dass das Vermögen und die Angemessenheit der Wohnung überprüft werden. Das entspricht den gegenwärtigen Corona-Ausnahmeregeln.

Die Leistungen für Kinder, darunter das Kindergeld, der Kinderzuschlag und Hartz IV-Leistungen, werden in einer Kindergrundsicherung zusammengefasst. Die automatische Auszahlung soll helfen, die Kinderarmut zu verringern. Die Kinderrechte sollen zudem im Grundgesetz verankert werden.

Rente

Rentenkürzungen und eine Anhebung des Renteneintrittsalters soll es nicht geben. Die Ampel-Parteien wollen bei der Altersvorsorge in eine ergänzende Aktienrente einsteigen. Johannes Vogel, stellvertretender FDP-Vorsitzender, sagte bereits am 16. Oktober im Dlf, dass seine Partei den Kompromiss beim Mindestlohn eingegangen sei, weil sie den Einstieg in die Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente durchsetzen konnte.

Reform der Altersvorsorge – Wie können die Renten finanziert werden?

Migrationspolitik

Zum Thema Migration wurde vereinbart, Asylverfahren, die Verfahren zur Familienzusammenführung und die Rückführungen zu beschleunigen. Der Familiennachzug soll auch erleichtert werden. Zudem will die Ampel-Koalition mehr legale Zugangswege nach Deutschland schaffen.

Ausländern, die seit Jahren mit unsicherem Status in Deutschland leben, wollen die Koalitionäre eine Brücke bauen. Wer am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland lebt, nicht straffällig geworden ist und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt, soll eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit weitere Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen – insbesondere die Sicherung des Lebensunterhalts sowie der Nachweis der Identität.

Kultur

Sechs der insgesamt 177 Seiten im Koalitionsvertrag beschäftigen sich mit der Kultur. Die Kultur sei damit nicht sehr großzügig bemessen worden, sagte Dlf-Hauptstadtkorrespondentin Nadine Lindner, aber ein Punkt befasse sich mit Kultur als Staatsziel. Wörtlich heißt es im Papier: „Wir wollen die Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankern und treten ein für Barrierefreiheit, Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit.“ Dieser Passus verwundere nicht, denn alle drei Regierungsparteien hatten das in ihren Wahlprogrammen verankert.

Sicher sei jedoch seit der Vertragsvorstellung am 24.11.2021, dass es auch künftig kein Bundeskulturministerium geben werde, wie das von vielen Verbänden gefordert worden sei, sagte Nadine Lindner. Im Bundeskanzleramt werde lediglich weiterhin eine Staatsministerin oder ein Staatsminister für Kultur und Medien arbeiten.

Hauptstadtkorrespondentin Nadine Lindner zu: Kultur als Staatsziel fest verankern

Wahlalter

Das Wahlalter für Bundestags- und Europawahlen soll von 18 auf 16 Jahre gesenkt werden. Für die Europawahlen könnten die Koalitionäre diese Reform mit einfacher Mehrheit beschließen – durch eine Änderung des Europawahlgesetzes. Bei den Bundestagswahlen sieht es anders aus, weil hier eine Grundgesetzänderung notwendig wäre. Dafür braucht es die Zustimmung von zwei Drittel der Bundestagsabgeordneten. Union und AfD waren aber bislang gegen eine solche Absenkung des Wahlalters.

Legalisierung von Cannabis

Die Ampel-Parteien wollen den legalen Verkauf von Cannabis in Deutschland einführen. Cannabis soll zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften an Erwachsene verkauft werden dürfen. Nach vier Jahren soll das Gesetz auf seine gesellschaftlichen Auswirkungen hin evaluiert werden.

Ministerienverteilung

Der Großteil der Ministerposten ist noch nicht offiziell verteilt. Als gesetzt gelten aber Robert Habeck als Wirtschafts- und Klimaminister, Annalena Baerbock als Außenministerin und Christian Lindner als Finanzminister. Kernanliegen der Grünen war es, die Zuständigkeit für Klima, Wirtschaft und Energie zusammenzufassen. Das bisherige Wirtschaftsministerium wird um den Klimateil aus dem Umweltministerium erweitert und zu einer Art Transformationsministerium, das auch zuständig sein wird für das Thema Digitalisierung.

SPD

  • Kanzleramt
  • Innenministerium
  • Verteidigung
  • Gesundheit
  • Arbeit und Soziales
  • Bauen und Wohnen
  • Wirtschaftlich Zusammenarbeit

Grüne

  • Wirtschaft, Klima, Energie
  • Umwelt
  • Landwirtschaft
  • Außenministerium
  • Familie
  • Kultur

FDP

  • Finanzministerium
  • Verkehr
  • Justiz
  • Bildung

Corona

Zu Beginn der gestrigen (24.11.) Pressekonferenz in Berlin kündigte der voraussichtlich künftige Kanzler Olaf Scholz (SPD) zudem mehrere geplante Schritte im Umgang mit der Corona-Pandemie an: Ein ständiger Bund-Länder-Krisenstab im Kanzleramt soll eingerichtet werden, außerdem soll eine Expertengruppe aus Virologen, Epidemiologen, Soziologen und weiteren Wissenschaftlern gegründet werden, die eine tägliche Lagebeurteilung vornehmen soll. Eine Milliarde Euro wird für eine Bonuszahlung an Pflegekräfte für die Belastungen in der Corona-Krise bereitgestellt. Auch eine einrichtungsbezogene Impfpflicht ist geplant.

Wie geht es weiter?

Ein Koalitionsvertrag muss bei SPD und FDP jeweils durch Parteitage und bei den Grünen in einer Mitgliederbefragung gebilligt werden. Geplant ist, dass der bisherige Finanzminister Olaf Scholz in der Woche ab dem 6. Dezember im Bundestag zum Kanzler gewählt wird.

*) (Quellen: Ann-Kathrin Büüsker, Frank Capellan, Theo Geers, Nadine Lindner, Agenturmaterial, nin. SPD, Grüne und FDP – Das steht im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien (deutschlandfunk.de))

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Kommentar P.H.

Das Motto der Koalitionsvereinbarung „Mehr Fortschritt wagen“ soll wohl an Willy Brandts Leitspruch „Mehr Demokratie wagen“ erinnern. Das ist typisch sozialdemokratische Musik. Sie soll uns betören, wird uns aber eher betäuben – ein Quodlibet per tutti. Aber die Koalitionswunschträume werden uns erhebliche Bauchschmerzen verursachen. Dazu gehören z.B. Kindergrundsicherung, Wahlrecht mit 16, Bau von jährlich 400 000 Wohnungen sowie Zwölf-Euro-Mindestlohn und stabile Renten, mehr Privatinitiative, Digitalisierung,  Dekarbonisierung… usw., usw. Frau Holle schüttelt die Betten aus, und der Schnee legt sich leise übers Land. Das alles trotz Schuldenbremse zu finanzieren, erscheint äußerst gewagt.

Es ist viel von Aufbruch die Rede. Welchen Aufbruch meinen sie? Denn letztlich bleibt alles beim alten. Alle machen weitgehend das, was sie immer schon gemacht haben. Finanzen bekommen die Liberalen, die Umwelt die Grünen und die SPD macht weiter Arbeit und Soziales. Einige Farbtupfer im Programm machen den Kohl auch nicht fett.

Schlauerweise wird im Koalitionsvertrag wohl deshalb auch jede Festlegung auf Summen vermieden – deutlich zu erkennen beim Thema Klimaschutz: Davon, wieviel dort investiert werden soll, ist im Vertrag ebenso wenig die Rede wie von einem Vetorecht des Klimaministers. Da steckt buchstäblich der Teufel im Detail.

Und Olaf Scholz wird das Primat des Kanzleramtes bei weitem nicht so ausnutzen können wie seine Vorgänger; denn die Liberalen und die Grünen sind zusammen stärker als die SPD. Da liegt eher die Gefahr nahe, daß der Schwanz mit dem Hund wedeln wird. Aber das wird kaum auffallen; denn schon bei den Gesprächen zum künftigen Koalitionsvertrag fiel Scholz vor allem dadurch auf, daß er nicht auffiel. Von ihm kam NICHTS. Der kommende Kanzler blieb stumm und war kaum wahrnehmbar.

Fazit: Die Ampel steht! Aber ob sie funktioniert, steht in den Sternen.

     25.11.2021