Von Peter Helmes
Da trifft Bundeskanzler Scholz Frankreichs Präsidenten Emanuel Macron zum Antrittsbesuch in Paris. Olaf Scholz tritt zurückhaltend und vorsichtig auf; man merkt, daß er keine Inszenierung mag. Da ist er also geradezu das Gegenteil von Macron. Inhaltlich verbindet beide jedoch eine gemeinsame Meinung: Europa selbst muß das Heft des Handelns in die Hand nehmen; etwa, um sich gegen China und Russland zu behaupten, während sie zugleich nicht übersehen, daß die Bedeutung der USA innerhalb der internationalen Gemeinschaft langsam aber sicher abnimmt. In Konsequenz dessen werden Scholz und Macron nun gemeinsam eine Führungsrolle in Europa übernehmen – ob freiwillig oder dem Sachzwang geschuldet, sei dahingestellt. Das wird für die nähere Zukunft die Leitlinie der Beiden sein.
Die Außen- und Europapolitik wird zwar einen Großteil der Zeit von Scholz in Anspruch nehmen; denn Insgesamt dürften die Deutschen spüren, daß Außen- und Sicherheitspolitik künftig eine wachsende Bedeutung haben werden. Dafür sorgen Chinas Aufstieg, Russlands Unberechenbarkeit und nicht zuletzt ein auf einen stärkeren deutschen Beitrag etwa in der Nato drängendes Amerika.
Aber seine drängendste Aufgabe wird auf längere Zeit die Bekämpfung der Pandemie bleiben, das unvermeidliche und wohl wichtigste Thema auch in der Europäischen Union. Andere Themen sind in der Wertung nachrangig: Macron und Scholz versuchten, die Bedeutung von Meinungsverschiedenheiten über strittige Themen – wie z.B. den europäischen Haushalt oder die Atomenergie – herunterzuspielen.
Scholz ist Realist genug, die Gewichte der Themen zu wägen. Gerade im Umgang mit der Pandemie liegt eine der größten Hürden für den neuen Bundeskanzler. Scholz beharrte in den letzten Tagen in mehreren Interviews nach seiner Amtseinführung darauf, „die allermeisten Bürgerinnen und Bürger“ seien geimpft, ergo könne die Gesellschaft gar nicht gespalten sein. Das dürfe man sich von einer „lautstarken Minderheit“ nicht einreden lassen.
Ein gefährlicher Irrtum! Denn eine „Minderheit von rund 15 Millionen bisher ungeimpften Erwachsenen“ ist keine zu vernachlässigende Größe. Die Frage nach dem Impfen führt noch immer und deutlich zu Problemen im Umgang miteinander – zwischen Politik und Bürgern genauso wie untereinander. Die Politiker gleichwelcher Couleur wären schlecht beraten, die „Minderheitsmeinungen“ zu ignorieren. SPD, Grüne und Liberale sollten deshalb den ‚Respekt für andere Meinungen‘, den sie theoretisch bekunden, praktisch werden lassen. Wer meint, er könne sich die Mühen des Argumentierens, Zuhörens und Streitens ersparen, weil er die Macht dazu hat, der wird die Macht verlieren.
Ein weiterer Schwerpunkt der Aufgaben liegt im Bereich des von Linken so gerne titulierten „Klimawandels“.
Scholz bezeichnet den Übergang zu einer klimaneutralen Zukunft als Deutschlands größte industrielle Bewährungsprobe seit einem Jahrhundert. Dies wird auch eine politische Herausforderung sein. Der Koalitionsvertrag verpflichtet die neue Regierung zu anspruchsvollen Zielen, darunter ein Anteil von 80 Prozent erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung bis 2030. Er bleibt aber vage, wie die erforderlichen Investitionen finanziert werden sollen. Dieses Rätsel könnte zu Auseinandersetzungen zwischen Scholz‘ Regierungspartnern führen. Der Umgang mit Konflikten innerhalb der Koalition wird Scholz‘ ganze Vermittlungskünste auf die Probe stellen.
Das sind schon reichlich genug „harte Nüsse“ für den Kanzler.
Aber es bleibt eine Kernfrage: Wohin tendieren die Deutschen in der Außenpolitik? Wahlentscheidend waren auswärtige Themen beim Urnengang im September für die meisten zwar nicht. Wenigstens spielten sie im Bundestagswahlkampf kaum eine Rolle. Selbst das Afghanistan-Debakel Mitte August vermochte das nicht mehr wesentlich zu ändern.
Laut einer am Montag veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar im Auftrag der deutschen Körber-Stiftung aber hat die Niederlage des Westens und damit auch Deutschlands auch nicht zu einer isolationistischen Welle geführt. Bei der Frage nach der Bereitschaft, sich international zu engagieren, zeigt sich nach wie vor eine mehr oder weniger gespaltene Gesellschaft. Eine knappe Mehrheit von 50 Prozent spricht sich für internationale Zurückhaltung aus. Aber auch im vergangenen Jahr dachten so immerhin 49 Prozent der Deutschen.
45 Prozent der Befragten sind der Meinung, Deutschland solle sich bei internationalen Krisen stärker engagieren. Interessant ist indes, daß bei abnehmendem Alter die Bereitschaft zu stärkerem deutschem Engagement in der Welt zunimmt. Unter den 18–34-Jährigen befürworten 65 Prozent ein solches.
Keine irreversible Entfremdung
Eine Wende um 180 Grad läßt sich derweil im Verhältnis zu den USA feststellen. Bewerteten vor einem Jahr nur 18 Prozent der Befragten das Verhältnis zum ältesten Verbündeten als gut oder sehr gut, waren es jetzt 71 Prozent. Für 44 Prozent der deutschen Bürger sind die USA noch vor Frankreich (27 Prozent) wichtigster Partner. Der Wechsel vom amerikanischen Präsidenten Donald Trump hin zu Joe Biden hat zu keiner irreversiblen Entfremdung geführt.
Bemerkenswert ist gemäß der Umfrage auch der sich trübende Blick der Deutschen in Richtung China.
Deutschlands wichtigen Handelspartner – 2020 betrug das bilaterale Handelsvolumen 212 Milliarden Euro – sieht erstmals seit 2017 eine Mehrheit der Deutschen kritisch. 55 Prozent bewerten den wachsenden Einfluss der Volksrepublik als negativ. Nur neun Prozent sehen ihn als positiv an, 34 Prozent nehmen eine neutrale Haltung dazu ein.
Nur noch 19 Prozent für engeres Verhältnis zu China als zu den USA
Vor die Wahl gestellt, finden nur noch 19 Prozent der Deutschen enge Beziehungen zu China wichtiger als zu den USA. Eine deutliche Mehrheit von 67 Prozent der Befragten findet enge Beziehungen zu den USA wichtiger. China ist dabei ein entscheidender Gradmesser der künftigen transatlantischen Beziehungen.
Wie schon die Trump-Regierung wünscht sich auch die Biden-Administration einen kritischeren Blick Berlins auf China. Deutschlands China-Politik unter der deutschen Kanzlerin Angela Merkel war nach kritischen Anfängen – so empfing sie etwa 2007 zum Ärger Pekings den Dalai Lama – vor allem von wirtschaftlichen Gesichtspunkten geprägt.
Die sich damals auf ihre Amtsübernahme vorbereitende demokratische Administration war entsprechend verärgert, als Ende vergangenen Jahres ein Investitionsabkommen zwischen China und der EU verabschiedet worden war. Dabei handelte es sich zum Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft um ein Kernanliegen der scheidenden Kanzlerin.
In der Ampelkoalition steht vor allem die Kanzler-Partei SPD für Kontinuität in der bisherigen deutschen China-Politik. Die Grünen wollen einen vor allem stärker an der Einhaltung der Menschenrechte orientierten China-Kurs fahren.
Aber es kommen weitere Herausforderungen hinzu, zum Beispiel:
Die Beziehungen zur Türkei
Es gab Zeiten, da Scholz eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei unterstützt hat. Seine jüngsten Aussagen klingen anders: Unter der Herrschaft Erdoğans sei die Türkei autoritärer geworden, die demokratische Opposition würde behindert, Menschenrechte verletzt und die Demokratie geschwächt. Allerdings betont Scholz auch die Fortführung des Dialogs mit der Türkei. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der neue Bundeskanzler seine Politik auf die nächste Regierung in Ankara ausrichten. Da muß seine neue Außenministerin Baerbock von den Grünen noch hinzulernen. Sie ist beim Thema Menschenrechte zwar sehr sensibel und eindeutig in ihren Aussagen. Aber es gibt noch andere Schwerpunkte. Denn die Türkei bleibt für Deutschland wichtig und umgekehrt. Zwischen beiden Ländern gibt es enge politische und wirtschaftliche Kontakte, auf die niemand verzichten kann und auch will.
Herausforderung China
Scholz gehört klar zu einem anderen Farbspektrum als seine Amtsvorgängerin Merkel. Doch was den persönlichen Stil und die außenpolitische Einstellung betrifft, dürften die beiden nah beieinander liegen. Scholz wirkt ebenso bodenständig. Auch weiß er eine günstige Situation für sich zu nutzen. Anders als im Koalitionsvertrag formuliert, signalisierte Scholz kurz nach seiner Amtsübernahme bereits einen Wunsch zur Kooperation mit China. Die Beziehungen zu den Weltmächten sind schon immer Sache des Kanzleramts, da kann der/die Außenminister/in nur zuschauen. Und so sind den anderen Koalitionspartnern inklusive der Außenministerin in gewissem Maße die Hände gebunden, auch wenn Grüne und FDP einen viel kritischeren Kurs gegenüber China vertreten.
Und dann noch die Herausforderung Russland
Sollte der Einmarsch Russlands in die Ukraine verhindert werden können, dürfte dem Betrieb von Nord Stream 2 nichts mehr im Wege stehen. Mit Amerikas Segen wird die Gaspipeline fortan Europa spalten. Diese Konditionen kommen Olaf Scholz gelegen, dessen Koalitionspartner – Grüne und FDP – angesichts der aggressiven Haltung Russlands damit drohten, den Abschluß des Pipeline-Projekts zu erschweren. Wenn die Gefahr eines Krieges gebannt wird, löst sich auch das heikle Problem für die deutschen Koalitionsparteien.
Was gerade stattfindet, ist ein psychologisches Kräftemessen zwischen Russland und dem Westen. Die USA können weitere Sanktionen verhängen, bislang zeigt sich Putin aber eher gleichgültig. In einen Krieg um die Ukraine wird der Westen wohl auch nicht ziehen. Wie also Putin begegnen? Er betreibt seine Außenpolitik mit Einschüchterungen, Giftmorden und der Destabilisierung von Nachbarländern. Er benimmt sich wie ein Rüpel auf dem Schulhof, aber es gelingt ihm nach wie vor, die westlichen Demokratien gegeneinander auszuspielen.
Man darf gespannt sein, wie Scholz an die nationalen und internationalen Herausforderungen herangeht, ohne den einen oder anderen zu verprellen. Die Freude über das „regieren Dürfen“ wird bald einer Ernüchterung weichen.