Von Adrian Lauber
Vorbemerkung conservo: Wir veröffentlichen Artikel unterschiedlichster Meinungen. Dies heißt nicht, dass dieser Blog automatisch Pro- oder Anti-Putin wäre.
Die westliche Allianz hat richtiger Weise begriffen, dass sie ihre Verteidigungsfähigkeit schnellstmöglich wiederherstellen muss. Nicht um Krieg anzufangen, sondern um eben diesen zu verhindern. Es braucht keine feministische, sondern realistische Außenpolitik. Zum Realismus gehört die Erkenntnis, dass Stärke notwendig ist, um Aggressionen abzuschrecken. Schon Konrad Adenauer wusste das und handelte entsprechend.
Putin hat vor aller Welt demonstriert, wie weit er zu gehen bereit ist und wie wenig ihm die Souveränität eines Landes und die Leben von dessen Bürgern bedeuten, wenn er es als einen Teil seiner Einflusssphäre ansieht, über die er verfügen zu können glaubt.
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In der jüngsten Vergangenheit gab es immer wieder Äußerungen des Kreml-Herrn, die in Kombination mit der Aufrüstung der russischen Armee und seinem Überfall auf die Ukraine auch dem Rest Osteuropas Sorgen machen müssen.
2005 bezeichnete Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als ein geopolitisches Desaster.
2018 antwortete er auf einer Versammlung seiner Anhänger in Kaliningrad auf die Frage, welches Ereignis der russischen Geschichte er rückgängig machen würde, wenn er könnte: „Den Zusammenbruch der Sowjetunion.“
https://www.reuters.com/article/us-russia-election-putin-idUSKCN1GE2TF
Und noch im Dezember 2021 wehklagte er, der Kollaps der Sowjetunion sei ein Auseinanderbrechen bzw. eine Desintegration des „historischen Russland“ gewesen.
https://www.rferl.org/a/putin-historical-russia-soviet-breakup-ukraine/31606186.html
Solche Äußerungen in Kombination mit vom Kreml und ihm treuer Medien ausgehender, in Russland populärer Kriegspropaganda, der zunehmenden außenpolitischen Aggressivität sowie der Forderung Moskaus an die NATO, ihre Truppen hinter die Linien vom Mai 1997 zurückzuziehen (eine auch aufgrund der Sicherheitsinteressen der östlichen NATO-Mitglieder völlig unannehmbare Maximalforderung), werfen die Frage auf, was der Herr des Kremls eigentlich konkret vorhat? Wie weit gehen seine Machtansprüche?
https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-putin-nato-usa-ukraine-1.5490817
https://www.understandingwar.org/report/how-we-got-here-russia-kremlins-worldview
Wir können nicht seine Gedanken lesen, aber seine Worte und Taten geben Anlass dazu, die Verteidigungsfähigkeit der NATO sicherzustellen und den Kreml vor Übergriffen auf andere Länder, die früher einmal Teil des Russischen Reiches waren, aber heute ganz sicher nicht mehr dazu gehören wollen, wirksam abzuschrecken.
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Putin hat erst mit Worten, dann mit Taten gezeigt, dass er der Ukraine ihr Recht auf Eigenstaatlichkeit und Selbstbestimmung schlichtweg abspricht, weil sie einmal zum „historischen Russland“, zum zaristischen Russland und zur Sowjetunion, gehört hat. Nun will er sich mit Gewalt nehmen, von dem er glaubt, dass es ihm zusteht. Gegen das Völkerrecht und gegen den schon 1991 erklärten und heute wieder demonstrierten Willen der Ukrainer.
In seiner Rede am 21. Februar führte Putin aus, dass es ein Fehler des sowjetischen Revolutionsführers Lenin gewesen sei, die Ukraine überhaupt geschaffen zu haben und damit „historisch russisches“ Land von Russland abgetrennt zu haben.
In Putins Augen war es also ein historischer Fehler, dass die Ukraine überhaupt gegründet wurde, eine eigenständige Sowjetrepublik war und sich schließlich 1991 von der Sowjetunion abspalten und ein souveräner Staat werden konnte.
Wobei Putin völlig verkennt, dass Lenin so viel Realitätssinn hatte, zu erkennen, dass nach den Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges es nicht möglich sein würde, die zahlreichen nicht-russischen Völkerschaften des riesigen Reiches allein mit Repression zusammenzuhalten, und dass man den nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen der Völker ein Stück weit entgegen kommen musste. Natürlich nicht aus lauter Liebenswürdigkeit und nicht aus Großmut, sondern mit dem Ziel, die nicht-russischen Völker unter der Herrschaft der Sowjetunion zu halten.
Schön zu reden ist hier freilich nichts, denn die Sowjetunion war vom Anfang bis zum Ende ihres Bestehens eine Diktatur, auch unter Lenin.
Stalin herrschte mit eiserner Faust und nahm die Ukraine und alle anderen Sowjetrepubliken wieder unter starke zentrale Kontrolle, doch nach seinem Tode gestanden Chruschtschow und selbst Breschnew den Sowjetrepubliken wieder deutlich mehr Handlungsspielraum zu, ihre internen Angelegenheiten selbst zu regeln.
Die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen der nicht-russischen Völker der zerfallenden Sowjetunion wurden schließlich so stark, dass Boris Jelzin, ab 1991 Präsident Russlands, sich mit den politischen Führern der Ukraine und Weißrusslands auf die Auflösung der UdSSR einigte. Jelzin war Realist genug, um zu erkennen, dass ein gewaltsames Niederhalten der Unabhängigkeitsbestrebungen einen Kampf ohne Ende bedeuten würde.
All diese Realitäten blendet Putin völlig aus. Abgesehen davon, dass er keinerlei Respekt, keinerlei Anerkennung für den Selbstbestimmungswillen der Ukrainer hat. Dass sich in einem Referendum am 1.12.1991 92,3 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit entschieden haben und dass dieses zu akzeptieren und zu respektieren ist?
https://reitschuster.de/post/scholz-geht-den-weg-des-traumtaenzertums-weiter/
Für Putin spielt es keine Rolle. Jetzt will er der Ukraine mit Gewalt seinen Willen aufzwingen. Doch Mark N. Katz schreibt zu Recht, dass Putin sich letztendlich mit genau denselben Problemen konfrontiert sehen wird wie einst Lenin.
https://nationalinterest.org/feature/blame-it-lenin-what-putin-gets-wrong-about-ukraine-200763
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Wie wird es nun weiter gehen?
Kann die Ukraine den Krieg gegen eine solche Übermacht gewinnen? Oder würde sie in einem Partisanenkrieg ausgeblutet werden?
Es ist anzunehmen, dass die Ukraine den Krieg nicht in der seit 1991 bestehenden Form überdauern wird. Es werden sich wohl Teile des Ostens, Donezk und Lugansk, endgültig abspalten. (Das war im Abkommen von Minsk ja eigentlich schon vereinbart, aber Moskau hat dieses Abkommen unterlaufen und schließlich durch seine Aggression buchstäblich auf den Müll geworfen.) Man mag die Legitimität dieses Vorgangs bestreiten, man mag ihn als völkerrechtswidrig einstufen, das mag auch alles stimmen, aber es ist so, dass Moskau gemeinsam mit den Separatisten dort bereits Fakten geschaffen hat, die sich jetzt nur noch gewaltsam würden ändern lassen.
Aber die enorme Entschlossenheit und Kraft, mit der die Ukrainer, auch sehr viele russischsprachige Ukrainer, ihr Land gemeinsam gegen die Invasion verteidigen, zeigt, dass das Land doch einen sehr viel stärkeren Zusammenhalt hat, als viele geglaubt haben. Putin könnte – auch wenn er das sicher nicht beabsichtigt hat – für Einigkeit und Einigung der ukrainischen Nation mehr getan haben als die meisten ukrainischen Politiker.
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Doch selbst die große Entschlossenheit der Ukrainer ändert nichts an den harten außenpolitischen Realitäten. Und zu diesen Realitäten gehört ein geopolitischer Machtkampf, der voller Augen ausgetragen wird.
Es war absehbar, dass Putin eine Wendung der Ukraine nach Westen schon aus seinem geostrategischen Kalkül heraus nicht hinnehmen würde, wobei der russische Staatschef am Anfang, als er noch glaubte, den Krieg schnell siegreich beenden zu können, zu erkennen gegeben hat, dass er noch viel weiter geht, dass er den Ukrainern ein Recht auf Selbstbestimmung überhaupt nicht zuerkennt, dass die Existenz des Staates Ukraine als solche in seinen Augen ein Fehler ist.
Wenn Putin so verfahren könnte, wie es ihm beliebt, wenn die Ukrainer ihm nicht einen solchen Widerstand entgegen setzen würden, wäre die Ukraine ein Teil Russlands, des Russischen Imperiums, das hat der Herr des Kremls sehr deutlich zu verstehen gegeben.
Die Kreml-treue Zeitung „Iswestija“ verkündete am 4. März als ein Kriegsziel die „Entstaatlichung“ der Ukraine.
https://reitschuster.de/post/sonderoperation-zur-entstaatlichung-der-ukraine/
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Falls Putin allen Ernstes vorhätte, sich in einen womöglich lange dauernden blutigen Partisanenkrieg zu verstricken, könnte im schlimmsten Fall ein schwer ausgeblutetes Land übrig bleiben, das dann in die komplette Entmilitarisierung und Abhängigkeit gezwungen wird.
Sofern es den Ukrainern nicht gelingen sollte, die Invasoren abzuwehren oder zumindest einzudämmen.
Sollte Putin einen Abnutzungskrieg führen wollen und diesen gewinnen, wäre es zwar kurzfristig für ihn ein Sieg, aber möglicher Weise werden die innenpolitischen Konsequenzen eines im Grunde perspektivlosen, sinnlosen, Menschenleben vernichtenden und Ressourcen verschlingenden Krieges, der im Inneren Russlands offensichtlich nicht annähernd so populär ist wie 2014 die Annexion der Krim, für ihn fatal.
Das umso mehr, wenn er den Krieg am Ende verlieren sollte.
In 53 Städten Russlands kam es nach Beginn der Invasion zu Demonstrationen gegen den Krieg, die Regierung ging gewaltsam gegen die Demonstranten vor und ließ mindestens 1.700 von ihnen verhaften.
Viele Russen verstehen nicht, was dieser Krieg soll. Sie wollen ihn nicht. Sie haben genug andere Probleme im eigenen Land.
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Wäre jetzt noch eine Verhandlungslösung möglich, die beispielsweise zu einem neutralen Status der Ukraine führen würde? Es schien zunächst sehr unwahrscheinlich, denn die Ukrainer denken gar nicht daran, zu kapitulieren, und Putin wiederum beharrte anfänglich auf Maximalforderungen, die die zur Selbstverteidigung entschlossenen Ukrainer unmöglich annehmen konnten.
Es stellte sich am Anfang außerdem die ernsthafte Frage, ob Wladimir Putin, selbst wenn er wollte, jetzt überhaupt noch zurück könnte oder ob sowohl die politischen Verhältnisse in Russland als auch seine Persönlichkeitsstruktur für ihn jetzt nur noch einen Weg offen lassen: bis zum Sieg oder bis zur Niederlage den Krieg weiter zu führen?
Sich jetzt nach dem Scheitern seiner Blitzoffensive plötzlich zurückziehen und zu Hause erklären zu müssen, dass alles ein Irrtum war, dass die vorgetragenen Begründungen für den Krieg nicht stimmten, dass man die militärische Stärke des Gegners falsch eingeschätzt hätte, wäre für ihn unmöglich ohne totalen Gesichtsverlust im eigenen Land, der möglicher Weise sogar seinen Sturz bedeuten könnte.
Putin scheint mir ein Mann zu sein, der, als er den Krieg begann, auf einen absoluten Sieg zielte, eine blitzartige Eroberung der Ukraine mit dem Ziel vollständiger Entmilitarisierung, was zur Folge hätte, dass Russland praktisch jederzeit widerstandslos wieder einmarschieren könnte, sobald die Ukraine sich politisch nicht wohlgefällig verhält. Wahrscheinlich verfolgte er als ein weiteres Ziel einen Sturz Wolodymyr Zelenskys und seine Ersetzung durch eine pro-russische Marionette, möglicher Weise auch mit dauerhafter Besetzung des Landes.
Zunächst sah es so aus, dass Putin von seinen Maximalzielen keinen Millimeter abweichen würde, was eine Verhandlungslösung aussichtslos erscheinen ließ.
Nun ist bemerkenswert, dass aus dem Kreml inzwischen deutlich andere Töne zu hören sind. Auch dort kann man sich der Realität offenbar nicht mehr verschließen, dass man sich auf ein aussichtsloses Unterfangen eingelassen hat, aus dem man nun einigermaßen gesichtswahrend wieder herauskommen will.
Putins Sprecher Dimitri Peskow gab in diesen Tagen einen neuen Katalog von Forderungen an die Ukraine bekannt, wobei zwei entscheidende der bisherigen Forderungen nicht mehr vorkamen. Von einer so genannten „Entnazifizierung“ der Ukraine, wie ein Sturz der Regierung in der russischen Kriegspropaganda heißt, ist dort nicht mehr die Rede, auch nicht mehr von einer „Entmilitarisierung“.
Stattdessen verlangt der Kreml nun mehr die Anerkennung der von den Separatisten im Osten ausgerufenen „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk, die Anerkennung der Krim als Bestandteil Russlands sowie eine Ergänzung der ukrainischen Verfassung, in der eine militärische Neutralität des Staates festgeschrieben wird. (Möglicher Weise nach dem Vorbild bewaffneter Neutralität Österreichs.)
Da die Separatistengebiete ohnehin verloren waren (und ich davon ausgehe, dass Wolodymyr Zelensky sich darüber im Klaren ist), würde sich die Lage der Ukraine damit nicht wesentlich verschlechtern, sofern Moskau es damit ehrlich meinen und nicht plötzlich noch ganz andere Begehrlichkeiten anmelden sollte.
Am Anfang jedenfalls sah es am Anfang viel düsterer aus. Eine Zerschlagung der Ukraine oder eine dauerhafte Besetzung des Landes schienen nicht unrealistisch. Aber es zeigten sich sehr rasch der enorme Widerstandswille und der Kampfesmut der Ukrainer, mit denen in dieser Massivität wohl kaum jemand gerechnet hatte.
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Mir wäre es am liebsten, die Ukraine könnte absolut frei entscheiden, was sie will. Die Bilder aus der Ukraine gehen mir so nahe wie vermutlich den allermeisten, die sie sehen. Ich bewundere die Tapferkeit und den Kampfesmut dieser Menschen. Ich wünschte, diese Leute, die für ihre Selbstbestimmung kämpfen, hätten auch die Möglichkeit, absolut frei – ohne jegliche Einmischung, auch ohne russische Einmischung – zu entscheiden, was sie für sich und ihr Land wollen.
Aber ich muss unterscheiden zwischen dem, was mir persönlich wünschenswert erscheint, und dem, was real ist.
Leider ist die Welt der Realpolitik oft grausam und ungerecht und immer wieder sind kleinere Länder Spielball der Interessen der größeren und mächtigeren.
Nach Lage der Dinge ist es leider davon auszugehen, dass die Ukraine in ihren Entscheidungen nicht frei sein wird.
Putin hat noch nicht all seine militärischen Kräfte mobilisiert. Wir wissen nicht mit Sicherheit, wie viele Schläge die Ukrainer werden abwehren können.
Ein über sechzig Kilometer langer russischer Militärkonvoi wurde in Richtung Kiew in Bewegung gesetzt. Es scheint so, dass nach dem Scheitern einer blitzartigen Eroberung als nächstes versucht wird, die ukrainische Hauptstadt einzukesseln und sie durch Zermürbung sturmreif zu schießen. Auch die zweitgrößte Stadt des Landes, Charkiw, wird massiv unter Beschuss genommen.
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Es muss in diesem Konflikt noch etwas sehr Grundsätzliches klargestellt werden. Nämlich, dass Polen, die baltischen und andere osteuropäische Staaten nicht in die NATO gezwungen wurden, sondern freiwillig weg wollten aus der russischen Einflusssphäre nach jahrzehntelanger Erfahrung mit sowjetischer Diktatur. Zumal nationalistische Politiker und Militärs in Russland immer wieder damit kokettiert haben, dass man die verlorenen Länder, die einmal zum Russischen Reich bzw. zur Sowjetunion gehörten, eines Tages wieder zurückerobern könnte. (Dass Russland mehrfach Bereitschaft zeigte, die Rohstoffabhängigkeit seiner Nachbarn wie etwa der Ukraine oder Georgiens für Erpressungen und Durchsetzung seiner Machtinteressen auszunutzen, wirkte auch keineswegs vertrauensbildend.)
Im Rahmen der NATO-Russland-Grundakte gab Russland im Mai 1997 einer Osterweiterung sein Einverständnis – im Gegenzug für umfangreiche wirtschaftliche Hilfen und die Aufnahme in den Kreis der G7- bzw. seitdem G8-Staaten.
Es ist nicht der Fehler des Westens, dass Freiheit für sehr viele Menschen nun einmal deutlich attraktiver ist als eine sowjetische Diktatur bzw. eine autokratische Oligarchie, welche Russland heute unter Putins Führung ist. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist Russland nicht zuletzt aufgrund der endemischen Korruption, der Beamtenwillkür und der daraus resultierenden erheblichen Rechtsunsicherheit für viele Menschen ganz einfach unattraktiv. Das russische BIP mit seinen 1,48 Billionen Dollar wirkt geradezu zwergenhaft neben den BIP der anderen Großmächte USA (20,94 Billionen Dollar) und China (14,72 Billionen Dollar). Selbst das BIP Deutschlands ist doppelt so hoch wie das russische. (3,84 Billionen Dollar).
https://reitschuster.de/post/versprechungen-zur-nicht-erweiterung-der-nato-nach-osten/
https://reitschuster.de/post/unsere-schwaeche-und-unser-wegsehen-haben-putin-ermutigt/
https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/russland-stimmt-1997-nato-osterweiterung-zu-100.html
https://www.achgut.com/artikel/ein_verlorener_sieg
Die NATO muss stark genug sein, ihre östlichen Mitglieder zu sichern. Sie muss verteidigungsfähig sein und Moskau klar aufzeigen, wo die rote Linie ist, die nicht überschritten werden darf.
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Ein normales Verhältnis des Westens zu Russland wird es auf längere Sicht wohl nicht geben können. Dafür ist zu viel Vertrauen buchstäblich zerschossen, zerbombt und überrollt worden. Selbst Leute, die trotz der autokratischen Verhältnisse in Russland bisher Verständnis für manche außenpolitische Handlung Putins geäußert haben, wenden sich nun reihenweise von ihm ab. Völlig zu Recht.
Ich selbst muss sagen: mea maxima culpa, ich habe die Lage zu lange nicht richtig eingeschätzt. Ich habe den Kreml-Herrn für rationaler gehalten, als er ist. Aber inzwischen gibt es neben dem rationalen Machtkalkül offenbar auch ein irrationales Moment in seinem Denken, vielleicht das Ergebnis einer so langen Zeit an der Spitze eines autokratischen Systems.
Es sieht so aus, als ob er inzwischen von seiner eigenen Macht berauscht ist, sich und Russland überschätzt, geglaubt hat, dass ihm keiner etwas kann (und dabei nun in Kauf nimmt, wie Russland und seiner Ökonomie enormer Schaden zugefügt wird) und zudem noch angefangen hat, die eigene Propaganda zu glauben. Es scheint so, als hätte er all das selbst geglaubt, womit er den Überfall auf die Ukraine begründet hat, und dass binnen kürzester Zeit Kiew in seiner Hand sein würde und dass das Volk in der Ukraine seine Armee als Befreier begrüßen würde.
Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti – die garantiert nichts publiziert, was nicht den Segen von ganz oben hat – veröffentlichte schon am 26. Februar eine verfrühte Siegesmeldung, die dann schleunigst wieder gelöscht wurde, als sich sehr schnell herausstellte, dass der Krieg völlig anders verlief. Doch die pakistanische Zeitung Frontier Post hat diese Meldung mittels Screenshot gesichert.
Die „nationale Demütigung“ durch Verlust der Ukraine im Dezember 1991, die „furchtbare Katastrophe und unnatürliche Zerrissenheit“, sei überwunden. Putin habe „ohne einen Tropfen Übertreibung eine große historische Verantwortung übernommen, um die Lösung der ukrainischen Frage nicht künftigen Generationen aufzuhalsen“. Nun werde die Ukraine „reorganisiert, wiederhergestellt und in ihren natürlichen Zustand als Teil der russischen Welt zurückgeführt“.
Eine Meldung aus einem Paralleluniversum, das sich der Kreml und die ihm zuarbeitenden staatlich kontrollierten Medien selbst geschaffen haben …
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Der Westen wird sich jetzt neu einrichten müssen durch anderweitige Sicherung seiner Energieversorgung und durch Wiederaufbau seiner Verteidigungskapazitäten.
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick sagt dazu: „Wir werden jetzt eine Eiszeit erleben, die Monate dauern wird. Es bleibt zu hoffen, dass es bald wieder Bedarf geben wird, mit Russland Verhandlungen zu führen, zum Beispiel über Rüstungskontrolle oder unbeabsichtigte Eskalationen. Auch im Kalten Krieg hatten wir Kontakte mit der Sowjetunion pflegen müssen, obwohl uns dies nicht gefiel. Ein kompletter Abbruch der Beziehungen auf allen Ebenen hilft uns schließlich nicht weiter. Das ist keine Lösung. Russland ist eine Atommacht und das ist ein ernst zu nehmendes Eskalationsszenario. Wenn Putin mit seiner Strategie keinen Erfolg hat, wird es zu anderen Maßnahmen greifen und der letzte Schritt wäre ein Nuklearkrieg. Wir müssen also diesen Krieg zu Ende denken und dürfen nicht in eine Dauereskalation mit Russland kommen.“
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Eine gewisse Hoffnung liegt vielleicht darin, dass Putins Angriffskrieg im eigenen Land inzwischen auf erheblichen Widerstand stößt.
Der Krieg verläuft so ganz anders, als er sich vorgestellt hat, er verschlingt mehr und mehr Leben und Ressourcen, ohne zu einem Sieg zu führen. Die russischen Soldaten in der Ukraine werden keineswegs als Befreier begrüßt, sondern als Invasoren bekämpft.
Auf russischer Seite fallen zur Zeit 1.300 Mann täglich, solche Verluste hatte zuletzt Breschnew im Afghanistan-Krieg (1979-1989) zu verzeichnen. Junge Männer, die sinnlos verheizt werden. Wenn es so weitergeht, wird Putins Regierung es immer schwerer haben, sich vor dem eigenen Volk zu rechtfertigen.
Zudem sehen viele Russen gerade aufgrund der gemeinsamen Geschichte, gerade aufgrund der Tatsache, dass Russland seine Anfänge auf das mittelalterliche Reich der Kiewer Rus zurückführt, die Ukrainer sozusagen als ein Brudervolk. Nun verlangt man von ihnen, gegen dieses Volk einen Krieg zu führen. Die Soldaten vor Ort sehen mit eigenen Augen, dass sie gegen einfache Leute kämpfen, dass das, was ihnen ihre Regierung erzählt hat, die Unwahrheit ist.
Es besteht die Möglichkeit, dass die Moral der Truppe nicht nur erschüttert werden, sondern früher oder später zusammenbrechen wird – besonders dann, wenn Russland sich in einen lang andauernden Krieg verstrickt, womöglich eine dauerhafte militärische Besetzung der Ukraine, gegen die die offensichtlich zur Selbstverteidigung fest entschlossenen Ukrainer einen Partisanenkampf führen würden.
Auch die Nachrichten darüber, wie Russland isoliert wird und seine auch vor dem Krieg angeschlagene Wirtschaft noch weiter den Bach runter geht, werden früher oder später die Soldaten erreichen bzw. der ökonomische Abstieg wird auch sie, die sie ohnehin schlecht ausgerüstet und schlecht versorgt sind, ganz persönlich treffen und noch mehr Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns wecken.
Schon jetzt gibt es Berichte, denen zufolge Einheiten der russischen Armee sich ergeben oder sogar ihre eigenen Militärfahrzeuge sabotiert haben sollen, um den Kampf gegen die Ukrainer zu vermeiden.
Vielleicht spielen all diese Faktoren auch eine Rolle dabei, dass Putin, nachdem er zunächst auf seinen Maximalforderungen beharrte, nun scheinbar doch nach einer Möglichkeit sucht, diesen Krieg vorzeitig zu beenden.
Aber selbst wenn Putin den Krieg zu Ende führen, Kiew erobern und die Ukraine dauerhaft besetzen würde, würde er letztendlich der Verlierer sein. Nicht nur, weil der Krieg viel mehr Leben gekostet, viel mehr Geld und Ressourcen verschlungen hat, als der Herr des Kremls geglaubt hat. Nicht nur, weil er weite Teile der Welt gegen sich aufgebracht hat, nicht nur weil er Russland isoliert und in den wirtschaftlichen Ruin führt, nicht nur weil er die eigene Reputation in einem großen Teil des Auslands endgültig ruiniert, sondern auch weil er sich mit einer Besetzung der Ukraine und einem Dauerkampf gegen ukrainische Partisanen und Guerillas nur noch mehr Probleme einhandeln würde, was sowohl die Moral der Truppe als auch die öffentliche Meinung in Russland über diesen Krieg und über die Person Putin mitprägen würde.
Was dazu führen dürfte, dass die Regierung Putins und seiner Clique spürbar geschwächt werden wird, zumal viele Menschen in Russland auch vor Kriegsausbruch unzufrieden waren, weil es Putin nicht in ausreichendem Maße gelungen ist, die Wirtschaft zu modernisieren. Es fehlt an Zukunftsperspektiven, es fehlt an Wohlstand, viele Menschen sind arm, Kriminalität und Korruption grassieren und nationalistisches Auftrumpfen nach innen und außen kann eben nur zeitweise, aber nicht auf Dauer über diese drückenden Probleme des Alltags hinweg täuschen, die nur noch schlimmer werden, jetzt wo Putin mit seiner Aggression sein Land isoliert und dem Druck der Sanktionen aussetzt.
Es besteht die Möglichkeit, dass Putin, nach zwanzig Jahren an der Spitze eines autokratischen Systems berauscht von seiner eigenen Macht, sich seiner Sache zu sicher war und nun den entscheidenden Schritt zu weit gegangen ist, der in der Politik so oft so schwer zu berechnen ist. Vielleicht markiert dieser Schritt für ihn den Anfang vom Ende.
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Natürlich wird sich nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen etwas Grundsätzliches ändern. Aber die Zeit arbeitet gegen Putin und seine Oligarchie.
Oder mit den Worten von Johannes Varwick: „Die Demokratie ist das überlegende Modell. Das Einzige, wo Russland stark ist, ist das Militär. Aber das russische Staatsmodell hat keine Anziehungskraft – niemand findet das sexy. Putin wird nicht gewinnen, aber wir brauchen einen langen Atem. Russland wird in den nächsten Monaten immer ärmer, ist politisch und wirtschaftlich isoliert und wird sich innenpolitisch radikalisieren. Eines fernen Tages wird es in Russland Menschen geben, die all das infrage stellen und die Politik ändern. In 50 Jahren könnte es eine Demokratie in Russland geben. Aber unter Putin wird sich erst einmal gar nichts ändern.“
www.conservo.blog 14.03.2022