Gegen Putin hilft nur ein Machtwechsel – und zwar bald!

Der russische Präsident Wladimir Putin, sein Tisch und Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Mikhail Klimentyev)

(www.conservo.blog)

Von Peter Helmes

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Lage am 6. April 2022, 15:00 Uhr. Bild: understandingwar.org

„Um Gottes Willen,
dieser Mann kann nicht
an der Macht bleiben.“ 
(US-Präsident Joe Biden)

Vor wenigen Tagen sorgte US-Präsident Joe Biden in einer Rede in Warschau für Aufsehen, als er sich klar zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine und zu Präsident Wladimir Putin äußerte:

„Ein Diktator, der darauf aus ist, ein Imperium wieder aufzubauen, wird niemals die Liebe eines Volkes zur Freiheit auslöschen. Brutalität wird den Willen, frei zu sein, niemals zermalmen. Die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein, denn freie Menschen weigern sich, in einer Welt der Hoffnungslosigkeit und Dunkelheit zu leben.“

Und dann sagte er den Satz, der um die Welt ging:

„Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“

Kommentatoren werteten diesen letzten Satz Bidens als Aufforderung, Russlands Präsidenten zu stürzen. Die russische Führung sprach von einem Aufruf zum Regime-Change. Vjatscheslav Volodin, Sprecher der Staatsduma, nannte die Äußerung „hysterisch“, sie sei ein Ausdruck der Machtlosigkeit, der US-Präsident sei „krank“.

Biden aber hat seine Aussage noch einmal bekräftigt. Und tatsächlich berührt er Fragen, die viele Menschen bewegen: Wie kann man Wladimir Putin davon abhalten, die Ukraine weiter zu zerstören und Tausende Menschen töten zu lassen? Und wie kann man sein Regime stoppen, das im eigenen Land jeden Widerspruch im Keim erstickt?

Die Bilder, die aus dem rückeroberten Butscha kamen, eröffnen eine neue Dimension des Krieges. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, daß Russland in der Ukraine einen Vernichtungsfeldzug führt, wurde er hiermit erbracht. Hier wurden Zivilisten hingerichtet. Es gibt Momente, die alles verändern. Nach denen man nicht mehr argumentieren kann wie vorher. Die Gräuel, die sich in Butscha zugetragen haben, sind so ein Moment.

Es ist traurig, daß der übrigen Welt nicht mehr viele juristische Mechanismen bleiben, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Das müßten die Russen dann selbst unternehmen, und so unwahrscheinlich das im Augenblick auch erscheinen mag: Die russische Geschichte hat schon für allerhand Überraschungen gesorgt.

Putin zerstört innerhalb Russlands jede aufkommende Demokratiebewegung, er haßt Freiheitsdrang, weil er als altgedienter Kommunist sehr wohl weiß, daß Freiheit Opium für das Volk ist. Er (Putin) hat diese Erkenntnis nur geschickt verborgen und durch joviales Auftreten zu übertünchen versucht.

Aber zur bitteren Wahrheit gehört: Die Freiheit in Russland wurde seit der Präsidentschaft von Wladimir Putin immer weiter eingeschränkt. Zugleich wird seine Geschichte propagandistisch umgeschrieben: Stalin, Krieg, Patriotismus – die Jugend differenziert nicht mehr, und die Geschichte des Terrors wird erneut verdrängt; die Sowjetzeit wird allgemein sehr positiv gesehen.

Eine freie Meinungsäußerung im Land ist kaum mehr möglich, immer mehr NGOs wurden als extremistisch erklärt und unabhängige Medien und Verlage verboten. Russland tötet damit den freien Journalismus – zu besichtigen z.B. an der Moskauer Zeitung „Nowaja Gaseta“, die aus Sorge vor Repressionen bis Kriegsende ihre Veröffentlichung eingestellt hat. Dies ist der Moment, in dem eine Generation unabhängiger Journalisten zu Grabe getragen wird. Die Nowaja Gaseta zeichnete sich durch knallharte Recherchen aus, die unter anderem Geldwäsche aufdeckte. Sechs Reporter der Zeitung wurden im Laufe der Jahre ermordet. Nun sieht es aus, daß Russland sich vom Autoritarismus zum Totalitarismus bewegt, wo der Staat keine unabhängigen Medien mehr duldet (siehe mein Bericht Das Ende der Freiheit russischer Medien – Conservo).

Aggressiver Patriotismus

Seit der Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine beschwört ein aggressiver Patriotismus antiliberale Feindbilder. Russland ist zu einer Diktatur erstarrt. Die Haftstrafe gegen Kreml-Kritiker wie Alexej Nawalny und die Polizei-Einsätze gegen Demonstrationen sind nur die Spitze des Eisbergs: Kritische Bürger haben in Russland immer weniger Freiräume. Schwerwiegende politische Entscheidungen werden ausschließlich von einem sehr engen Kreis von Menschen, von Putin selbst und einigen Leuten um ihn herum, getroffen.

Man kann sie wahrscheinlich an einer Hand abzählen, und alle gehören sie zu Silowiki, wie man das in Russland nennt. Putin herrscht und umgibt sich nur mit Menschen, die eigentlich in den Sicherheitsstrukturen tätig sind, also Staatsanwaltschaft, Untersuchungskomitee, dann verschiedene Strukturen wie die russische Garde und sonstige geschaffene zusätzliche Truppen oder Kräfte, die eigentlich nur dazu da sind, das Regime vor möglichen oder in den Köpfen von diesen Menschen entstehenden Gefahren zu schützen.

Dieser kleine Kreis regiert ungebremst – und schon gar nicht demokratisch legitimiert – mit  Repressalien, es gibt immer mehr politische Häftlinge, Abschreckungsmechanismen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Urteile. Man zerschlägt alle Strukturen oppositioneller Kritiker bzw. Organisationen, und dazu hat man natürlich eine ganze Skala von verschiedenen Gesetzen, die nur das eine Ziel verfolgen: Alles soll kontrolliert werden, keine Opposition soll zugelassen werden. (siehe auch: Russische Menschenrechtlerin Scherbakowa – “Wir leben in einer Diktatur” | deutschlandfunk.de )

Es läßt sich aufgrund der gelebten Unfreiheit nicht feststellen, wie hoch die Zustimmung für Putin und sein Regime in der Bevölkerung ist. Vermutlich noch immer hoch, da sich kaum jemand mehr traut, Widerspruch kundzutun.

Das Regime von Wladimir Putin wirkt derzeit in der Innensicht recht stabil. Allerdings sind viele derjenigen, die in der Zeit von Wladimir Putin aufgestiegen sind, mittlerweile sehr unzufrieden mit dem Präsidenten. Was er in den letzten Jahren und besonders in den letzten Wochen und Monaten getan hat, gefährdet die Existenz dieser Elite, ihre Lebensbedingungen, ihre Verbindungen zum Westen, ihre finanzielle Solidität, alles. Diesen Leuten geht es nicht um einen Regimewechsel. Es geht ihnen darum, Putin loszuwerden.

Unternehmer und Beamte, die Putin wohlgesonnen sind, haben es in den mehr als 20 Jahren seiner Herrschaft zu großem Reichtum gebracht. Oft haben sie ihren Besitz auf Kosten der öffentlichen Haushalte, auf Kosten der russischen Staatsbürger angehäuft. Das „Erworbene“ wollen sie behalten und verteidigen – mit oder ohne Putin.

Viele halten es für möglich, daß sich die Wirtschaftseliten gegen Putin wenden. Denn der erscheint Ihnen zunehmend nicht mehr als Garant für ein gutes Leben.

Man braucht eine Kombination aus dieser Unzufriedenheit in den Eliten und  Massenprotesten in der breiten Bevölkerung. Dieser brutale und sinnlose Krieg, den Putin vor mehr als einem Monat begonnen hat, beschleunigt die Zeit, in der dies geschehen wird; denn die Leute in der Elite sind schockiert. Sie haben gesehen, daß ihr Lebensstil auf den Kopf gestellt und ihr Vermögen dezimiert wurde. Dazu die Reisebeschränkungen usw.

Daß es Erosionen im Umfeld Putins gibt, ist unverkennbar. Anatolij Tschubajs, Berater Putins für nachhaltige Entwicklung und eine Schlüsselfigur des wirtschaftsliberalen Lagers, hat in der vergangenen Woche seinen Posten niedergelegt und Russland verlassen. Doch bisher beschränkt sich das auf die Wirtschaftseliten. Die Vertreter der sogenannten Machtblöcke, Geheimdienst und Militär, scheinen weiterhin fest zu Putin zu stehen.

In Deutschland sieht das – bezüglich Rußland – anders aus:

In Politik, Medien, aber auch in der Wissenschaft läßt sich beobachten, daß es eine Spaltung gibt in ein Putin-freundliches und ein eher Putin-kritischeres Lager. Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Man kann sie „Produkt der Propaganda“ nennen – auf beiden Seiten. Jede Seite rührt die Trommel für ihre Überzeugung und arbeitet mit den raffiniertesten Mitteln moderner Medientechnik (Cyber-Technik, Fakenews etc.).

Wie effektiv die russische Propaganda arbeitet, sieht man an der sofortigen Schuldzuweisung im Krieg an die Gegner (z.B. Schauspieler als Leichen usw.). Das ist Propaganda, und viele erliegen, ohne das zu merken, dieser Propaganda. Das ist systematische Technik des Kremls, die Gehirne so zu behämmern.

An Putin selbst scheint das noch abzuperlen. Aber die Tische sind immer länger geworden, an denen er andere Staatschefs empfängt und die eigenen Minister.

Der russische Präsident Wladimir Putin, sein Tisch und Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Mikhail Klimentyev)

So hat Putin kürzlich mehr als tausend Beamte aus seinem Umfeld und aus den Behörden gefeuert. Er tauscht auch sein Wachpersonal regelmäßig aus. Irgendwann wird es möglicherweise die Chance geben, daß er mal einen Fehler macht.

Die russische Wirtschaftselite mit einem Versprechen ködern

Manche Oligarchen kooperieren mit Putin – noch. Gegen viele von ihnen haben die westlichen Staaten Sanktionen verhängt. Diese Leute haben kein Gewissen, sie sind  ausschließlich an Geld interessiert – und genau deshalb gibt es nun eine Chance, sie gegen Putin in Stellung zu bringen. Man könnte diese russischen Wirtschaftseliten mit einem Versprechen ködern: Nämlich, Sanktionen aufzuheben, sobald Wladimir Putin dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag überstellt werde. Zunächst einmal sollte man Putin die Legitimität entziehen, indem man sagt, daß er ein Kriegsverbrecher ist. Man sollte ein Tribunal einrichten, Beweise sammeln, sie international vorlegen, und Putin, Verteidigungsminister Schoigu oder den Chef der Streitkräfte, Gerassimow, und vielleicht einige Generäle anklagen, aber nicht die Mehrheit der russischen Elite.

Zurzeit sanktioniert der Westen alle, und das schweißt sie noch fester zusammen. Um Putin zu entmachten, sollte der Westen fordern, daß nur ein kleiner Kreis von Personen nach Den Haag ausgeliefert wird. Die Sanktionen können dann am Tag nach deren Ankunft aufgehoben werden.

Es geht nur darum, Putin abzusetzen

Wohlgemerkt, es geht nicht darum, jetzt Russland zu demokratisieren. Russland soll nicht Teil der NATO werden. Das System der Föderation soll nicht demontiert werden. Es geht nicht darum, das Land zu verändern. Es geht jetzt einzig darum, Putin abzusetzen. Wenn er dann nach Den Haag geschickt wird, kann die russische Elite tun, was sie früher getan hat. 99 Prozent der russischen Elite sind zumindest nicht nationalistisch, nicht imperialistisch, sondern nur an Kommerz orientiert. Sie wollen einfach nur so viel Geld wie möglich aus dem Land herausholen, das Land wie ihr Privateigentum behandeln und ein wunderbares und wohlhabendes Leben genießen.

Dem durchschnittlichen Russen sind die eigenen wirtschaftlichen Kosten vielleicht noch nicht bewußt, aber er sieht, wie die ausländischen Marken Russland verlassen. Die Preise steigen ziemlich schnell, und es wird wohl in den nächsten Monaten Hunderttausende von Arbeitslosen geben wird. All das bereitet den Boden für einen Wechsel.

Aber wir dürfen uns auch nichts vormachen. Putin ist rechtmäßig an die Macht gekommen. Und dann erst hat er allmählich, ganz allmählich, mit sehr kleinen, kalkulierten Schritten seine Macht gefestigt. Und sehr bald gab es keine wirkliche Opposition mehr, keine wirklich freien Massenmedien, und es gab keine Möglichkeit mehr, irgendwelche zivilen Massenbewegungen zu schaffen. Das läßt sobald keinen Aufstand der Bevölkerung erwarten. Zumal es nahezu keine unabhängige Berichterstattung über den Krieg mehr im Land gibt.

Die wichtigste Aufgabe besteht darin, den Menschen die Augen für das zu öffnen, was gerade passiert; ihnen zu helfen, diese schrecklichen Kriegsverbrechen zu sehen, die das Putin-Regime begeht.

Die einzigen Menschen, die die politische Situation im Land ändern können, sind die Russen in Russland. Daran führt kein Weg vorbei. Das können und sollten äußere Kräfte auch nicht machen. Das war schon immer so, nicht nur in Russland, sondern auch in vielen anderen postkommunistischen Ländern. Veränderung geschieht dann, wenn es eine kritische Masse von Menschen gibt, sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der Eliten, die erkennen, daß es so nicht weitergehen kann.

So stabil, solide und stark das System Putin heute auch erscheint, es wird irgendwann zusammenbrechen. Das muß man sich klarmachen. Das ist in der Geschichte oft passiert.

Zum Abschluß dazu ein Kommentar der NZZ v. 2.4.22:

„Die herrschende Klasse wird auch unter veränderten Vorzeichen nicht von ihrer Ideologie lassen. Warum sollte ein einzelner verlorener oder auch nur nicht gewonnener Krieg eine Katharsis auslösen? Anders als nach dem Fall der Berliner Mauer darf der Westen sich nicht dem Trugschluss hingeben, der russische Imperialismus sei schnell besiegt. Notwendig ist ein ‚Containment‘ nach dem Vorbild des Kalten Kriegs: Russland muss militärisch, politisch und wirtschaftlich in Schach gehalten werden. Das erfordert eine langfristige Anstrengung, die sich auch durch russische Schalmeienklänge nicht beirren lässt. Die Zeit des Selbstbetrugs im Umgang mit Moskau sollte endlich vorbei sein“, appelliert die schweizerische NZZ an den Westen.

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