Eintreten in das „Geheimnis“ der Kathedrale „Die Grundlinien für die Innengestaltung stehen bereits“
Von Dr. Juliana Bauer
So die ins Auge springenden Worte in katholisch.de in einem Artikel über Notre Dame von Paris (4.Dez.2021), wenige Tage bevor das Pariser Erzbistum der Nationalen Denkmal- und Architekturkommission (CNPA) seine Pläne für die neue Innengestaltung der Kathedrale vorstellte (9. Dez.2021). Doch bereits im Vorfeld der Präsentation war erneut „Feuer unterm Dach“; es gab heftige Aufregungen und von einigen Seiten massive Kritik zu den Entwürfen. Die Kritiker sprachen u.a. von einem „Disneyland“, das Notre Dame erwarte (von Lichtinstallationen war die Rede) – ein Vorwurf, den Barbara Schock-Werner, die ehemalige Dombaumeisterin des Hohen Doms zu Köln, welche die deutschen Aufbauhilfen für Notre Dame koordiniert, nicht stehen lassen konnte. Sie äußerte sich im Gesamten positiv, sowohl über die bisher bekannten und in „groben Zügen“ präsentierten Entwürfe, als auch darüber, dass keinerlei Eingriffe in die Architektur selbst erkennbar seien (9.Dez.2021).
Nachdem im letzten Sommer die Sicherung des Gotteshauses nach mehr als zwei Jahren erfolgreich beendet und die Gewölbe geschlossen werden konnten, wurde im darauffolgenden Winter 2021/22 mit der eigentlichen Sanierung, der Restaurierung und dem Wiederaufbau der Kathedrale „originalgetreu“ begonnen (erste Arbeiten erfolgten bereits früher).
Da es bislang in der deutschen, auch katholischen Öffentlichkeit offenbar nur allgemeine und oberflächliche Informationen zu den Entwürfen gibt, Informationen, die kein Wort über die Planung zur religiös-liturgischen Neugestaltung verlieren, möchte ich an dieser Stelle den Inhalt des Interviews mit Père Gilles Drouin, dem Leiter des Atelier Notre Dame, vom vergangenen Frühjahr vorstellen; das katholische Internetjournal Aleteia führte das Gespräch zum 2.Jahrtag des verheerenden Brandes mit dem von Ex-Erzbischof Michel Aupetit beauftragten Liturgiewissenschaftler (der im Dez.2021 die Planung in den wesentlichen Grundzügen bei KTO, dem Pariser Kirchensender, wiederholte und auch den Kritiken begegnete, Link 4).
Unter dem Titel (übersetzt) „Notre Dame: Die Grundlinien für die Innengestaltung stehen bereits“ publizierte Aleteia am 15.April 2021 das Interview in seiner französischen Ausgabe.
Besucherrouten „in Gebetswege verwandeln“. Ein Weg „von der Genesis“…“zur Auferstehung“
Zum dritten Mal jährt sich in wenigen Tagen das Drama, das Paris zu Beginn der Karwoche 2019 heimsuchte. In diesem Jahr fällt der Jahrtag wieder in die Karwoche: auf den Karfreitag. Doch vielen Christen steht der Palmsonntag vor Augen: der letzte Tag, an dem Notre Dame vor der Katastrophe unversehrt erlebt werden konnte (Link 9). Inzwischen geht die Kathedrale dem Tag der Auferstehung entgegen.
Schon zum zweiten Jahrestag stand das Grundkonzept zur Neugestaltung des Innenraums. In die Arbeiten, die in engem Zusammenwirken mit Denkmalpflegern (Architekten, Kunsthistorikern), Priestern der Diözese Paris und Pastoralteams durchgeführt werden, ließ Père Gilles Drouin, der Leiter des Atelier Notre Dame, das kirchliche Online-Journal Aleteia einen Blick werfen. Er enthüllte dabei hochinteressante Momente – Momente, die sich als die Hauptlinien der Gesamtgestaltung zeigen. Ex-Erzbischof Aupetit, der das „Atelier“ zur Planung der Innenausstattung ins Leben rief und Gilles Drouin, den Direktor des Höheren Instituts für Liturgie in Paris mit der Leitung desselben betraute, war sich „bewusst, dass die Tragödie von Notre-Dame sowohl das Gebäude als auch das liturgische Leben erschütterte.“ Seine Intention war es daher, aus diesem großen Unglück das Positive herauszuziehen, um „eine umfassende Reflexion über die Zukunft der Kathedrale und ihre künftige spirituelle Gestaltung zu veranlassen“ (15.04.21).
Die Grundüberlegung der Konzeption basiere auf zwei Zielen, erklärte Drouin. Das erste und wichtigste sei jenes, der Kathedrale ihre liturgische Ausstattung zurückzugeben, „insbesondere den Altar“ (das Feuer zerstörte den alten), um nach der anvisierten Wiedereröffnung und Wiedereinweihung 2024 Gottesdienste feiern zu können. Zu diesem Sinn und Zweck sei das Gotteshaus erbaut worden. (In einem weiteren Beitrag betonen Drouin und die Autorin von Aleteia das große Anliegen des emeritierten Erzbischofs, die spirituelle Dimension von Notre-Dame als ihre eigentliche Bestimmung aufrechtzuerhalten, 14.04.21).
Daher sei der Altar das wesentlichste Element der Innengestaltung.
Das zweite Ziel sei es, einen Rundgang für Touristen und Besucher anzubieten, gerade „auch für Nichtchristen, die jedes Jahr in großer Zahl“ kämen. Die Frage sei hierbei, wie man „die Besuche begleiten“ könne, um die Rundgänge „in Gebetswege zu verwandeln“, die den Besuchern helfen, in das „Geheimnis“ der Kathedrale einzutreten.
Die helfen, „das, was unseren Glauben ausmacht, für sie verständlicher werden zu lassen.“ Dabei legte Drouin einen verheißungsvoll gestalteten Weg offen, der die Anschauung christlicher Glaubensinhalte und ihre Bedeutung mit jenen der Kunst der jeweiligen Zeit und ihrer Aussagen auf faszinierende Weise verknüpfen soll (Drouin ging im KTO-Interview auch auf die Schönheit der Kathedrale und ihre Bedeutung als ein Werk der Kunst ein, die dennoch in erster Linie ein Ort der Anbetung sei sowie ein lebendiger Ort, wo Christus verkündet wird).
Auf die Frage von Aleteia, wie man die Besucherroute konkretisieren möchte, verriet Gilles Drouin spannende Details. Sie solle „hauptsächlich entlang der Kapellen des Kirchenschiffs und des Querhauses als langer Weg gestaltet werden“ (siehe Erläuterungen, Grundriss Notre Dame). Als Weg, der „von der Genesis“, d.h. der Erschaffung der Welt und des Menschen sowie des Sündenfalls, „zur Auferstehung, also vom Dunkel zum Licht führt“, so Drouin. „Die im Abseits und im Schatten liegenden Kapellen waren bisher ein Teil der toten Ecken der Kathedrale“ – eine Feststellung, die auch Ex-Dombaumeisterin Schock-Werner traf und das Ziel der Gestalter lobte, „den touristischen Besuch mit der liturgischen Nutzung in besseren Einklang zu bringen“ und auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zeit zu antworten. Gilles Drouin betonte daher die Absicht, die Kapellen „zum Leben zu erwecken. Konkret“, erläuterte er, „wird die Nordseite die Straße der Verheißungen werden, in der man die großen Episoden des Alten Testaments entdecken kann (den Exodus, die Propheten, die Patriarchen, die Bücher der Weisheit…).
Auf der Ebene des Querschiffs werden die Gläubigen dann eingeladen, über das Geheimnis der Menschwerdung und der Auferstehung Jesu zu meditieren. Das Herzstück dieser meditativen Reise wird die Dornenkrone in der Axialkapelle sein, dessen Kostbarkeit ein Goldschmied herausarbeiten wird.“
Père Drouin zeichnete dann den weiteren Weg anschaulich vor: „Der Besucher wird anschließend seinen meditativen Weg von der Jungfrau Maria am südlichen Pfeiler aus (gotische Marienfigur mit Kind am südöstlichen Bündelpfeiler der Vierung, Link 3) und weiter in Richtung der südlichen Kapellen fortsetzen.“ Dieser Weg wird die Straße der Heiligen darstellen, wo die Besucher „die Geschichte der Heiligen von Paris und den Auftrag der Kirche entdecken werden (die Mystik, die Sendung, die Sorge um die Schöpfung, die Nächstenliebe …). Zu diesem Anlass werden die Kapellen neugestaltet, um dort die Präsentation von Gemälden besser herauszustellen und die Möglichkeit zu ergreifen, andere, noch nie ausgestellte Werke wie auch neue Werke zu zeigen, immer mit dem Ziel, das Gespräch zu bereichern.“
An dieser Stelle möchte ich auf eine Aussage Michel Aupetits verweisen, mit der er in einer Predigt über das Licht Gottes gewissermaßen einen Ausblick auf Notre Dame gab: dass der gesamte Weg des Christen darin bestehe, „von der Dunkelheit zum Licht, das in der Auferstehung Jesu kulminiere, zu gelangen“, ein Weg, den die Sakralarchitektur des Mittelalters in ihrer Grundstruktur, auf die er hinwies, ausdrucksstark symbolisiere. Dieser Weg führe von der Nord- und damit der symbolischen Dunkel-Seite zur Südseite und damit auf die Seite des Lichts (Homélie 14 mars 2021/Predigt 14.März 2021 in Saint-Germain l‘Auxerrois).
Am Besucherweg solle, so Père Drouin weiter, die gesamte Ausstattung „durch eine umfassende theologische Reflexion ergänzt“ und der Altar als Zentrum in ein eigenes Blickfeld gerückt werden. „Wir möchten die Axialität der Liturgie, durch die sich das christliche Leben zeigt und deren Mittelpunkt die Eucharistie ist, betonen“, jedoch auch, dass diese „ihren Ursprung in der Taufe hat. Deshalb wird im Mittelschiff ein Taufbecken, axial zum Altar, errichtet…“ (im KTO-Interview hob Drouin das Gotteshaus als „Ort der Taufe“ zusätzlich hervor und verwies auf die alljährlich zahlreichen Erwachsenentaufen in der Diözese Paris). Den inneren Bezug zur Eucharistie wird schließlich ein neuer Tabernakel, der Schrein für die eucharistischen Hostien, herstellen. Er wird, im Gegensatz zu früher, als der Tabernakel in einer Kapelle stand, seinen Platz „zu Füßen des Kreuzes der Herrlichkeit“ finden, dem großen goldenen Kreuz der Chorapsis (Link 3) und damit direkt „auf der Achse“ zum Altar, „was fundamental ist“ und die innere Beziehung zu diesem verdeutliche, wie Gilles Drouin unterstrich (Interview KTO).
Mit der Veranschaulichung der engen Verbindung von Taufe und Eucharistie wollte der einstige Pariser Oberhirte in „seiner“ Kathedrale das verbildlichen lassen, was ihm gerade auch als Bischof besonders am Herzen lag: die Zugehörigkeit des Menschen zu Gott, die durch die Taufe verwirklicht werde. Er wurde nicht müde, dies in zahlreichen Predigten immer wieder hervorzuheben, denn durch die Taufe öffne uns Christus die Tore des Himmels… sage Gott zu uns: „Du bist mein geliebter Sohn, du bist meine geliebte Tochter…“
„Können wir es uns leisten, Kinder ohne diese wunderbare Perspektive auf eine ewige Zukunft in der Liebe Gottes zu lassen“ fragte Mgr Aupetit in einer Predigt, an die Eltern gewandt. Denn „Gott gibt uns das ewige Leben … vorbereitet in der Taufe… das ist das Großartige: ich bin ein Kind Gottes… (Homélie 12 janvier 2020). Und den spirituellen Bezug der Getauften zur Eucharistie, in der Begegnung mit Christus bedeutend „Christus ist unter uns, er gibt sich uns zur Speise… die uns zum ewigen Leben führt…“ (Homélie 19 janvier 2020).
Michel Aupetit kann „seine geliebte Kathedrale“ nicht mehr als Erzbischof von Paris wiedereinweihen. Doch wird er immer mit Notre Dame verbunden bleiben und Notre Dame mit ihm. Und seine hoffnungsgebende und freudige Botschaft von der Liebe Gottes, die er den Menschen stets verkündete, die immer noch in vielen seiner Predigt- und Gottesdienstvideos aufgerufen wird, wird die Menschen in dieser Kathedrale, die ihrer Auferstehung entgegengeht, erneut erreichen. Und sie bleibt auch ihm – als das Wichtigste. Denn – wie sagte er einmal in einer Ansprache: „Dass ich Erzbischof von Paris bin, das ist nicht von Bedeutung, dass ich Arzt war, das ist nicht so wichtig. Aber dass ich Kind Gottes geworden bin, das ist das Besondere, das ist das Wunderbare…“ (Homélie 12 janvier 2020)
Möge Notre Dame den Boden dafür bereiten, dass viele Menschen Gott (wieder)entdecken, dass sie auch die Kunst und Kultur unseres großen, (einst) jüdisch-christlich geprägten Kulturkontinents Europa neu entdecken und als Kostbarkeit wertschätzen lernen.
Notre Dame, „das Herz von Paris“
Notre Dame, die seit 1991 zum Weltkulturerbe der Menschheit gehört, die jedoch kein Museum, sondern ein Haus Gottes ist – sie möge uns allen Augen, Ohren und Herz öffnen…
– Interview mit Gilles Drouin: Caroline Becker, Notre Dame: Les grandes lignes de l’aménagement intérieur déjà fixées (Die Grundlinien für die Innengestaltung stehen bereits), in: Aleteia, französ. Ausgabe, 15/04/21.
Übersetzung: Dr. Juliana Bauer
Erläuternde Anmerkungen zum Grundriss von Notre Dame
Mit Blick auf den geplanten großen „Gebetsweg“, der von der Nordseite des Schiffes über das Querhaus, kulminierend im Chorbereich, und dann zur Südseite führen soll.
Das von Westen nach Osten in seiner Grundstruktur angelegte Gesamt-Kirchenschiff (es ist aufgrund der Parallelführung zu einem Arm der Seine etwas südlich verschoben) besteht aus 5 Schiffen: dem hohen Mittelschiff, das von je 2 Reihen Seitenschiffen auf der Nord- und der Südseite flankiert wird. Zahlreiche Kapellen rahmen die äußeren Seitenschiffe. Ebenso werden Nord- und Südfassade des Querhauses von Kapellen gerahmt (das Querhaus trennt das Kirchenschiff vom Chorraum, verbindet beide aber wieder, insbesondere durch seinen Mittelteil, die Vierung. Der hohe neugotische Turm über der Vierung stürzte durch den Brand ein). Auch der Chor/Chorraum, der einen zweireihigen Umgang aufweist, wurde mit Kapellen umkränzt (siehe Link 1).
Die Axialkapelle liegt, wie ihr Name sagt, auf der Scheitel-Achse der Kathedrale, hinter dem Chor.
Von den Kapellen wurde keine durch den Brand beschädigt; sie müssen lediglich einschließlich ihrer Wandmalereien intensiv gereinigt werden (Aleteia, 12.02.21, siehe dortige Diashow)
Literatur
- Caroline Becker, Notre Dame:deux ans après l’incendie, son avenir se dessine déjà/zwei Jahre nach dem Brand nimmt ihre Zukunft Gestalt an,in: Aleteia, französ. Ausgabe, 14/04/21.
- Caroline Becker, Notre-Dame de Paris: reportage au cœur du chantier de restauration/Bericht aus dem Herzen der Restaurierungs-Baustelle, in: Aleteia, französ. Ausgabe, 12/02/21 (mit Diashow)
- Ehemalige Kölner Dombaumeisterin zum Wiederaufbau von Notre-Dame: „Ein wunderbares Kunstwerk”, in: Domradio, 15.04.21
- Interview über Entwürfe zur Innengestaltung der Pariser Kathedrale
- Ex-Dombaumeisterin Schock-Werner: Notre-Dame wird kein Disneyland, in: katholisch.de, 09.12.21
Links
1.
Notre-Dame of Paris: official time-lapse construction sequence
Computersimulation der Kathedrale vom Mittelalter bis heute
2.
Notre-Dame de Paris au fil des siècles – Reconstitution 3D
3.
Messe du 21 octobre 2018, Notre Dame
Blick in die Vierung mit Mariensäule, Min.53:28-46.
Blick aus Mittelschiff über Vierung in den langgestreckten Chorraum mit Chorapsis und dem Kreuz der Herrlichkeit, ab Min.6:01
4.
https://www.ktotv.com/video/00381675/trois-question-a
Interview von KTO mit Père Drouin zur Innengestaltung von Notre Dame, 15.12.21
5.
Zimmerleute in Notre Dame, 21.09.20
6. https://www.n-tv.de/wissen/Zimmerleute-waren-damals-die-Ingenieure-article20976031.html Interview zur Dachkonstruktion von Notre Dame, 18.04.19
7.
3 chênes pour la flèche de Notre Dame de Paris, 11.03.21 – 3 Eichen für die Turmspitze von Notre Dame (hier in den Vogesen)
Min.7:23 zeigt Zeichnungen des zerstörten Vierungsturms.
In den Wäldern von ganz Frankreich wurden bis Ende 2021 für Notre Dame, vor allem auch für den völlig zerstörten 800 Jahre alten Eichendachstuhl, 2.000 Eichen geschlagen. Dieser soll wieder exakt dem originalen, verbrannten Dachstuhl nachgebaut werden.
8.
Notre Dame de Paris: les pierres de la résurrection, 20.12.21 – „Die Steine der Auferstehung“
Abbau von hartem Kalkstein in hoher Qualität und Nachhaltigkeit, der so genannte lutetische Kalkstein, in Saint-Maximin de l’Oise, nahe Paris (lutetisch geht auf Lutetia, den antiken Namen von Paris, zurück). Mit diesem Stein wurde Notre Dame erbaut. Die Bauhandwerker der Kathedralbaustelle bevorzugen zur Restaurierung Steine, wie sie im Mittelalter verwendet wurden.
Der Stein ist 45 Mio. Jahre alt, das Meer lagerte ihn einst im Becken von Paris ab.
9.
The Bells of Notre-Dame de Paris – April 14, 2019, Day Before Fire – Glocken von Notre Dame, am Palmsonntag, 14.April 2019, einen Tag vor dem Brand