Von Peter Helmes
Stoltenberg: Finnland und Schweden in NATO „herzlich willkommen“
Sie blieben bisher weitgehend neutral, aber Putins Krieg gegen die Ukraine läßt den beiden Staaten keine Wahl. Aus Furcht vor Russland könnten die beiden EU-Staaten deshalb ihre bisherige Bündnisfreiheit kippen. Mit Beschlüssen zu möglichen Anträgen wird bereits Mitte Mai gerechnet. Derzeit deutet Vieles darauf hin, daß sich beide Staaten für eine Mitgliedschaft entscheiden.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellt einen schnellen Beitrittsprozeß in Aussicht, sollten Finnland und Schweden eine Aufnahme in das transatlantische Militärbündnis anstreben. „Wenn sie sich dafür entscheiden, sich zu bewerben, sind Finnland und Schweden herzlich willkommen, und ich erwarte, daß der Prozeß schnell gehen wird“, sagte Stoltenberg letzte Woche vor Journalisten in Brüssel.
Bisher sind die beiden Länder nicht neutral, aber bündnisfrei. Für beide aber hat der russische Überfall auf die Ukraine ihre sicherheitspolitische Rechnung komplett verändert, das Vertrauen ist dahin.
Finnland und Schweden sind enge Partner, aber keine Mitglieder der Nato. Finnland begründete sein Zögern bislang vor allem mit der 1.400 km langen gemeinsamen Grenze zu Russland, Schweden mit der Bündnisneutralität des eigenen Landes. Der Krieg hat diese Einstellung verändert. Im März hatten die Regierungschefinnen der Länder einen Nato-Beitritt plötzlich nicht mehr ausgeschlossen.
Russland versucht, Finnland und Schweden einzuschüchtern. Doch viel spricht dafür, daß der Kreml die Reaktion der Finnen und Schweden ebenso unterschätzt wie die Widerstandsfähigkeit der Ukrainer. Daß aber immer mehr Schweden und Finnen wünschen, in den Schutz der NATO-Beistandsverpflichtung zu kommen, gilt in Moskau nichts.
Der (nicht öffentlich gemachte) Zeitplan sieht so aus, daß die Sozialdemokraten, die in Finnland die Regierung stellen, am 14. Mai ihre Entscheidung zum Nato-Beitritt bekannt geben wollen. Das berichtete die Tagesschau. Kurz darauf, ab dem 17. Mai, besucht der finnische Präsident Schweden. Für eine gemeinsame Entscheidung wären dann alle Weichen gestellt.
Grundsätzlich steht Finnland dem Beitritt in die Nato positiver gegenüber als Schweden. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat aber auch in Stockholm ein Umdenken stattgefunden. Während Ministerpräsidentin Magdalena Andersson eine Mitgliedschaft in dem Bündnis im März noch ausschloß, steht sie der Angelegenheit nun offener gegenüber. Außerdem spricht sich mittlerweile eine Mehrheit der finnischen und schwedischen Bevölkerung für einen Nato-Beitritt aus. Fachleute sind sich einig, daß ein Beitritt beider Staaten sehr wahrscheinlich ist.
„Es gibt keine andere Möglichkeit“
Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin hatte ihre schwedische Kollegin Magdalena Andersson besucht und signalisiert, daß sich die beiden Nachbarländer in der Frage untereinander abstimmten. „Es gibt keine andere Möglichkeit, Sicherheitsgarantien zu haben, als im Rahmen der Abschreckung und der gemeinsamen Verteidigung der Nato“, erklärte Marin. Sie verwies auch auf Nato-Artikel 5, der im Angriffsfall militärische Unterstützung des Bündnisses zusichert. Finnland brauche diesen Schutz.
Wird der Bündnisfall ausgerufen, müssen Nato-Mitglieder laut Vertrag Maßnahmen treffen, „um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“ – ausdrücklich heißt es dabei „einschließlich der Anwendung von Waffengewalt.“
Die Nato beruft sich dabei wiederum auf das Recht auf Selbstverteidigung. Es ist in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben: „Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird.“ (Erster Satz im Nato-Artikel 5)
Russland hingegen warnte die nördlichen EU-Mitglieder bereits im Falle eines tatsächlichen Nato-Beitritts vor „Konsequenzen“. Wie die aussehen, scheint unklar. Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew sprach Mitte April davon, Atomwaffen in der Nähe der drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen zu stationieren. Sie wären dann für Finnland und Schweden „in Reichweite des eigenen Hauses“. Aus dem russischen Außenministerium hieß es, Helsinki und Stockholm müßten „verstehen, welche Folgen ein solcher Schritt für unsere bilateralen Beziehungen und für die europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt hat“.
Diskussion in Schweden
Seit dem Schwedisch-Norwegischen Krieg 1814 war Schweden an keiner kriegerischen Handlung mehr beteiligt; die Ablehnung militärischer Pakte prägte 200 Jahre das Selbstverständnis des Landes. Zwar ist die Neutralität schon seit 2002 Geschichte, doch blieb man frei von militärischen Allianzen. Ein Nato-Beitritt kam nie ernsthaft infrage, obwohl Schweden eng mit dem Bündnis kooperiert.
Doch nun soll alles ganz schnell gehen.
Auf dem Weg zu einem Nato-Beschluß will unterdessen die oppositionelle schwedische Linkspartei zuvor die Bevölkerung befragen. Da eine solch wichtige Entscheidung breiten Rückhalt benötige, sollte es darüber eine Volksabstimmung geben, ob Schweden dem Militärbündnis beitreten sollte oder nicht, forderte Vänsterpartiet-Chefin Nooshi Dadgostar im schwedischen Radio. Angesichts einer seit über 200 Jahren geltenden Tradition der Bündnisfreiheit, die das Land von Kriegen ferngehalten habe, handle es sich um eine äußerst große Frage.
Schweden debattiert seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine vor mehr als zwei Monaten ebenso wie das benachbarte Finnland intensiv über einen möglichen Beitritt zur Nato. Dem Verteidigungsbündnis stehen die beiden nördlichsten EU-Länder zwar als Partner bereits heute sehr nahe, allerdings sind sie keine offiziellen Mitglieder.
Entscheidungen bis Mitte Mai?
Derzeit deutet Vieles darauf hin, daß sich beide Staaten etwa bis Mitte Mai für eine Mitgliedschaft entscheiden. Die Aufnahme müßte von allen 30 derzeitigen NATO-Mitgliedern abgesegnet werden.
Die oppositionelle schwedische Linke ist nach wie vor gegen einen NATO-Beitritt, unter anderem, da das Bündnis über Atomwaffen verfügt. Aber keine andere Parlamentspartei in Schweden fordert derzeit eine Volksabstimmung in der Nato-Frage. Unter anderem wegen Zeitdrucks und der Gefahr einer russischen Beeinflussung halten es Experten für unwahrscheinlich, daß es ein solches Referendum geben wird. Ein Aspekt ist außerdem, daß die regierenden Sozialdemokraten die Nato-Frage vor der nächsten Parlamentswahl im September gerne vom Tisch haben wollen.
Ein unabhängiges Land kann sich nicht mehr verteidigen – diese Erkenntnis verbreitet sich derzeit rasant in Europa. Das verändert die Sicherheitspolitik gewaltig.
Die Botschaft, die von einem Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands ausgehen würde, wäre bedeutungsvoll. Für Russland, das erkennen müßte, daß nicht Uneinigkeit, sondern Stärkung der Gemeinschaft die europäische Antwort auf seine Aggression ist. Aber auch für die baltischen Staaten und Polen, die sich gestärkt fühlen sollten, da nun auch andere erfahren, wovor sie schon seit langem warnen: eine permanente russische Bedrohung, die für ihre Nato-Mitgliedschaft von ausschlaggebender Bedeutung war.
Deshalb ist es selbstverständlich, daß Finnland und Schweden nun über einen NATO-Eintritt nachdenken. Wenn Finnland jetzt eine Nato-Mitgliedschaft beantragt, entfällt für Schweden das letzte schwerwiegende Gegenargument. Entscheidet sich Helsinki nämlich für einen Beitritt ohne Schweden, verlieren die Schweden den wichtigsten Partner, und das würde das Land entscheidend schwächen.
Russland droht zwar mit einer militärischen Verstärkung in der Grenzregion. Aber eigentlich ist der Kreml wohl ziemlich ratlos, da sich die Lage in eine von Russland unerwartete Richtung entwickelt. Dabei hat Russland selbst mit seinem Angriffskrieg die Nato gestärkt. Wenn Präsident Putin wirklich glaubt, daß die Nato-Erweiterung die Sicherheit seines Landes gefährdet, sollte er den Krieg sofort beenden und seine Truppen komplett abziehen.
Russland hat mit dem Abenteuer Ukraine die Zahl seiner Feinde auf der Welt vergrößert und seinen Rest an Glaubwürdigkeit verspielt. Selbst Kasachstan und Kirgisistan suchen den Abstand zu Moskau, die letzten Freunde Russlands sind Armenien und Weißrussland. Nichts rechtfertigt das Blutvergießen in der Ukraine, das Töten von unschuldigen Kindern und Frauen.
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