Von Peter Helmes
Russlands Invasion hat Finnland und Schweden dazu bewogen, der NATO beizutreten, was die Türkei verhindern will. Also bremst der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Aufnahme der beiden Staaten in die NATO. Seit Erdogan vor einer Woche erstmals mit einem Veto gegen den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden drohte, vergeht kein Tag ohne neue Forderungen aus Ankara an die Skandinavier und den ganzen Westen zum Umgang mit der kurdischen Terrororganisation PKK.
Erdogan verlangt, der Westen solle außer der PKK auch deren syrischen Ableger YPG als Terrororganisation ächten. Er schimpft über die Toleranz, die der YPG von Deutschland und anderen europäischen Staaten entgegengebracht werde, kritisiert aber ausdrücklich auch die USA. Denn Amerika betrachtet die YPG als Hauptverbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien. Washington unterstützt die Kurdenmiliz bis heute, gegen den Protest der Türkei.
Erdogan schickte deshalb diese Woche seinen Außenminister Cavusoglu zu Gesprächen in die USA. Denn in Washington – und nicht in Helsinki oder Stockholm – liegt der Schlüssel zur Lösung der Krise um die NATO-Norderweiterung. Die Türkei will ihr Vetorecht in der NATO als Hebel benutzen, um die US-Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen, die nichts mit Finnland und Schweden zu tun haben. Cavusoglu nannte nach einem Treffen mit seinem US-Kollegen Blinken die Forderung nach einem Ende der amerikanischen Unterstützung für die YPG als Bedingung. Bisher war den USA die Zusammenarbeit mit der YPG in Syrien wichtiger als die türkische Kritik an dieser Politik. Der türkische Präsident will das jetzt mit der Brechstange ändern.
Die NATO wird alles daran setzen, die türkische Veto-Drohung vor dem Gipfel der Allianz in Madrid in einem Monat aus der Welt zu schaffen. Möglich ist auch, daß Erdogan zunächst nur für Finnland grünes Licht gibt, das wegen der langen Grenze mit Russland besonders exponiert ist und in der türkischen Regierungspresse im Vergleich zu Schweden noch einigermaßen gut wegkommt.
Wahltaktisch mag das vielversprechend für ihn sein – außenpolitisch ist es katastrophal. Die Türkei hatte ihren schlechten Ruf im Westen mit Hilfe ihrer Vermittler-Rolle im Ukraine-Konflikt gerade wieder etwas aufpoliert. Mit dem Krach um die NATO-Norderweiterung hat Erdogan diese Erfolge zunichte gemacht. Die türkische Haltung gegenüber der NATO wirkt opportunistisch und erpresserisch. Erdogan macht das Bündnis zur Geisel seiner eigenen Interessen.
Daß sich der türkische Präsident Erdogan mit seinem neuerlichen Poker-Spiel einen Gefallen tut, darf bezweifelt werden. Seine Vetomacht mitten im Ukraine-Krieg für eigene Interessen zu nutzen, dürften die meisten Kongreßabgeordneten in den USA und die NATO-Partner als unsolidarisch und verantwortungslos empfinden. Auch dürfte es sie in dem Urteil bestärken, daß auf die Türkei unter Erdogan kein Verlaß ist. Am Ende wird es wohl trotzdem eine Einigung geben. Erdogan hat schon oft erst groß das Maul aufgerissen, dann aber klein beigeben müssen. Letztlich dürfte Erdogans Pokerspiel ihm sehr schaden.
Schweden ist ein unabhängiges Land, das seine Entscheidungen selbst trifft. Die Türkei hat keine Macht, Schweden etwas zu diktieren, und das weiß Erdogan auch. Biden und NATO-Generalsekretär Stoltenberg haben Schweden versichert, daß die Tür offensteht. Erdogan agiert dagegen wie ein wütender Türsteher. Jetzt sind die Mitglieder an der Reihe, ihr Versprechen eines schnellen Beitritts einzulösen.
Wieder einmal wird deutlich, wie problematisch enge Verbindungen zu diesem immer autokratischeren Herrscher sind. Das ist nicht akzeptabel, ebenso wenig wie der Flüchtlingspakt der EU mit Ankara. Die Türkei ist schon lange viel zu eng mit Russland verbunden, und jetzt gefährdet Erdogan auch noch mitten im Krieg in der Ukraine den Zusammenhalt der NATO für einen taktischen Punktsieg zu Hause.
Kurzfristig mag es ihm helfen, ein paar Zugeständnisse und vielleicht etwas Geld zu bekommen. Eine NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands wäre diesen Preis wert, aber längerfristig muß sich der Westen aus dem Würgegriff der Türkei befreien.
Aus der Sicht Europas und Amerikas ist die Situation klar. Sie verstehen, daß Finnland und Schweden wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine in die NATO wollen, und sind für ihre Aufnahme. Auch der türkische Präsident Erdogan versteht das und sieht zudem die Vorteile einer Erweiterung des Bündnisses. Daß er dennoch mit einem Veto droht, liegt daran, daß er sich zu Hause mehr Popularität verschaffen will. Durch die schlechte Wirtschaftslage und die fast 70-prozentige Inflation ist sein Image schwer angeschlagen.
Es ist wahrscheinlich, daß sowohl Schweden und Finnland als auch die USA sich bemühen werden, der Türkei teilweise entgegenzukommen. Die Frage ist, ob dies Erdogan reichen wird. Denn niemand ahnt, ob er die Gunst der türkischen Wähler eher dadurch gewinnen will, daß er seine Forderungen teilweise durchsetzt oder dadurch, daß er beim nächsten NATO-Gipfel mit den Türen knallt – buchstäblich und symbolisch.
Die internationale Gemeinschaft muß also noch stärkeren Druck auf die Türkei ausüben, um einen früheren Beitritt von Finnland und Schweden zur NATO zu ermöglichen. Eine wichtige Aufgabe ist außerdem, die beiden nordischen Länder bis dahin vor der Bedrohung aus Russland zu schützen und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Denn es gilt unbedingt, Provokationen aus Moskau zu verhindern. Russlands Präsident Putin sollte sich bewußt werden, daß er selbst die NATO zu dieser Erweiterung gebracht hat, die er eigentlich verhindern wollte
Der russische Angriff auf die Ukraine hat das militärische Engagement der Vereinigten Staaten in Europa zwar erhöht, das kann sich aber wieder ändern. Heute ist unsere Verteidigung noch von den USA abhängig, weil die europäischen Staaten zu wenig Verteidigungskapazitäten haben und diese nicht ausreichend koordinieren. Jetzt aber wird die Allianz eine mehr europäisch geprägte Organisation. In ein paar Monaten sind nur mehr die vier aus sicherheitsstrategischer Sicht unbedeutenden EU-Länder Zypern, Irland, Malta und Österreich keine Nato-Mitglieder. Das eröffnet die Chance auf eine weitaus effektivere Koordination zwischen Nato und EU.
Viele Nato-Partner mutmaßen aber, daß es der Türkei in Wahrheit um andere Fragen geht.
Schon oft hat der türkische Staatschef seine Vetomacht in der Nato genutzt, um Zugeständnisse zu erpressen. So hat er sich 2009 bei der Wahl des Dänen Anders Fogh Rasmussen zum Nato-Generalsekretär quergestellt, weil Dänemark einen kurdischen Fernsehsender beherbergte. 2019 blockierte er gar einen neuen Verteidigungsplan für Osteuropa, um die Nato-Partner zu zwingen, den Kampf gegen kurdische Milizen in Nordsyrien zu unterstützen.
In Wahlkampfzeiten war Erdogan ohnehin nie darum verlegen, einen Streit mit den ungeliebten Verbündeten im Westen vom Zaun zu brechen, um sich gegenüber den Wählern als starker Mann zu profilieren. So scheute er in der Referendumskampagne 2017 nicht davor zurück, seine engen Handelspartner Niederlande und Deutschland als Nazis zu schmähen. Weil er deutschen Abgeordneten den Besuch der Bundeswehrtruppen auf dem Nato-Stützpunkt Incirlik verweigerte, war Berlin gezwungen, seine dort stationierten Flugzeuge abzuziehen.
Ebenfalls denkbar ist, daß er von den Amerikanern die Aufhebung ihrer Sanktionen im Rüstungssektor erzwingen will. Wegen Ankaras Entscheidung zum Kauf des russischen Flugabwehrsystems S-400 hat Washington die Türkei 2019 von der Produktion des F-35-Kampfjets ausgeschlossen und will ihr auch keine der Flugzeuge liefern. Ankara hat stattdessen die Modernisierung seiner F-16-Flotte sowie den Kauf von 40 zusätzlichen Kampfflugzeugen dieses Typs beantragt.
Der türkische Präsident will ganz offensichtlich mit dem Westen feilschen; denn Erdogan hat sein Land wirtschaftlich an den Rand des Abgrunds gebracht. Es gibt Gerüchte, daß die türkische Regierung ihre Goldreserven in Londoner Banken verkaufen will, um an Devisen zu kommen, da die türkische Währung Lira täglich an Wert verliert. Deswegen ist die Frage nicht abwegig, ob er hofft, mit der Veto-Karte gegen den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens an Devisen zu kommen.
Es könnten aber noch andere Forderungen, etwa an US-Präsident Joe Biden, dahinterstecken. Es stellt sich die Frage, ob die USA und Europa der Türkei den Austritt nahelegen könnten, sollte die Türkei bei ihrem Veto bleiben. Doch das ist nicht so einfach; denn die Türkei ist für das Bündnis geographisch sehr wichtig.
www.conservo.blog 22.05.2022