Von einem, der auszog, das Leben zu betrachten – Einige Bemerkungen zu drei Romanen von Ulrich Schödlbauer

Conservo-Redaktion

(Helmut Roewer*) In dieser Buchbesprechung geht es um drei miteinander verbundene Romane von Ulrich Schödlbauer, die ich in diesem Frühjahr in zeitlich umgekehrter Reihenfolge las: Das Ungelebte, von 2007; Hiero, von 2010; Das Bersten, von 2020. 

Auf die Idee, eine Sammelrezension dieser drei Bücher zu verfassen, hat mich deren Autor gebracht, mit dem sich ein kurzer schriftlicher Wortwechsel entspann, nachdem ich das jüngste dieser Bücher, nämlich Das Bersten, gelesen hatte. Zu meiner Verblüffung musste ich mir sagen lassen, dass sich meine Fragen zu den Romanfiguren aus deren Entwicklung in den beiden anderen Romanen unschwer ergebe. Während ich noch wegen dieser Antwort vor mich hin brummte, erhielt ich die Bücher per Post. Nun ja, wer A sagt, sollte auch B & C lesen können. Hier also das Ergebnis:

Um Nachsicht mit dem Rezensenten wird gebeten

Zunächst einmal das Verbindende dieser drei sehr unterschiedlichen Bücher. Sie spielen in nicht chronologischer Reihenfolge im akademischen Milieu der werdenden, seienden und noch eben am Leben befindlichen Protagonisten. Damit ist umrissen, dass der Leser, der zwar einen akademischen Vorlauf haben mag, der ihm bestenfalls als Vorstufe für den Einstieg in einen ganz und gar unakademischen Beruf diente, einen tiefen Blick in das tun kann, was ihm Zeit seines Lebens verschlossen blieb, vielleicht weil es ihm als unwichtig, wenn nicht gar verschroben vorgekommen sein mag. Das gilt jedenfalls für mich, den Rezensenten, dessen letzter ernsthafter Kontakt mit dem akademischen Betrieb die lustlose Verteidigung einer Dissertation war, die längst Moos angesetzt hatte.

Ich bitte diese Bemerkung nicht als pure Arroganz misszuverstehen, sondern als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten, wenn einer sich anschickt, irgendwo auf Arbeit, wie man an der Ruhr sagt, mit dem ganz und gar primitiven Leben konfrontiert zu werden. Dann vergisst man die Uni recht schnell und gründlich. So ist nun der Lesestoff ein Ausflug in einen Kosmos, der mich immer wieder zum Nachdenken über ein Was-hätte-gewesen-sein-können, wenn… geführt hat. Ja, was? Hat aber nicht.

Ein Manuskript, das Qualen hinterlassen wollte?

Das erste Buch Das Ungelebte, vom Autor als Studie bezeichnet, hat einen so kurzen Plot, dass ich mich scheue, ihn hier wiederzugeben, denn er könnte leicht Kritiker dieser Buchkritik auf den Gedanken bringen, ich hätte nichts verstanden. Sei’s drum: Das Roman-Ich, er ist ein Mittdreißiger – wir befinden uns also, gemessen an den Lebensdaten des Autors in den 1980er Jahren – hat ein Manuskript geerbt, vermutlich von autobiografischem Inhalt des Verstorbenen. Doch was damit tun? Wegwerfen wg. nichterkennbarer Qualität, wäre sicher die einfachste Lösung gewesen. Doch der Erzähler kann nicht, er bringt solche radikalen Lösungen nicht zuwege. So liest man sich dann in seine Verzweiflung ein und folgt ihm auf das Drahtseil, der verstorbene Manuskript-Erblasser habe den Ich-Erzähler wohlweislich ausgewählt, weil er dessen Unfähigkeit sehr wohl einschätzen konnte, etwas wie dieses Manuskript zu vernichten oder es bloß an einer nicht wiederauffindbare Stelle beiseite zu legen. Der Manuskript-Erblasser handelte mithin – verdächtigt ihn schließlich der Leser – mit dem Vorsatz, nicht nur sein Manuskript zu bewahren, sondern darüber hinaus Qualen zu verursachen. Ich weiß schon, hier regt sich beim Leser Widerspruch. Er sagt: Also ich hätte… Hat der Ich-Erzähler aber nicht. Damit müssen beide Seiten nun hinkommen.

Wie eine Schlingpflanze ranken sich um diese Handlung die Beziehungen des Roman-Ichs zu Anita und Elisabeth. Tja, das Leben ist kompliziert, und das Ich ist es auch, denn alles was es denkt, ist vom Efeu seiner akademischen Bildung überwuchert. Die Gurus des philosophischen Wissens reden ihm herab von ihren unsterblichen Podesten andauernd dazwischen. Da soll sich einer entscheiden? Buridans Esel lässt grüßen.

Eine Studie über “Ich-Ich-Ich-Individuen”

Das zweite Buch Hiero wird vom Autor als Tropos bezeichnet. Ich habe das beim Lesen des Buches nicht zur Kenntnis genommen, vielleicht war das besser so, denn jetzt gerade beim Verfassen dieser Rezension lese ich, es handele sich um einen aus dem Altgriechischen (woher wohl sonst?) abgeleiteten Begriff aus dem Werkzeugkasten der Berufs-Philosophen. Er steht für Stilmittel. Ich ergründe das hier nicht weiter, denn ich habe von einem anderen Leseirrtum zu berichten. Ich las den Romantitel in meinem Kopf als Hiéro (und tue es eigentlich immer noch), was der Name einer der Kanareninseln ist. Doch damit hat das Buch nun wirklich nichts zu tun. Das Wort ist nichts als die Abkürzung des Vornamens einer der Roman-Figuren, Hieronymus. So simpel.

Es sind junge Akademiker, die das Buch bevölkern, sie alle auf dem Wege in eine unmittelbar bevorstehende eigene akademische Karriere – jedenfalls wird diese angestrebt. Man ahnt es, dass aus dem „Wir“ einer fragwürdigen Spelunke zusammen saufenden und gelegentlich sich bebeischlafenden Gruppe von aufstrebenden Nachwuchskräften alsbald eine Zersplitterung von Ich-Ich-Ich-Individuen werden wird, wenn es um die Verteilung rarer Hochschul-Posten oder den Abstieg in eine verachtete Gymnasiallehrer-Tätigkeit geht.

Mehr noch als das hier besprochene erste Buch von Schödlbauer hätte dieses zweite Buch nach meinem Geschmack den Untertitel einer Studie verdient. Denn genau das ist das Buch Hiero, eine als Romanhandlung aufgemachte Studie über den akademischen Betrieb. Diejenigen, die dieses Buch bevölkern, tun nichts anderes als zu demonstrieren, wie man in diesem Milieu vorankommt, aufsteigt und wie man sich dort hält, ängstlich bemüht das eigene Renommee zu pflegen, aber um Himmelswillen nirgend unangemessen hervorzuragen und somit anzustoßen, um nicht eines Tages gezwungen zu sein, sich für das, was man der Welt noch mitzuteilen hat, auf die demütigende Suche nach einem Verleger begeben zu müssen.

Das Buch ist eine unterhaltsame Studie, ich sagte es bereits, denn vor den Augen des Lesers werden die Figuren hin- und hergeschoben, auf ihre Anpassungsfähigkeit, sprich: Unterwürfigkeit, getestet und danach zugelassen oder ausgemustert. Kaum eine der Figuren weckt Sympathien. Selbst wenn sie so demütigende Erfahrungen machen muss, dass Wir eben doch nicht Wir ist, wenn es darauf ankommt.

Das Buch wurde 2012 veröffentlicht, ich betone diesen Umstand hier, weil es mir so vorkommt, als bringe es meine heutzutage tief empfundene Skepsis gegen das wohlfeile akademische Expertentum hellsichtig auf den Punkt. Wissenschaft ist seit geraumer Zeit in Wirklichkeit nichts anderes ist als geistige Prostitution mit der herrschenden Politik.

Freude bereiten will Schödlbauer seinen Lesern nicht

Das dritte Buch schließlich, Das Bersten, wurde vom Autor als Eine Erzählung bezeichnet. Ein Selbstgespräch wäre auch passend gewesen. Den äußeren Rahmen bildet eine Urlaubsfahrt von zwei befreundeten Paaren in die grelle Sonne des Mittelmeers. Ein Migräne-Anfalls des Protagonisten löst bei diesem eine in Wellen stattfindende Reflexion über gescheiterte Beziehungen aus. Konkret: über die Beziehung zur Frau, in deren Begleitung er jetzt reist. Weniger konkret, aber umso heftiger: über Beziehungen im Allgemeinen, über den Entwurf seiner Generation, das eigene Leben in Beziehungen zu organisieren. Beziehung, der Begriff beinhalte, so der Erzähler, eo ipso auch stets das Element des Vorläufigen, was auch immer bedeutet habe, diese Beziehungen ganz nach eigenem Gusto zu wechseln, zu beenden oder wieder aufzunehmen. Das Buch bildet daher weit mehr als ein Ehe- oder Beziehungsdrama ab, sondern es stellt die Kritik an einem Lebensentwurf der Generation dar, die man vielleicht als die Nach-68er bezeichnen sollte. Du darfst alles, aber du musst es auch aushalten, dass dein Partner alles darf. Das unerfreuliche Aha kommt dann meistens erst, wenn genau das geschehen ist – der andere hat auch gedurft.

Ich sage es ganz offen: Dieses Buch zu lesen ist keine Freude. Ist wohl auch nicht so gedacht. Als das Das Bersten 2020 veröffentlicht wurde, war der Autor siebzig. Es deswegen als einen Nachruf auf seine Generation zu bezeichnen, halte ich für verfrüht. Und nicht nur das: Ich wehre mich dagegen. Zum Überschreiten der 70er-Grenze gehört so mancherlei, was Jüngere womöglich mit Resignation oder sogar mit Wehleidigkeit umschreiben werden. Zum Überschreiten dieser Grenze, die nichts weiter ist als ein Spiel mit Zahlen, gehört auch, dass man akzeptiert, dass das, was hinter einem liegt, nicht mehr zu ändern ist. Vor allem aber auch, dass man sich über das, was man selbst verbockt hat, nichts vorlügt. Dem entspricht der Text nach meinem Empfinden. Der verbleibende Rest – beim Blick nach vorne und nach hinten – ist schön genug, um genossen zu sein. Man muss es nur wollen.

*) Dr. Helmut Roewer wurde nach dem Abitur Panzeroffizier, zuletzt Oberleutnant. Sodann Studium der Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen Rechtsanwalt und Promotion zum Dr.iur. über ein rechtsgeschichtliches Thema. Später Beamter im Sicherheitsbereich des Bundesinnenministeriums in Bonn und Berlin, zuletzt Ministerialrat. Frühjahr 1994 bis Herbst 2000 Präsident einer Verfassungsschutzbehörde. Nach der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand freiberuflicher Schriftsteller und Autor bei conservo. Er lebt und arbeitet in Weimar und Italien.

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