Peter Helmes
Die Nachfolge von Boris Johnson steht fest: Wenig überraschend hat Liz Truss hat die Wahl gegen ihren Konkurrenten Rishi Sunak gewonnen. Sie übernimmt damit nicht nur den Vorsitz der konservativen Tory-Partei, sondern wird auch automatisch Premierministerin. Die 47-Jährige setzte sich in der Befragung unter den rund 172.000 Parteimitgliedern klar gegen Ex-Finanzminister Sunak durch: Auf Truss entfielen mehr als 81.000 Stimmen, für Sunak sprachen sich rund 60.000 Parteimitglieder aus.
Bei Wahlkampfauftritten im ganzen Land, den „Hustings“, hatten die beiden Tory-Kandidaten um Unterstützung geworben. Truss wurde von Kritikern verspottet, aber an der Parteibasis war sie – anders als bei den Unterhaus-Abgeordneten – von Anfang an die klare Favoritin. Im Wahlkampf vergrößert sie den Abstand zu Sunak beinahe täglich.
Eine „menschliche Handgranate“
Wir werden uns also an ein neues Gesicht und an eine andere Verhaltensweise an der Spitze der Regierung des Vereinigten Königreichs gewöhnen müssen. Truss zu verstehen – besser gesagt: ihren Volten zu folgen – ist nämlich nicht einfach. Zu häufig hat sie in der Vergangenheit auch in wichtigen Fragen ihre Meinung rigoros geändert, als daß man sie leichtfertig als verläßlich bezeichnen sollte.
2016 war sie zum Beispiel – wie ihr Kabinettschef David Cameron – entschieden gegen den EU-Austritt Großbritanniens und warnte vor seinen wirtschaftlichen Gefahren. Als der EU-Austritt beschlossen war, konvertierte sie umstandslos zu einer besonders entschiedenen Brexit-Hardlinerin.
Die „Chaos-Lady“
Skandalös finden viele schon allein die wechselvolle politische Vita von Liz Truss. Sie gilt deswegen als opportunistisch – als eine, die aus lauter Ehrgeiz ihr Fähnchen immer in den Wind hängt. Viele zweifeln an ihren politischen, manche auch an ihren intellektuellen Fähigkeiten für das Amt der Premierministerin. Boris Johnsons früherer Berater und heutiger Erzfeind Dominic Cummings nannte Truss zu seiner Zeit in Downing Street eine „menschliche Handgranate“. Sie habe das als Kompliment aufgefaßt, er habe damit aber sagen wollen, daß sie regelmäßig Chaos anrichte, anstatt ihre Aufgaben zu erledigen.
Auch Äußerungen aus ihrer Zeit als Spitzenvertreterin des Finanzministeriums (zwischen 2017 und 2019) zur Arbeitsmoral bringen Truss heute in Verlegenheit. In einer am 16. August d.J. von der Zeitung „The Guardian“ veröffentlichten Tonaufnahme hört man die frühere Aussage von Truss, britischen Arbeitern würden „Fertigkeit und Eifer“ fehlen. „Mentalität und Einstellung“ britischer Arbeiter seien mitverantwortlich für die relativ niedrige Produktivität des Landes. Britische Arbeiter müßten „mehr schuften“. Aus dem Umfeld von Truss hieß es nach Veröffentlichung der Tonaufnahme, die Bemerkungen seien „ein halbes Jahrzehnt alt“ und es fehle „Kontext“.
Viel heiße Luft und überschaubare Erfolge
Ins Unterhaus wurde sie erstmals 2010 gewählt, ihr Wahlkreis ist South West Norfolk. 2012 holte David Cameron sie als Unterstaatssekretärin in sein Kabinett. Unter Cameron und Theresa May war sie Ministerin, Boris Johnson diente sie als Handels-, Frauen- und aktuell als Außenministerin. Zuletzt wurde ihr zusätzlich die Aufgabe übertragen, die Beziehungen zur EU zu koordinieren – im Wesentlichen bedeutet das aber nur, den Streit über das Nordirland-Protokoll zu lösen. Der Erfolg läßt auf sich warten.
Truss selbst präsentierte sich demgegenüber als „Kandidatin des Volkes“. Sie bemühte sich, als klare, mutige und entschiedene Kandidatin zu wirken, als jemand, der – Seitenhieb gegen ihren innerparteilichen Konkurrenten Sunak – „nicht nur redet, sondern handelt“.
Auch unter Truss stehen die britischen Konservativen weiterhin vor der Frage, ob sie ihren populistischen Kurs der vergangenen Jahre fortsetzen wollen. Die Fraktion im Unterhaus gilt als eher pragmatisch, wohingegen die Tory-Basis als sehr konservativ gilt. Liz Truss steht nach Einschätzung von Experten nicht für einen Neuanfang. Sie gab sich in den letzten Jahren als harte Befürworterin des Brexit und will Boris Johnsons Politik im Wesentlichen fortsetzen – von der Abkehr vom Nordirland-Protokoll bis zur Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda.
Versöhnung ist nicht Truss’ Ding
Wichtigstes Thema im parteiinternen Wahlkampf war die Finanzpolitik. In diesem Punkt versprach Truss „Härte“: Sie versprach den Bürgern, die Steuern sofort zu senken. Wie sie das finanzieren will, ist allerdings nicht klar. Und das zu klären, dürfte ihre erste Bewährungsprobe sein.
Die aktuelle Lage der „Tories“ dürfte dabei für sie wenig hilfreich sein: Die konservative Partei gilt als sehr gespalten. Als Partei des Brexits gebe es zwei unterschiedliche Strömungen in der Partei. Die eine Hälfte der „Brexiteers“ stehe für niedrigere Steuern, weniger Regulierung und mehr freien Markt. Sie wolle Großbritannien in ein „Singapur in der Nordsee“ verwandeln. Die andere Hälfte sei protektionistisch, eher isolationistisch und plädiere für ein England, welches sich gegen den Rest der Welt abschottet.
Die Neue muss sich als Trümmerfrau bewähren
Zudem müssen sich Truss und die Tories sehr bald auf eine erkennbare Politiklinie einigen; denn es ist derzeit keinerlei Lösung für die großen Probleme wie den Brexit, das Nordirland-Protokoll oder die wirtschaftliche Situation im Land zu erkennen. Sich jetzt von Johnson zu distanzieren – die Gefahr besteht durchaus – ist keine Lösung. In Bezug auf das Nordirland-Protokoll hinterläßt Johnson nämlich eine verfahrene Situation. Johnson hatte das Thema ohne Not ideologisiert, sodaß ein Nachgeben in dem Sinne interpretiert werden könnte, daß Großbritannien damit erneut zum „Vasallenstaat der EU“ werde. Damit würde aber aus dem „Schaden Johnson“ ein Trümmerhaufen angerichtet.
Erschwerend kommt hinzu, daß Johnson keines seiner Wahlversprechen von 2019 eingelöst hat, was auch der Tory-Partei angekreidet wird. Damals hatte Johnson versprochen, den Norden des Landes zu stärken und daß durch den Brexit alles besser würde. Beides ist nicht eingetreten. Liz Truss übernimmt also nicht nur ein schweres Erbe, sondern sie wird neue Akzente, neue Schwerpunkt setzen müssen – und das auch in ihrer konservativen Partei.
Die Frage aber ist offen, ob die Tories zu ihrem ehemaligen Status als großer Volkspartei zurückfinde. Ob Truss die Offenheit, die Klarheit und die nötige Zuverlässigkeit dazu hat, muß sie erst noch beweisen. Jedenfalls muß sich EU-Europa weiterhin darauf einstellen, daß die britische Regierung eher für Schwierigkeiten denn für Gemeinsamkeiten steht.