Peter Helmes*
Man kann es nicht schönreden: Die CDU von heute ist längst nicht mehr vergleichbar mit der Partei, die unser Land aufgebaut und über Jahrzehnte geprägt hat. Die alten Wurzeln – liberal, sozial, konservativ – sind verkümmert und dem Zeitgeist geopfert worden. Über die letzten vier Jahrzehnte ist die Partei von Kopf bis Fuß sozialdemokratisiert worden – mit fleißiger Unterstützung ihrer jeweiligen Führung, besonders unter Merkel.
Die CDU von heute ist weder liberal noch konservativ, sondern folgt einem menschenbeglückenden sozialdemokratischen Leitbild, in dessen Mittelpunkt der Glaube an die Allmacht des Staates steht.
Der falsche Weg: Gesellschaftsjahr als allgemeine Pflicht
Nehmen wir als Beispiel dieser Wende den jüngsten Beschluß des CDU-Parteitages zur Einführung eines „Gesellschaftsjahres“: Spätestens seit der Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes wird in der CDU intensiv über Alternativen diskutiert. Und selbstverständlich weiß die Partei, was „die Menschen im Land“ bewegt und was sie wollen:
Viele (vor allem) junge Menschen möchten sich zeitweilig und konkret für unser Land und unsere Gesellschaft engagieren. Das sollten sie aber nicht ungesteuert oder gar freiwillig tun, sondern unter staatlicher Aufsicht – weshalb sich die CDU veranlaßt sieht, einen entsprechenden staatlichen Rahmen zu fordern. Das führte beim Bundesparteitag schließlich zu einem Beschluß zum sogenannten Gesellschaftsjahr. Damit ist letztlich ein verpflichtendes Dienstjahr gemeint. Die Begründung ist gut gemeint, aber greift zu kurz. Einer der Initiatoren, der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Baldauf, erläuterte den Antrag:
Wir leben in schwierigen Zeiten, in denen viele Menschen verunsichert sind – durch Pandemie, Krieg und Krisen wie den Klimawandel. Unsere Gesellschaft steht dadurch vor großen Herausforderungen. Um diese meistern zu können, müssen wir zu einem stärkeren Miteinander und gegenseitigem Verständnis, zu Toleranz und Offenheit für andere Meinungen oder Lebensweisen zurückfinden. Andernfalls sehe ich unsere freie und demokratische Gemeinschaft in ernster Gefahr. Der Staat braucht eine funktionierende Bürgergesellschaft. Ich bin der Überzeugung, daß ein Gesellschaftsjahr die Solidarität im Zusammenleben nachhaltig stärken wird, weil es Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenführt. Und ich bin der Überzeugung, daß ein solcher Dienst bereichernd und positiv auch für den Einzelnen ist.
Zwang zur Freiwilligkeit
Um wirklich etwas bewegen zu können – für unsere Gesellschaft und für den Einzelnen – müßten nach Baldaufs Meinung aber vor allem jene erreicht werden, die einem solchen Dienst für die Gemeinschaft eher fernstehen oder die freiwillig nicht über ihren eigenen Tellerrand hinaus blicken würden. „Deshalb ist das Gesellschaftsjahr aus meiner Sicht nur zielführend, wenn wir es verpflichtend einführen.“
Die CDU möchte eine einheitliche Regelung in ganz Deutschland statt föderaler Vielfalt. Dazu notwendige Änderungen im Grundgesetz will die CDU in den kommenden Jahren auf den Weg bringen. Sagen wir es höflich: Das ist „Zwang zur Freiwilligkeit“ – ein Widerspruch in sich und eine Kampfansage an den mündigen Bürger. Ahnungsvoll heißt es in der CDU-Charta zum neuen Grundsatzprogramm, die in Hannover verabschiedet wurde: „Für uns ist der Staat um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“
Baldauf zeigt mit seiner Begründung aber, daß er eines der wichtigsten Prinzipien seiner Partei nicht verstanden hat: Mensch geht vor Staat. Zwangsbeglückung gehört zum Sozialismus, aber nicht in eine an Freiheit, Selbstbestimmung und Freiwilligkeit orientierte Partei.
Er scheint zu ahnen, daß seine Grundlage wackelt. Und so greift er tief in die Kiste verbaler Klischees („vielseitiger Gewinn“):
Der Wegfall des Wehrdienstes hat eine große Lücke hinterlassen. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine müssen wir diese schleunigst schließen: Die Menschen sind in großer Sorge. Was wir jetzt brauchen, ist eine geordnete Debatte, wie eine solches Gesellschaftsjahr aussehen könnte.
Das Gesellschaftsjahr solle als vielseitiger Gewinn angesehen werden. Baldauf: „(…) für die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Menschen und für die Widerstandsfähigkeit unseres Staates“ (…) „Viele junge Menschen verlassen die Schule, ohne zu wissen, was sie danach machen möchten. Das Gesellschaftsjahr ermöglicht nach der Schule eine Zeit der Orientierung und ein bewußtes Wagen aus dem verschulten Leben und aus digitalen Blasen.“ Es biete die Chance, daß Menschen aus unterschiedlichsten Milieus sich untereinander und der Gesellschaft helfen könnten und dabei neue Fähigkeiten an sich entdecken, die sich bereichernd auf ihr ganzes Leben auswirken würden.
Baldauf weiter: „Wer sich für die Gemeinschaft engagiert, schaut nicht nur über den eigenen Tellerrand, sondern erwirbt dadurch auch ein hohes Maß an Sozialkompetenz, die seine Persönlichkeitsentwicklung und seine Bildungsbiografie positiv beeinflussen.
Ein Gesellschaftsjahr verhilft zu der wichtigen Erfahrung, daß alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gebraucht werden und daß Individualismus um die Werte von Gemeinschaft und Solidarität ergänzt werden muß.“
Die Einführung eines Deutschlandjahres stelle zudem „eine Chance dar, um die Bundeswehr wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken und den Beruf des Soldaten und der Soldatin aufzuwerten“ (Baldauf).
Es bleiben nur noch billige Argumente
Dieses „Argument“ ist billig – im doppelten Sinn des Wortes: Es kostet nichts und bringt nichts. Aber es zeigt beispielhaft die innere Krise der CDU: Wer sind wir, und was wollen wir? Wenn die Antwort darauf „Zwang“ heißt, sollte die Partei sehr schnell Abschied nehmen von ihrer Geschichte.
Gewiß, Verantwortung und Freiheit werden oft als Begriffspaar verwendet, auch von der CDU. Dennoch bleibt es ein massiver Eingriff in die Freiheit des Einzelnen, würde die CDU nach der Aussetzung der Wehrpflicht unter der CDU-Kanzlerin Angela Merkel nun eine neue Dienstpflicht einführen.
Verfassungsrechtlich stünde das Pflichtjahr auf tönernen Füßen. Daß es je eingeführt würde, ist nicht zu erwarten. Wohl aber zeigt die CDU mit dieser Forderung, daß auch sie in der Praxis eben doch vom Staat her denkt und nicht, wie sie es in zahlreichen Anträgen und Reden, auch des Vorsitzenden Merz, behauptet, vom Einzelnen her.
Gleichheit statt Gerechtigkeit
Dasselbe schizophrene Mißverhältnis drückt sich im Nebeneinander von Gleichstellungskritik und Gleichstellungspolitik aus. Hier war der Parteitag bereit, die Gerechtigkeit über Bord zu werfen zugunsten eines enormen Eingriffs in die innerparteiliche Demokratie – und Friedrich Merz war an entscheidender Stelle beteiligt, warf sich persönlich für eine sukzessive bis auf 50 Prozent ansteigende innerparteiliche Frauenquote in die Bresche.
Die Quote ist das schärfste Instrument der Gleichstellungspolitik. Die CDU will zugleich als staatskritisch gelten und als staatsfreundlich, als modern und modernitätsskeptisch, als irgendwie konservativ und ganz gewiß fortschrittlich. Das aber ist kein Ausdruck von politischem Realismus, sondern eher von politischer Schizophrenie.
Die CDU wettert in ihrer Charta gegen die „identitätspolitische Betrachtungsweise, die ein Gemeinwesen in einander gegenüberstehende Gruppen aufspaltet“. Gleichzeitig vollzieht die CDU eine identitätspolitische Wende, spaltet selbst die Gesellschaft auf, indem sie vom Staat mehr Gleichstellung und von sich eine Frauenquote fordert. Die Doppelmoral wird zur Geschäftsgrundlage.
Dasselbe Strickmuster wird bei den Entlastungspaketen deutlich, mit denen die Union die Ampelregierung zu übertreffen versucht. „Noch mehr, noch teurer, noch fragwürdiger“ steht unausgeschrieben über dem Wünschekanon der CDU. Da ist linkes Wünschdirwas der Vater des Gedankens – und zeigt im Übrigen hierbei den auch in der Union zunehmenden Glauben an die Allmacht und Allzuständigkeit des Staates. Die gerade in dieser Partei so oft beschworenen Begriffe von Leistungsprinzip und Eigenverantwortung werden damit zu wertlosen Vokabeln.
Macht Merz das ,was er will – Oder was er glaubt, tun zu nüssen?
Spätestens jetzt sollte man aber mal innehalten und fragen: Will Merz das alles wirklich? Ist das die CDU, die er steuern will? Ich glaube das nicht. So abgeschmackt der Trick – so er einer ist – auch sein mag: Quoten-, Gleichstellungs- und Staatsseligkeit gehört gewiß nicht zum ideologischen Instrumentenkoffer eines Friedrich Merz. Aber eine Deutung sei erlaubt: Die Landtagswahl in Niedersachsen steht vor der Tür, und dafür will Merz die CDU so „fortschrittlich“ wie möglich erscheinen lassen – eine billige Taktik und schon gar keine nachvollziehbare Strategie.
Und man muß mitberücksichtigen, daß alle diese auf dem Parteitag beschlossenen Heilsmittel nicht – wie üblich – „mit großer Mehrheit“ beschlossen wurden. Zum Beispiel stimmten rd. 42 Prozent der Delegierten gegen die Frauenquote, sogar 44 Prozent gegen die „Gleichstellung“.
Bei den Befürwortern wird sich die Begeisterung wohl in engen Grenzen halten. Zum Beispiel registriert die Junge Union eine wachsende Zahl von Austritten, und auch in der Mittelstandsvereinigung ist man unzufrieden. Und das bei den eigentlichen Befürwortern und Stützen von Merz!
Freiheit, Gerechtigkeit, Identität
Also Notiz fürs Merkbuch von Friedrich Merz als Lehre aus den Parteitagsbeschlüssen: Die Beschlüsse von Hannover sind eher Wasser auf die Mühlen der Grünen, aber bitter für viele „alte“ CDU-Mitglieder. Und wer auf eine schwarz-grüne Koalition hofft, wird einen langen Atem brauchen. Die Verlierer bei diesem Spiel heißen Merz und CDU, zumal die Christdemokraten noch weit davon weg sind, ihr Kernproblem zu lösen: nämlich ihr ungeklärtes Verhältnis zu den zentralen Fragen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der eigenen Identität. Vielleicht glaubt die Union, daß solche Fragen heute nicht mehr „modern“ sind. Dann aber sollte sie das offen sagen – und sich auflösen. Denn im linken Parteienspektrum ist dieser Platz schon längst besetzt.
A propos besetzt: Der Platz für eine deutlich erkennbare und akzeptable Opposition ist noch immer frei. Auf was wartet die CDU?
***
*Dieser Beitrag stellt die vor einigen Tagen angekündigte Ergänzung meines Artikels “Parteitag: Die CDU bleibt ein Risikopatient” dar.