Putins zweite Westfront verläuft entlang unserer kritischen Infrastruktur

Peter Helmes

Nach den Attacken auf die Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 ist nicht geklärt, wer dafür verantwortlich ist. Allerdings verdichten sich die Indizien, daß es sich um eine „False Flag“-Aktion Russlands gehandelt hat. So erklärten mehrere Moskauer Analysten, daß  der nicht zerstörte Strang von Nord Stream 2 ja weiter einsatzbereit wäre, wenn nur Deutschland endlich die Erlaubnis gäbe. Die Explosionen in der Ostsee unterstützen somit die seit Februar bestehende Forderung des Kremls.

Es passiert also, was von vielen befürchtet worden ist: Pünktlich zu Beginn der kalten Jahreszeit nutzt der russische Präsident Putin wieder einmal Gas als Waffe und versucht so, den Druck auf den Westen zu erhöhen. Dieser soll die Unterstützung für die Ukraine aufgeben, so die Botschaft des Kremls. Man muß also davon ausgehen, daß die russischen Gasexporte nach Europa demnächst wirklich Geschichte sein werden. Putin hat dann das geschafft, was nicht einmal im Kalten Krieg möglich war: die energiewirtschaftlichen Bande zwischen Russland und Mitteleuropa zu durchtrennen.

Vom sanften Druck zu brutalen Schlägen

Der Verdacht liegt nahe, daß die mutmaßliche Sabotageaktion Teil der hybriden Kriegsführung des Kreml ist, indem die Aufmerksamkeit abgelenkt und Unsicherheit erzeugt wird. Denn sicher ist eines: Seit der Gegenoffensive der Ukraine hat Putin seinen Einsatz erhöht. Die Teilmobilmachung steigert die Unzufriedenheit unter den Russen und macht es dem Präsidenten noch schwerer, eine Niederlage in der Ukraine zu akzeptieren. Damit wächst auch seine Bereitschaft, zu immer brutaleren Mitteln zu greifen. Blasen an der Oberfläche zeigen, daß im Untergrund etwas passiert – nicht nur in der Ostsee, sondern vor allem in der russischen Bevölkerung, die nicht unter Putins rücksichtslosem Krieg leiden und dafür sterben will

Wenn dieser Vorfall nun nicht zu einem drastischen Anstieg der Gaspreise führt, der den Westen davon abhalten könnte, die Ukraine weiter zu unterstützen, bleibt Moskau dann nur noch das letzte Mittel, zu Atomwaffen zu greifen? Zeitpunkt und Ort der Nord-Stream-Lecks sind jedenfalls kein Zufall. Wladimir Putin hat in den letzten Wochen an der ukrainischen Front so viele Niederlagen erlitten, daß er die Dynamik des Krieges so schnell wie möglich umkehren muß, wenn er an der Macht bleiben will.

Wer profitiert von dieser Sabotage?

An erster Stelle steht Russland. Die undichten Stellen jagen wieder einmal Schockwellen durch den Gasmarkt. In den letzten Tagen hatte sich der Gaspreis fast halbiert. Jetzt ist er wieder in die Höhe geschossen. Moskau braucht das Geld aus dem Gashandel, um seinen Krieg weiter zu finanzieren.

Es gibt allerlei Theorien, wer für die Sabotage an den Gaspipelines in der Ostsee verantwortlich ist, aber in Wahrheit zeigen alle Pfeile in Richtung Russland. Nachdem der russische Präsident Putin die Gaspipelines nicht mehr nutzen kann, um die Energieversorgung des Westens zu beeinflussen, kann er wenigstens versuchen, Unruhe auf den Märkten auszulösen und auf diese Weise die Verbündeten der Ukraine abzustrafen.

Der Meeresgrund ist praktisch nicht schützbar

Es ist auch kein Zufall, daß die feigen Sabotageakte in internationalen Gewässern erfolgten; denn auf diese Weise sind sie kein Kriegsakt gegen ein anderes Land, und damit sinkt das Risiko eines NATO-Gegenschlags. Mit dem Sabotageakt rückt der Krieg in der Ukraine näher. Gleichzeitig wird eine Bedrohung vor Augen geführt, die lange Zeit nur für graue Theorie gehalten wurde: die Verletzlichkeit strategischer Infrastruktur auf dem Meeresgrund.

Durch unterseeische Kabel und Verbundnetze werden ganze Länder und Regionen mit Gas, Energie oder Internet versorgt. Ohne sie würden die Finanzmärkte und der freie Informationsaustausch zum Erliegen kommen. Verdeckte Angriffe wie jene auf die Nord-Stream-Pipelines könnten einen Großteil der westlichen Wirtschaft auf einen Schlag ebenso dysfunktional machen wie die russische durch die vom Westen verhängten Sanktionen.

Unsere Kriegsfront ist die kritische Infrastruktur

Es ist an der Zeit, daß Großbritannien, die NATO und die Europäische Union kritische Infrastrukturen als Front in dieser neuen Ära der Kriegsführung betrachten. Das bedeutet, daß sie die Unterwasserüberwachung verstärken müssen.

Die Nord-Stream-Pipeline-Lecks vergrößern ohne Zweifel die Spannungen und vertiefen das Mißtrauen zwischen Russland und dem Westen. Die Zerstörung ziviler Infrastruktur ist auf das Schärfste zu verurteilen. Den EU-Mitgliedsländern droht nicht nur ein eisiger Winter, sondern auch eine Pleitewelle und Rezession. Durch diesen Sabotageakt ist der ohnehin kaum vorhandene Spielraum für politische Verhandlungen mit Russland noch einmal verkleinert worden.

Der Sabotage-Akt gegen Nord Stream 1 und 2 bringt damit eine neue Qualität der Bedrohung und militärischen Ungewißheiten in den Krieg, die weltweit Konsequenzen haben dürfte. So wird sich wohl der Druck auf den Iran erhöhen, dessen Atomprogramm im Westen nun mit noch größerem Vorbehalt gesehen wird. In dieser angespannten Zeit besucht nun nach Nancy Pelosi US-Vizepräsidentin Kamala Harris Japan, den großen Rivalen Chinas. Und in dieser Zeit der großen Anspannungen gelingt es immer weniger, die großen Umweltkrisen in den Griff zu bekommen, wie sich zuletzt in Pakistan zeigte. Immer deutlicher zeigt sich, daß  die großen Krisen miteinander verwoben sind.

Putin droht erneut mit dem Einsatz von Nuklearwaffen

Wie kann dies verhindert werden? Als Antwort auf diese Frage könnte die Kuba-Krise in den 1960er-Jahren dienen. Der damalige US-Präsident John Kennedy verlangte von der Sowjetunion konsequent die Beseitigung der nuklearen Raketen aus Kuba. Jetzt braucht es wieder eine solche politische Figur, die Russland unmissverständlich klar macht, daß es seine Kriegsziele auch mit dem Einsatz von Atomwaffen nicht erreichen wird. In der Kuba-Krise wurden zudem mit dem sowjetischen Botschafter geheime Verhandlungen geführt, um eine für beide Seiten gesichtswahrende Lösung zu finden. Können die USA und Russland zu solch diplomatischem Geschick zurückfinden? Nun werden Klugheit und Mut auf die Probe gestellt.

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