Peter Helmes
Unsere Achillesverse ist der Sozialstaat, der so schlecht verwaltet ist, daß er nicht schnell und zielgenau agieren kann. Ich verstehe, daß es unter diesen Bedingungen nicht möglich ist, z.B. den Gaspreisdeckel einkommens- und bedarfsabhängig auszugestalten – was der beste Weg wäre, um zielgenau zu entlasten und gleichzeitig die richtigen Menschen dazu zu bewegen, Gas einzusparen.
Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie die Krise auf dem Rücken der Menschen, die wenig haben, ausgetragen wird. Denn: Das Geld wird per Gießkanne verteilt. Das heißt, Menschen mit einer großen Wohnung mit hohem Gasverbrauch bekommen in Euro viel mehr bezahlt als Menschen, die in einer kleinen Wohnung leben und weniger verbrauchen. – Ein weiteres, eklatantes Beispiel: Der Tankrabatt, der Geld von unten nach oben umverteilt hat. Die Menschen, die wenig haben, haben oft auch kein Auto. Somit hat ihnen diese Maßnahme nichts gebracht.
Der Sozialstaat versagt in einem gewissen Maße
Das liegt aber nicht daran, daß er nicht genug tut – er tut sogar sehr viel. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr bislang 190 Milliarden Euro an Entlastungspaketen aufgelegt. Mit annähernd fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ist das mehr, als fast jedes andere Land in Europa gemacht hat.
Deutschland bekommt die Entlastungen nicht zielgenau hin. Das heißt: Die Hilfen kommen nicht ausreichend bei den Menschen an, die diese wirklich benötigen. Kurz gesagt: Der Staat tut viel, aber nicht gut genug.
Mit 10,4 Prozent lag die Inflation auch im Oktober auf Rekordniveau. Besonders schnell steigen die Preise für Energie und Lebensmittel. Es sieht ganz danach aus, daß Deutschland am Beginn einer Armutswelle steht. Der Anstieg der Armut – ein Trend der vergangenen 20 Jahre – wird sich in dieser Krise vertiefen. Die Inflation ist zutiefst unsozial. Und was die Lage verschärft: Menschen mit geringen Einkommen sind allein durch die Energiekosten mit einer drei- bis viermal höheren Inflation konfrontiert als Menschen mit hohen Einkommen.
Inflation trifft jeden Bürger unterschiedlich hart
Die Zahlen, die das Statistikamt veröffentlicht, sind Durchschnittsangaben. Persönlich aber betrifft die Inflation jeden in unterschiedlichem Ausmaß. Für ärmere Menschen ist die Inflation viel höher, weil sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für die Dinge ausgeben müssen, die jetzt besonders teuer geworden sind – eben für Energie und Nahrungsmittel.
Das Besondere in der jetzigen Situation ist aber, wie viele Menschen betroffen sind: Die Krise geht in die Mitte der Gesellschaft hinein. Die steigenden Preise treffen nicht nur jene, die von relativer Armut betroffen sind, die also weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben. Das sind in Deutschland schon rund 17 Prozent der Bevölkerung.
Jetzt gerät aber auch eine vierköpfige Familie in Schwierigkeiten, die mit 35.000 Euro Bruttoeinkommen pro Jahr eigentlich zur Mittelschicht gehört. Diese Familie kann mit 2.200 Euro netto im Monat nicht einfach mal 400 oder 500 Euro mehr für ihre Heizkosten, Lebensmittel oder Mobilität bezahlen.
Zum ersten Mal gerät der Mittelstand in eine echte Schieflage
Wir sprechen hier von rund 40 Prozent der Bevölkerung. Darunter fallen auch einige mit ganz ordentlichen Einkommen, die die hohen Preise jetzt trotzdem nicht stemmen können. Einerseits liegt das daran, daß viele Menschen trotz Arbeit nur wenig haben. Hinzu kommt aber ein sehr deutsches Problem: Fast 40 Prozent der Menschen hierzulande haben praktisch keine Ersparnisse.
Sie können die steigenden Kosten nicht aus ihrem monatlichen Einkommen stemmen, gleichzeitig aber auch nicht auf Rücklagen zurückgreifen. Das ist ein riesiges Problem. In Deutschland haben sich viele auf den Sozialstaat verlassen, der jetzt in dieser Krise nicht ausreichend liefert.
Auch in der Wohnungsbaupolitik der vergangenen Jahre ist einiges falsch gelaufen. Die Kosten für die Mieten sind in den letzten zehn Jahren zum Teil deutlich stärker gestiegen als die Löhne. Zahlreiche Menschen müssen jetzt also nicht nur mehr für Energie ausgeben, sondern hatten in den vergangenen Jahren auch massive Anstiege ihrer Wohnkosten.
Es hat gerade erst begonnen…
Wir werden noch einige Jahre unter dieser Krise leiden. Denn wir sind noch nicht am Ende der Fahnenstange. Für dieses Jahr erwarten wir eine Inflationsrate von durchschnittlich neun Prozent, im nächsten Jahr von sieben oder acht Prozent. Die Löhne steigen aber voraussichtlich weit weniger. Die Folge: In den nächsten anderthalb Jahren wird es für die Menschen weiter schlimmer werden, weil ihre Kaufkraft immer weiter sinkt.
Durch die Energiekrise gibt es einen langanhaltenden Schaden – nicht nur für wenige, sondern für sehr viele Menschen. Daran trägt die falsche Energiepolitik der vergangenen Jahre die Hauptschuld. Wir haben uns darauf verlassen, daß billiges Gas schon kommen wird.
Falsche Wohnungsbaupolitik, falsches Sparen
Hinzu kommen noch andere Probleme, die immer wieder übersehen werden: In der Wohnungsbaupolitik der vergangenen Jahre ist einiges falsch gelaufen. Die Kosten für die Mieten sind in den letzten zehn Jahren zum Teil deutlich stärker gestiegen als die Löhne. Zahlreiche Menschen müssen jetzt also nicht nur mehr für Energie ausgeben, sondern hatten in den vergangenen Jahren auch massive Anstiege ihrer Wohnkosten.
Und selbst bei Leuten, die Geld auf die Seite legen können, gibt es ein Problem: Die Deutschen sparen schlecht, nämlich häufig in der Form von Lebensversicherungen, oder sie geben Geld auf ein Sparkonto – investieren aber nicht in Immobilien oder in Aktien. Wenn das mehr der Fall wäre, hätten viele Deutsche sogar vom Anstieg der Immobilienpreise der vergangenen Jahre profitiert.
Breiten Bevölkerungskreisen droht Armut
Deutschland steht vor einer Armutswelle. Die Inflation ist zutiefst unsozial. Menschen mit geringen Einkommen sind allein durch die Energiekosten mit einer drei- bis viermal höheren Inflation konfrontiert als Menschen mit hohen Einkommen.
Die Zahlen, die das Statistikamt veröffentlicht, sind Durchschnittsangaben. Persönlich aber betrifft die Inflation jeden in unterschiedlichem Ausmaß. Für ärmere Menschen ist die Inflation viel höher, weil sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für die Dinge ausgeben müssen, die jetzt besonders teuer geworden sind – für Energie und Nahrungsmittel. Menschen mit wenig Einkommen leiden gerade besonders. Die hohen Preise belasten diese Menschen stark. Das Besondere in der jetzigen Situation ist aber, wie viele Menschen betroffen sind: Die Krise geht in die Mitte der Gesellschaft hinein.
Armut ist kein Phänomen der intellektuellen Unterschicht
Die steigenden Preise treffen nicht nur jene, die von relativer Armut betroffen sind, die also weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben. Das sind in Deutschland schon rund 17 Prozent der Bevölkerung. Jetzt gerät aber auch eine vierköpfige Familie in Schwierigkeiten, die mit 35.000 Euro Bruttoeinkommen pro Jahr eigentlich zur Mittelschicht gehört. Diese Familie kann mit 2.200 Euro netto im Monat nicht einfach mal 400 oder 500 Euro mehr für ihre Heizkosten, Lebensmittel oder Mobilität bezahlen. Besonders heftig bekommen Familien dies zu spüren, wenn sie einen Immobilienkredit abbezahlen müssen oder verschuldet sind, aber auch Unternehmen, die einen Kredit aufnehmen müssen.
Die Frage ist, inwiefern es gelingt, ein gewisses Gleichgewicht zwischen zwei wünschenswerten, aber im Widerspruch zueinanderstehenden Zielen zu erreichen: die Bekämpfung der Inflation einerseits und Wirtschaftswachstum andererseits. Bei diesem Stichwort muß ich an eine politisch-ökonomische Binsenweisheit erinnern: Unser Wirtschaftsmodell funktioniert nur, wenn es einen sozialen Ausgleich gibt – wenn der Kuchen in der Wahrnehmung der meisten Menschen im Land fair verteilt wird. Doch das ist immer weniger der Fall.
Und das kann zu stärkeren politischen Konflikten und einer Aushöhlung der Demokratie führen. Gleichzeitig ist es so: Die Transformationen hin zu Klimaneutralität, technologischem Wandel und Digitalisierung erfordern eine große Anpassung der Menschen. Wenn es uns nicht gelingt, die soziale Akzeptanz für diese Transformationen herzustellen, werden diese scheitern.
Die Notenbank ist kein Zauberer
Die Notenbank kann wenig gegen die Auslöser des Inflationsschubs ausrichten. Weder kann sie direkt auf die hohen Energiepreise Einfluß nehmen noch die gestörten Lieferketten geradebiegen. Allerdings steht es in ihrer Macht, die sogenannte importierte Inflation dadurch zu drosseln, daß sie den Kursverfall des Euro durch höhere Zinsen stoppt. Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte also nicht nur die Zinsen weiter erhöhen, sondern auch die gewaltige Bilanzsumme deutlich reduzieren. Dennoch werden weitere Zinsschritte folgen müssen, um die Inflation in Zaum zu halten – selbst wenn der Preis dafür eine Rezession in vielen Ländern der Eurozone ist.
Die Ökonomen der DZ Bank haben letzte Woche errechnet, daß die Bürger zwischen Nordsee und Alpen im Jahr 2022 voraussichtlich einen kumulierten Kaufkraftverlust von knapp 400 Milliarden Euro erleiden werden. Der Grund dafür ist der massiv negative Realzins von fast minus-7 Prozent. Der Realzins errechnet sich aus Nominalzins minus Inflation. Bereits im vergangenen Jahr betrug er –2,5 Prozent.
In der EZB verschloß man lange die Augen vor dem stetigen Inflationsanstieg, der schon deutlich vor dem Russland/Ukraine-Kriegsausbruch begonnen hatte. Inzwischen hat der EZB-Rat allerdings die Zeichen der Zeit erkannt. Dort sind nun die geldpolitischen Falken am Drücker, die sich im Gegensatz zu den Tauben für eine restriktive und stabilitätsorientierte Geldpolitik einsetzen.
Zinserhöhungen sind kein Allheilmittel
Angesichts der enormen Teuerung, die z.B. in den baltischen Staaten seit Monaten bei über 20 Prozent liegt, ist es richtig und angemessen, daß die EZB am Donnerstag die Zinsen trotz einer heraufziehenden Rezession zum zweiten Mal hintereinander um satte 75 Basispunkte erhöht hat. Der Leitzins, der sogenannte Hauptrefinanzierungssatz, notiert ab dem 2. November bei 2 Prozent und der am Geldmarkt wichtigere Einlagensatz für Geschäftsbanken bei 1,5 Prozent.
Im Dezember dürfte es eine weitere kräftige Zinserhöhung geben. An den Finanzmärkten wird für den Frühsommer kommenden Jahres ein Zinsniveau von rund 3 Prozent erwartet. Daß dies dann bereits ausreicht, um die Inflation wieder auf das mittelfristige Ziel der Notenbank von 2 Prozent zu senken, wird von einigen Ökonomen allerdings bezweifelt.
Deshalb ist es umso wichtiger, daß die Falken im EZB-Rat nun am Drücker bleiben und die Chance für eine geldpolitische Normalisierung nutzen. Dazu sind nicht nur kräftige Zinserhöhungen nötig, dazu gehört auch die Reduktion der gewaltigen Bilanzsumme. Sie ist von einst rund 2 Billionen auf knapp 9 Billionen Euro gewachsen, was 65 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der Euro-Zone entspricht.
Enorm aufgeblähte Bilanzsumme
In der Bilanz entfallen gut 2 Billionen Euro auf subventionierte Kredite, welche die EZB in den vergangenen Jahren den Banken zur Verfügung gestellt hat, sowie knapp 5 Billionen Euro auf die beiden gigantischen Wertpapier-Kaufprogramme der letzten Jahre, nämlich das allgemeine Kaufprogramm (APP) und das Pandemie-Kaufprogramm (PEPP).
Am einfachsten wären zwei Maßnahmen: Zum einen sollte die Notenbank nun Anreize dafür setzen, daß die Geschäftsbanken ihre subventionierten Kredite frühzeitig zurückzahlen. Richtigerweise packt der EZB-Rat das Thema nun ebenfalls an. Zum anderen sollte die Notenbank möglichst bald damit aufhören, die Gelder aus fälligen Anleihen fortdauernd zu reinvestieren. Diese Entscheidung schiebt die EZB aber unverständlicherweise weiterhin vor sich her.
Zum Ausstieg aus den Reinvestitionen würde sich zunächst am besten das allgemeine Kaufprogramm eignen, wenngleich es auch beim Pandemie-Kaufprogramm kaum noch Gründe für fortlaufende Reinvestitionen gibt. Mit Letzterem kann die EZB aber besser steigende Zinsen am Markt für Staatsanleihen dämpfen, sollten diese aus ihrer Sicht zu stark anziehen.
Sparer müssen mehr Risiken eingehen
Spätestens im ersten Quartal 2023 wird die Inflation voraussichtlich zurückgehen, zeitgleich dürfte sich die Euro-Zone aber in einer Rezession befinden. Die EZB sollte dann nicht die Fehler vieler Notenbanken der 1970er Jahre wiederholen und die Inflationsbekämpfung zu früh einstellen.
Die Teuerung könnte dann nämlich, wie damals, erneut aufflackern, was später noch deutlichere Zinserhöhungen notwendig machen würde. Die Gefahr ist durchaus real, daß die Falken im EZB-Rat im nächsten Jahr wieder an Einfluß verlieren und sich die Mehrheit der Zins-Tauben einmal mehr durchsetzt.
Für Sparer wird sich am widrigen Umfeld ohnehin vorerst nichts ändern. Wer sein Geld auf das Giro- oder Sparkonto legt oder in sehr niedrig verzinste Papiere investiert, spart sich weiter arm. Diesem Schicksal kann nur entkommen, wer höhere Risiken eingeht und in riskanteren Anlageklassen wie beispielsweise Unternehmensanleihen oder Aktien anlegt.