Dieter Farwick, BrigGen a.D. und Publizist *)
Nichts ist mehr sicher! – Die Null-Covid 19-Strategie Chinas z.B. ist gescheitert und zeitigt schwere Folgen. Präsident Xi Jinping hat die ersten Erfolge seiner Bekämpfung des Coronavirus im Vergleich zum dekadenten „Westen“ zwar als Beweis für die Überlegenheit des chinesischen Systems gefeiert.
Aber er hat China in seiner bisherigen Regierungszeit nach seinem Willen in eine strenge Autokratie verwandelt. China ist heute ein nahezu totaler Überwachungsstaat. Das Land ist gespickt mit Überwachungssensoren, die die Gesichts- und Bewegungserkennung perfektioniert haben.
Dazu kommt in weiten Teilen des Landes ein ausgeklügeltes Punktesystem, das Leistung und Verhalten eines jeden Bürgers in Punkte umwandelt. Diese Bilanz entscheidet die Partei- und Berufskarriere sowie das gesamte Leben seiner Umgebung. Sie entscheidet auch über Privilegien für gutes Verhalten – z.B. sind Fernreisen ins Ausland eine besondere Auszeichnung. Auf der roten Punkte-Seite drohen Berufsverbot oder Umerziehungslager
Ende des „goldenen Käfigs“
China wurde zum Goldenen Käfig, solange der Generationenvertrag funktionierte: Die Regierung garantiert das Wachstum und die Bevölkerung die Ruhe. Dieser Vertrag ist in großer Gefahr. Das Wachstum bleibt hinter den Erwartungen zurück, und der Widerstand der Bevölkerung gegen den „Hausarrest“ als Quarantäne und die wiederholten Lockdowns wachsen.
Das Regime wollte die Pandemie austrocknen. Geschah ein Ausbruch der Pandemie in einem Wohnhaus, wurde das gesamte Viertel mit zwanzig oder dreißig Millionen Bewohnern hermetisch abgeriegelt, die öffentlichen Verkehrsmittel blieben in ihren Hangars, der Flugverkehr wurde eingestellt, in der Industrie wurden Unternehmen stillgelegt, die Arbeitslosen verließen die Küstenregion und suchten ihre Familien auf dem Lande auf, Lieferketten zerbrachen, wichtige Ersatzteile konnten nicht in die Produktionsstätten geliefert werden.
Bis zum Parteikongress im November schien alles noch hinnehmbar. Xi Jinping wurde auf Lebenszeit in seinem Amt bestätigt. Er konnte seine dritte Amtszeit beginnen. Das Politbüro wurde ausschließlich mit loyalen Anhängern des Präsidenten besetzt. Ein Vorfall wurde allerdings im Fernsehen gesendet, der erstaunte.
Öffentliche Demütigung hat in China eine lange Tradition
Der Vorgänger von Xi Jinping saß auf dem Ehrenplatz unmittelbar neben Xi Jinping, bis er von zwei Ordnungshütern mit Zwang aus dem Saal geführt wurde – ohne jede Reaktion der 7000 Kongressteilnehmer. Selbst sein Nachbar Xi Jinping blieb auf seinem Stuhl sitzen. The show must go on.
Das britische Politikmagazin „The Economist“ brachte in seiner Folge vom 3. Dez 2022 mehrere Beiträge, die die Lage in China schonungslos darstellten. Es ist überraschend, dass die Weltöffentlichkeit die Zerstörung des Sondergebietes Hongkong kaum wahrgenommen hat. Hongkong ist heute eine chinesische Provinz ohne Sonderrechte.
Xi Jinping hatte vorher die chinesischen Supergiganten im Tech-Bereich – wie z.B. Jack Ma – aus ihren bequemen Sesseln gestoßen. Sie sind in der Öffentlichkeit kaum noch zu sehen. Für Xi ist die Partei die entscheidende Führungsmacht in China.
„The Economist“ hat traditionell gute Erkenntnisse über die Entwicklungen in China. Ein erstes Fazit: Mit seiner rigiden Null-Covid 19 Strategie, die er selbst befohlen hatte, hat Xi Jinping seinem Land und seiner Bevölkerung schwer geschadet.
Was sind die Gründe für den Niedergang?
- Es ist Chinas Führung gelungen, die vielen Demonstrationen in etlichen Teilen des Landes vor den ausländischen Korrespondenten zu verbergen oder diese so einzuschüchtern, dass sie auf Berichte verzichtet haben, um ihre Lizenz nicht zu verlieren oder nicht ausgewiesen zu werden.
- Die wiederholten Lockdowns in den Weltstädten wie Shanghai mit seinen 26 Millionen Einwohnern haben Unternehmen und die Bevölkerung zermürbt.
- Die kilometerlangen Staus vor und in dem Hafen von Shanghai machten ein Ent- und Beladen der Frachtschiffe unmöglich.
- Alle betroffenen Wirtschaftszweige litten unter Lieferengpässen und Arbeitskräftemangel, da zu viele Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verlassen hatten, Selbst der internationale Flugverkehr hatte Probleme, den Flugverkehr, der für China besonders wichtig ist, mit starken Einschränkungen aufrechtzuerhalten. In manchen Flughäfen wurde der Flugverkehr zum Erliegen gebracht. Die Fernzüge konnten das riesige Land kaum noch durchqueren.
- Ein besonders trauriges Kapitel war die Versorgung der infizierten Menschen, da die Krankenhäuser überfüllt waren und wichtiges Hilfsgerät fehlte – wie z.B. technische Beatmungsgeräte.
Die Gesamtzahl der Infizierten und die Zahlen der Todesfälle sind noch geheim. Die Schätzwerte bewegen sich bei den Todesfällen im Bereich von rd. 5 Millionen. Die Dunkelziffer wird deutlich höher eingeschätzt. Bei einer Gesamtbevölkerung von 1.4 Milliarden Einwohnern sind einige Millionen hinzunehmen, aber eines ist wesentlicher: Das Vertrauen in die Regierung ist angeschlagen, der Schock sitzt tief.
In 71 Städten kam es zu Demonstrationen – besonders mit Jugendlichen. Sie waren einfallsreich: Sie zeigten Spruchbänder mit Parolen gegen die Regierung, aber auch gegen den Präsidenten, der zum Rücktritt aufgefordert wurde.
In der Hauptstadt Urumqui der Provinz Xijang verbrannten 10 Uiguren. Sie konnten aus dem brennenden Hochhaus nicht fliehen, weil alle möglichen Notausgänge versperrt waren. Dieses Menschenopfer verstärkte den Widerstand. Andere Demonstranten hielten weiße, blanke Papiere vor ihr Gesicht, um zu zeigen, dass sie zum Schweigen verurteilt waren.
Der Generationenvertrag ist schwer beschädigt
Die Regierungen haben seit Jahren ihrer Bevölkerung versprochen, deren Wachstum – sprich Wohlstand – zu fördern. Das gelang ihr auch über Jahre. Die Bedingung für die Bevölkerung war: Ruhe bewahren und der Regierung vertrauen. Dieser Vertrag hat über Jahrzehnte mehr oder weniger gehalten – bis zum Jubiläum, dem 100. Geburtstag der Kommunistischen Partei im November 2022. Das gilt von nun an nicht mehr. Jede chinesische Regierung wird Jahre und Jahrzehnte brauchen, um das Vertrauen der chinesischen Bevölkerung zurückzugewinnen.
In der Rivalität um die Nr.1 mit den USA hat China deutlich an Boden verloren
Das gilt verstärkt auch für Russland. Egal, wie der Krieg in der Ukraine für Russland ausgeht, Russland ist in das Mittelfeld der Nationen abgerutscht. Ein Comeback ist nicht in Sicht. Es wird spannend sein, welche Zahlen zu Infektionen die chinesische Regierung nach Abschluss des Jahres offiziell verkünden wird.
Seit Jahren werden Angaben zum Wachstum politisch gefärbt. Im Januar 2023 wird das schwierig werden. Experten erwarten, dass der GDP (Gross domestic product / Brutto-Inlandsprodukt) um 20-30 Prozent für das Jahr 2022 abnehmen wird. Damit kann China viele der genannten Ziele in den nächsten Jahren nicht mehr erreichen. Die chinesische Bevölkerung ist misstrauisch geworden. Ein strategischer Fehler des „Alleinherrschers“ war auch sein Verbot, seine Untertanen mit ausländischen Impfstoffen zu impfen. Ältere Menschen und Kinder sind unzureichend medizinisch versorgt worden.
Xi Jinping lockert seine Null-Covid-Strategie auf
Der Druck der Straße und der Medien ist jedoch so stark geworden, dass der Präsident die Strategie geändert hat. Er hat verfügt, dass ab sofort ältere Menschen
- über 60-Jährige – und Kinder – verstärkt zu impfen seien. Ob dies gelingt, ist jedoch fraglich.
- Sollten die „anfälligen“ älteren Menschen und Kinder nicht massiv geimpft werden, erwarten chinesische Virologen rd. 650 000 Neuinfektionen in den nächsten Jahren. Das hieße, dass fast die Hälfte der 1,4 Milliarden Chinesen infiziert würde. Eine unglaubliche Zahl, die die Bedeutung Chinas in der Welt dramatisch senken würde. Sie würde allenfalls eine gedemütigte Mittelmacht werden.
Ist ein Angriff gegen den Inselstaat Taiwan wahrscheinlich?
In der Vergangenheit der Menschheitsgeschichte wählten Herrscher die Option eines Angriffs nach „draußen“, um von nationalen „Katastrophen“ abzulenken, was meistens nicht funktionierte. Xi Jinping und seine Vorgänger haben Taiwan als „abtrünnige Provinz“ bezeichnet, die man eines Tages wieder in das „Festland-China“ zurückholen würde.
Taiwan hat sich zu einem High-Tech-Staat entwickelt – besonders in der Halbleiterproduktion. Dennoch – China würde in einem Angriff Taiwan besiegen, falls die Garantiemächte Taiwans – wie z.B. die Vereinigten Staaten, Japan, Südkorea und Vietnam – nicht in den Krieg einsteigen würden. Das ist in meinen Augen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Sie würden „ihr Gesicht verlieren“ , was in Asien eine Todsünde wäre.
China würde bei einem Angriff gewinnen, aber Taiwan kann sich – noch – auf seine Garantiemächte verlassen. Es könnte mit seinen modernen Waffen „Festland China“ schwere Schäden zufügen – besonders in der Rüstungsindustrie. Sollte China die internen essentiellen Schwierigkeiten bekommen, die ich oben beschrieben habe – zusätzlich zu der Überalterung seiner Bevölkerung – wird sich jede chinesische Regierung davor hüten, unter diesen Umständen Taiwan anzugreifen.
Außerdem sind die Uiguren und die Tibeter unruhige Ethnien, die in einem Krieg eher auf die Seite Taiwans setzen würden. Im Pazifik werden sich neue Machtzentren – wie z.B. Indonesien oder Australien – bilden, die die politische Weltkarte verändern können. Diese möglichen Entwicklungen werden die Politik auch des nächsten Jahrzehnts beeinflussen.
Die USA haben die große Chance, durch kluge Diplomatie der Global Player im Pazifik zu werden. In seiner umfassenden Analyse der negativen Gründe der möglichen Entwicklung Chinas kommt „The Economist“ zu einem sehr negativen Titelbild mit seinem Fazit: „China’s Covid Failure“ („The Economist“ vom 03.12.22 – deutsch: „Chinas Versagen in der Covid-Bekämpfung“.
Wie kann China dieses düstere Fazit verändern?
Aus meiner Sicht sind die Chancen Chinas auf eine Korrektur seiner Lage sehr begrenzt. Autokratien und Diktaturen haben mit ihrer Bevölkerung keine größeren Probleme, solange der beschriebene Generationenvertrag beide Seiten zufrieden stellt. Das ist Ende des Jahres 2022 nicht mehr der Fall.
Viele aufstrebende Chinesen stehen mit ihren Familien vor der Zerstörung ihrer Träume – beruflich und privat. Sie können die Zinsen für ihre Häuser und angezahlten Luxusgüter nicht mehr bezahlen. Sie müssen ausziehen und in einer weniger angesehenen Umgebung neu anfangen. Ihre im Ausland studierenden Kinder müssen ihre Studien abbrechen und nach China zurückkehren. Wer ist in ihren Augen schuld? Die Regierung und die Kommunistische Partei. Sie fühlen sich von diesen verraten und betrogen. Die wenigsten werden diesen sozialen Absturz psychisch überwinden können. Für die superreichen Familien gleicht diese Zäsur einer „Vertreibung aus dem Paradies“.
China hat – im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten mit ihren starken Verbündeten – im Pazifik keine Staaten, die helfen können. Der Staat pflegt einen ruppigen Umgang mit seinen Nachbarn, die es als Kreditgeber missbraucht hat. Als diese die Kreditzinsen nicht mehr bezahlen konnten, übernahm China die Bauruinen zu einem Spottpreis.
Russland stellt keine Stütze mehr dar
Von Russland kann China keine Unterstützung erwarten, da Russland enttäuscht wurde, weil China sich gegenüber seinem Juniorpartner (Russland) bei dessen Angriff gegen die Ukraine zurückhaltend gezeigt hat. Außerdem wird Russland Milliarden Rubel in sein eigenes Land und seine Bevölkerung stecken müssen. Hinzukommen hohe Reparationsforderungen der Ukraine an Russland.
Die russische Luftwaffe hat wichtige Energieversorger und Wohnhochhäuser in der Ukraine wiederholt angegriffen und zerstört – von zivilen Opfern ganz schweigen. Diese völkerrechtswidrigen Angriffe hat Putin zu verantworten. Auf ihn warten Ermittlungen und Anklagen durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Niederlande.
Es ist eine brisante Frage, ob und wann es Veränderungen in der politischen Führung Chinas geben wird. Für einen Beobachter aus der Ferne ist es schwer, der chinesischen Führung in die Karten zu schauen. Sitzt Xi Jinping noch fest im Sattel? Gibt es mögliche Kandidaten für seine Nachfolge? Bei den Demonstrationen wurde bereits vereinzelt der Rücktritt von Xi Jinping gefordert.
Die Aufgaben, die auf China global und national zukommen, verlangen eine klare, bestimmte Führung. Diese muss das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen, sonst kommt China längere Zeit nicht aus seiner schwierigen Lage heraus. Andere Staaten im Pazifik werden versuchen, die bisherige Machtfülle Chinas zu reduzieren. Die Vereinigten Staaten müssen versuchen, ihre Machtposition im Pazifik zu stärken.
Nur Klugheit und Fairness können China retten
Die Vereinigten Staaten scheinen im Pazifik gut aufgestellt zu sein, um das geschwächte China im Pazifik zurückzudrängen.
- Sie führen seit Jahren gemeinsame Militärübungen durch – u.a. mit Vietnam.
- Sie führen den Militärpakt ANZUS – Australien, Neuseeland und USA.
- Mit Japan haben sie ein enges Verhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus sind sie eng beisammen sind im „Quad- Gipfel“ mit Indien, Japan und Australien.
- Indien haben sie geholfen, zur Nuklearmacht zu werden, was angesichts der weiteren asiatischen Nuklearmächte – China und Pakistan – wichtig ist.
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*) Brig. General a.D. Dieter Farwick wurde am 17. Juni 1940 in Schopfheim, Baden-Württemberg, geboren. Nach dem Abitur wurde er im Jahre 1961 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr eingezogen und anschließend Berufssoldat. Einen Höhepunkt seiner Karriere bildete die Tätigkeit im Planungsstab von Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, wo er vier Jahre an der Schnittstelle Politik-Militär tätig war. In den 90er Jahren fand er über vier Jahre als Operationschef im damaligen NATO-Hauptquartier Europa-Mitte Verwendung und war maßgeblich an der Weiterentwicklung des NATO-Programmes ´Partnership for Peace` beteiligt. Schon während seiner Dienstzeit verfasste Farwick mehrere Bücher und andere Publikationen zu Fragen der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte. Im „Ruhestand“ engagierte er sich viele Jahre als Chefredakteur eines Newsservice für sicherheitsrelevante Themen und organisiert heute noch Tagungen zu diesem Thema an renommierten Instituten.