Judith Leister*
Der amerikanische Osteuropa-Historiker Timothy Snyder gibt auf Youtube bitter nötigen Nachhilfeunterricht. Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte im Westen das Narrativ, dass im europäischen Osten Russland die einzig nennenswerte Macht sei. Die Ukraine mit ihrer langen Geschichte fand kaum Beachtung. Nun setzt Timothy Snyder zu einer fulminanten Rehabilitation an.
Als die Ukraine am 24. Februar angegriffen wurde, glaubten nicht nur die russischen Aggressoren, sondern auch die USA und viele Verbündete, dass das Land innerhalb weniger Tage besiegt sein würde. Gegen die weit verbreitete Vorstellung einer marginalisierten oder in ihrer Identität schwachen Ukraine setzt der US-Historiker Timothy Snyder folgende These: «Die Ukraine muss am 23. Februar 2022 als Gesellschaft und Gemeinwesen existiert haben, sonst hätten die Ukrainer der russischen Invasion am nächsten Tag nicht kollektiv Widerstand geleistet.»
In 23 Youtube-Vorlesungen unter dem Titel «The Making of modern Ukraine» entfaltet der Osteuropa-Experte vor Studenten in Yale die größere Linie der Geschichte der Region von der Antike bis heute. Durch den «Ausbruch aus dem nationalen Paradigma» will Snyder die globalen Zusammenhänge von Kolonialismus, Migration oder Massengewalt sichtbar machen. Es geht quasi um eine «Weltgeschichte» der Ukraine.
Koloniales «Herz der Finsternis»
Schritt für Schritt gelingt es Snyder auch, das russische imperiale Narrativ, auf das sich Putin stützt, einzuordnen und zu demaskieren. Putins Reich, so Snyder, orientiere sich allein an der Vergangenheit. In diesem Horizont ist die Geschichte bereits vollendet und der Krieg ein legitimes Mittel, die geschichtliche «Wahrheit» wiederherzustellen. Anders als von Putin nahegelegt, sei die Ukraine ein Produkt der Begegnung von nicht nur christlichen, sondern auch muslimischen und jüdischen Einflüssen.
Der berühmte Fürst Wladimir (russisch) oder Wolodymyr (ukrainisch) etwa, der die Kiewer Rus ab dem Jahr 988 christianisiert hat, sei aller Wahrscheinlichkeit nach ein Wikinger namens Waldemar gewesen. Die von Russland annektierte Krim, so Snyder, war niemals Teil der Kiewer Rus. Vielmehr herrschte dort ab dem 15. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts das muslimische Krim-Khanat.
Timothy Snyder identifiziert die Ukraine als koloniales «Herz der Finsternis» von Europa. In seinem berühmten gleichnamigen Roman habe der Pole Joseph Conrad seine Erfahrungen aus der Ukraine verarbeitet. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg stand die Ukraine als Kornkammer im Zentrum deutschen Großmachtstrebens. Auch Stalin sprach angesichts der Größe der Sowjetunion von einer notwendigen internen Kolonisierung, der Ausbeutung der Peripherie.
Die Ukraine war vom Holodomor betroffen, einer der größten künstlich erzeugten Hungersnöte der Moderne in den Jahren 1932/33, die den Widerstand der ukrainischen Bauern gegen die Kollektivierung brechen sollte, ebenso wie sie im Mittelpunkt des Holocaust stand. Die deutsche Ausrottungspolitik hätte gar die Vertreibung und den Hungertod von Dutzenden Millionen Ukrainern in Kauf genommen, um Zugang zur berühmten schwarzen Erde zu haben sowie «Lebensraum» zu gewinnen. Wie Putin war im Übrigen auch Hitler fälschlich davon ausgegangen, dass die Ukraine schnell überrannt werden könnte.
Am 26. November 2022 zünden Personen in Kiew beim Denkmal für die Opfer des Holodomor Kerzen an in Erinnerung an die Hungersnot von 1932–33. Bis heute sind die Verbrechen Stalins vor 90 Jahren in der Ukraine einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt. Um die Sowjetherrschaft durchzusetzen und den Widerstand der Bauern zu brechen, ging der Kreml über Leichen.
Die Sowjetunion beherrschte es meisterlich, ihre Herrschaft durch den Bezug auf nostalgische Jubiläen zu stützen. Chruschtschow argumentierte mit der angeblichen Zusammengehörigkeit von Russland und der Ukraine unter Bezug auf den Vertrag von Perejaslaw 1654, den er 300 Jahre später in der Sowjetunion feiern ließ. Unter diesem Vertrag versteht man den historischen Treueeid, den die Saporoger Kosaken auf der Kosakenrada auf den russischen Zaren Alexei I. ablegten.
1954 war auch das Jahr, in dem Chruschtschow der Ukrainischen Sowjetrepublik die Krim «schenkte». Snyder bringt die Logik dieser Schenkung auf den Punkt: «Wenn Russland die Krim verschenken kann, dann doch nur, weil die Krim Russland gehört, oder?» Der Schenkung war 1944 eine ethnische Säuberung vorausgegangen, bei der man alle Krimtataren komplett nach Zentralasien deportiert hatte.
Abwertung Kiews
Bereits unter den Zaren gab es die Ukraine nur als Teil Russlands. Der russische Staatsmann Piotr Walujew leugnete 1863 sogar die Existenz einer ukrainischen Sprache an sich. Snyder erklärt sich die russische Strategie so: Russland hatte sich Kiew mit seiner Renaissance und seinem Barock einverleibt, eine entwickelte europäische Stadt. In Kategorien der Macht war der Eroberer überlegen, in Kategorien des Geisteslebens und der Bildung jedoch deutlich unterlegen.
Eine Abwertung Kiews musste erfolgen, um dauerhaft die Oberhand zu behalten. Alle Leistungen und Verdienste der Ukraine und der Ukrainer wurden von Moskau absorbiert, ein Muster, das sich über Jahrhunderte nachverfolgen lässt. Selbst die russisch-orthodoxe Kirche bezog ihre Identität aus der Begegnung mit der Ukraine, indem sie sich zum einzig legitimen Nachfolger des Byzantinischen Reichs erklärte.
In der letzten Vorlesung richtet Timothy Snyder einen harschen Appell an Deutschland. Hier sei der eigene Kolonialismus bezüglich der Ukraine bis heute unterbelichtet geblieben. Das Land sei bis zum diesjährigen Kriegsausbruch politisch praktisch nicht zur Kenntnis genommen worden. Ganz in kolonialer Manier habe sich die größte Demokratie Europas mit Russland über die Ukraine hinweg verständigt. Bisher haben mehrere Millionen Zuschauer Timothy Snyders Vorlesungen im Internet verfolgt. Offenbar ist der Bedarf an Wissen und Aufklärung zur Ukraine hoch. Eine systematische Analyse ergab, dass die Zuschaueranteile in den USA, der Ukraine und Deutschland am größten sind. Russland hat es bei den Zuschauerzahlen immerhin unter die Top Ten gebracht.
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*Dieser Artikel erschien zuerst am 15.12.22 in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) unter der Überschrift “Die Ukraine in 23 Lektionen – der amerikanische Osteuropa-Historiker Timothy Snyder gibt auf Youtube bitter nötigen Nachhilfeunterricht“